Eines Tages, als die Kleineren schliefen, spielte die älteste, Emma, mit der gleichaltrigen Zolleinnehmerstochter Amalia Apperger in der Strageneggstube; man haschte sich, es ging herum wie der Wirbelwind. Amalia sprang auf einen Stuhl, von dem auf den Fenstertisch — Emma immer hinter ihr her. Die Verfolgte springt aufs offene Fenster — und hinaus, hinunter!
Furchtbarer Schreck! Emmchen, die nach wollte, konnte die Frau noch am Rockzipfel erwischen. Aber dem Kinde hatte der Sprung aus dem ersten Stocke nichts geschadet; gesund und unverletzt stand es wieder auf. Frau Stragenegg erzählte, Jahre hindurch sei sie in der Nacht vom Schlafe aufgeschreckt und sah Amalia hinausfliegen. —
Die alte Frau wusste um die „Franzosenzeiten“ schon vom Jahre 1805 an, denn „sie ging mit der Iahrzahl“ (1800 geboren). Erzählte, wie die durchziehenden Franzosen, die im Elternhause einquartiert waren, einmal die Speisenfolge für sich und die Kameraden bei ihnen auf folgende Weise bestimmten: Suppe, Milchmutz, Knöpfle und genuck! Mag wohl ein Elsässer gewesen sein.) Wie sie einmal vom heißen Marsch ganz vertrocknet und verdurstend ankamen und sich in der Stube auf die Milch stürzten, die am Fenster, brett aufgestellt war. Frau Kleinist wehrte heftig ab; sie hätte ihnen selbe ja gerne vergönnt, aber es war die erste gelbe Milch von der Kälberkuh, Bienst genannt, roh ungeeignet zum Genuss, ungesund, Magenbeschwerden verursachend. So suchte sie aus ihrem italienischen und ladinischen Sprachschätze die Worte heraus, No, no, grande pancia, malada, und sie wurde verstanden, sie ließen ab, sonst hätten sie vielleicht an eine absichtliche Vergiftung geglaubt, und was für Folgen hätte das nicht gehabt?
Die Soldaten seien abends in Schlafsäcke gekrochen, ehe sie sich auf ihr Lager begaben. Die regulären Truppen waren insoweit anständig, erzählte sie, nur kam hie und da ein Nachtrab von wüsten, betrunkenen Gesellen, ein Schrecken für das Dorf; sie drangen in die Häuser, in die Keller, soffen den Wein aus und ließen ihn ausrinnen.
Einmal musste ihnen Frau Kleinist Küchel backen, ein Soldat stand dabei und gab unausgesetzt noch Schmalz in die Pfanne, wo die Küchel schwammen; Widerspruch war vergebens, so nahm die Frau ruhig immer wieder auf der anderen Seite die Schmalzbrocken heraus. Sonst wäre das heiße Schmalz übergelaufen und alles in Brand geraten. — Eines Tages marschierten Truppen vorbei mit einem jungen Offizier an der Spitze; nun sollte für den eine Chaise beigestellt werden; keines der Fuhrwerke, die zu haben waren, passten ihm; da riss dem Marschkommissär Johann Georg Prey die Geduld; der Mann, ein Herkules an Statur und Kraft, packte das Herrchen, hob den Zappelnden in den Wagen, der Kutscher hieb auf das Pferd ein — Gottlob er war fort! Aber schon nach einer Stunde kam er mit der ganzen Truppe zurück. Und wäre der Prey nicht ins Futterhaus enttommen, wo er sich ganz oben am Gebälk anklammerte und in diesem Versteck aushielt, bis sie endlich wieder abzogen, wäre es ihm wahrscheinlich schlecht ergangen; die Wut des kleinen Leutnants war grenzenlos.
Niederdorf hatte eine für jene Zeit ungeheure Summe als „Brandschatzung“ aufzubringen. Franz Hellenstainer war in der Lage, selbe auszuzahlen. Jedoch der Eggerberg mit seinen schönen Gehöften musste ihnen freigegeben werden. Ganz rot schwärmte es über den Berg hinauf, erzählte als Augenzeugin Frau Stragenegg. Sie wusste auch die Leidensgeschichte vom Tagger Hansl, von dem sie uns ein Gedicht aufsagte, verfasst von Pfarrer Obermüller (gest. 1818) unter dem Eindrücke dieser schmerzvollen Begebenheit, und der den Verurteilten auf den Tod vorbereitet hatte.
Menschenleben hatten in jenen Tagen keinen Wert. Obenerwähntem Pfarrer wurde die goldene Taschenuhr gestohlen. Der ertappte Dieb, ein französischer Soldat, wurde auf Befehl des Generals Broussier sofort erschossen, obwohl der Pfarrer kniefällig um Pardon bettelte. Nach 1810 wurden die Bayern Herren eines Teiles des Landes. Mit verhaltenem Ingrimm mussten sich die Tiroler fügen. Die neue Regierung nahm einschneidende Änderungen vor. Zum Beispiel, Kirchen, die der neuen Behörde überflüssig erschienen, wurden kurzerhand geschlossen. — Eines Tages kam ein Trupp bayrischer Soldaten nach Moos, das ist ein schönes Bauerngehöft nebst einer Kirche unweit des Dorfes; sie hatten die Weisung, vom Turm die Glocken abzunehmen. Der Moserbauer Bachmann erwartete sie am Gittertor mit der „Kliebhacke“, und — sie kehrten um. Mehr erklärte Frau Stragenegg nie bei Wiedergabe dieser Episode; man konnte sich seinen Teil denken. — Dann musste sie den Kindern zum soundsovielten Male erzählen vom Kontrollorbübele, das auf dem Felde verbrannte.
Das ging so zu: An einem schulfreien Tage vergnügten sich die Jungen unterhalb der Ortschaft mit Spielen; endlich dessen überdrüssig, fiel ihnen ein: Kartoffel braten! So schickte man den einen um Erdäpfel, jenen um Salz, das Kontrollorbübele sollte in einer Blechdose Feuer bringen, glühende Kohlen. Er kam zurück, die Kohlen im Röcklein, er brannte lichterloh. Die Kinder stoben auseinander, ein Bauer sprang herzu, legte den Kleinen in eine Ackerfurche und gab schnell Erde darüber, um das Feuer zu ersticken.
Das kleine Männchen bettelte: „Nicht eingraben, ich bin noch nicht gestorben!“ Die Brandwunden waren aber schon derart, dass er am nächsten Tage unter großen Schmerzen sein Leben beendete; der Jammer zuhause war grenzenlos, obwohl noch ein halbes Dutzend Kinder und nicht viel zum Beißen da war. — Noch etwas Interessantes wusste sie von ihrer Vorgängerin, der früheren Bewohnerin des Quartiers, das aus der schönen Stube mit dem winzigen Schlafzimmerchen und dem stockfinstern Küchele, wo immer, um kochen zu können, die Lampe brennen musste. Also, da wohnte früher eine „ausgejagte“ Klosterfrau, vermutlich aus einem beschaulichen Orden, welche Kaiser Josef der Zweite aufzuheben pflegte, die Nonnen aber nicht dem Elend preisgab, sondern ihnen eine Jahresrente aussetzte. Die hier in Rede Stehende konnte standesgemäß leben, täglich auf ihr Seidel Wein ins Wirtshaus gehen. Da sich damals die Niederdorfer Bürger nur Sonntags diesen Luxus erlauben konnten, so waren die Ex-Nonne gewöhnlich im Herrenstüberl mit dem alten, gelehrten Chirurgen Kugler die einzigen Gäste.
Morgens humpelte sie mühsam auf dem Stock gestützt zur heiligen Messe, abends ins Wirtshaus ging sie flott, ohne Stock. So war des Erzählens kein Ende und die Kinder hingen leuchtenden Auges an den Lippen der alten Näherin.
Zwischen solchen wahren Begebenheiten kamen dann die Märchen: Reinhold, das Wunderkind, die Pate Nixe mit dem Bisamapfel, der sprechende Vogel, der singende Baum, das goldgelbe Wasser. Die vor längerer Zeit erzählten Geschichten kamen wohl gelegentlich wieder an die Reihe, aber wehe ihr, wenn sie da eine andere Redewendung gebraucht hätte als das erste Mal.
Es war kein geringes Opfer an Zeit, das die Gute mit dem fortwährenden Geschichtenerzählen brachte, hatte sie doch so viel zum Nähen und musste auch um die Aufträge froh sein. — Wie es auch heute noch den Schneiderinnen geht, war es schon damals: Niemand wollte warten.
Einmal — nur einmal nahm sie (sonst ein Muster geraden Sinnes) zu einer kleinen List die Zuflucht. Der Zelger Moidl ist ihr „Tschoappe“ auf Sonntag versprochen — selbe kommt auf das Haus zu und das fragliche Kleidungsstück ist noch nicht einmal zugeschnitten. Schnell bindet sich die Strageneggin den Kopf ein, als die Moidl schon zur Tür hereintritt: „Ja, was war’ denn das? Die Frau Stragenegger unpässlich? Kein Wunder! Sie arbeitet sich noch zu Tod. Ich für meinen Teil will gerne noch bis nächste Woche warten!“ — Die Situation war gerettet!