Was Frau Emma vom Jahre 1848 erzählte.
An der Tafelrunde beim Schwarzadler war eine richtige Table d’hote. Obenan Josef Hellenstainer, neben seiner Frau, das älteste Töchterchen (ebenfalls eine Emma), Spediteur Josef Mayr, die k. k. Förster Götz und Ritsch, Schulmeister Kramer, Finanzwachoberaufseher Hildeprand, Forsteleve Rudolf Arming; teils Junggesellen, teils Witwer ohne eigene Wirtschaft.
Man hat heute keinen Begriff, wie einfach, still und urgemütlich damals das Leben im Pustertale dahinschlich. Dreimal in der Woche brachte die Postkutsche Neues und Gesprächsstoff von draußen. Sonst bewegte sich die Unterhaltung um die Witterungsverhältnisse, Geburts- und Sterbefälle in bekannten Familien, Jägergeschichten, große Schneefälle usw.
Abends vergrößerte sich der Gäste Kreis. Da kam Alois Vidal, Besitzer der Feigenkaffee-Fabrik Vidal und Co. — von ihm 1836 gegründet —, der Gemeindevorsteher Joses Jäger vulgo Tagger, Grundbesitzer und Kaufmann, und dessen Sohn. Der alte Jäger kehrte im Gespräch stets den Bauern heraus; es hieß bei ihm immer; „wir Bauern“, er kleidete sich in Nationaltracht, wobei er jedoch einen gewissen Luxus und äußerste Sauberkeit entwickelte. Dann kamen abends zum Wein auch Beamte vom Zollamt, der Gemeindearzt Dr. Kunater; selten fehlte Alois Roma, einer der sechs Brüder von der Firma Giovanni Fratelli Roma, die in Perarolo große Brettersägen und ausgedehnten Holzhandel besaßen. Alois Roma, ein rundwangiger, blauäugiger Mann von kurzer Statur, der das Deutsche fließend sprach, ein passionierter Scheibenschütze, und in der Lage, alle Freischießen im Lande zu besuchen; er war, weil bescheiden und gefällig, bei jung und all beliebt; hatte auch wie die anderen jungen Burschen die brennrote Nelke am Hut, von seinem Schatz, einer Niederdorferin stets pünktlich damit versorgt. Dann fehlte nicht an der abendlichen Tafelrunde der Dorfbarbier Johann Mair, der „Balwierer-Mair“, Flötenspieler am Chore, ein feuriger Patriot, Liebhaber eines guten Tropfens.
Er musste sich häufig an die Gutmütigkeit seiner Zechgenossen halten, obwohl er täglich und stündlich verdiente. Aber seine wirtschaftliche Frau forderte ihm den Gewinn ab für den Haushalt und die sechs Kinder. Es gelang ihm nicht leicht, etwas Taschengeld auf die Seite zu bringen; Nanni wusste ungefähr um seinen Erlös und suchte, während er schlief, die Taschen ab; — und das Versteckte wurde immer gefunden. Bis ihm eine gute Idee kam. — So ein Geraniumstock am Fenster ließ sich samt den Wurzeln aus dem Topfe herausheben, am Boden desselben wurde der Schatz deponiert und die Pflanze wieder hineingesenkt; das ging lange, — aber endlich, weil dieses Geranium nie zum Blühen kommen wollte, fand Nanni den Schlich heraus.
In dieser Mairfamilie war es für den jeweiligen Senior erbliche Würde, am Karsamstag die Osterkerze, als Pate derselben, mit weißen Glacehandschuhen am Taufstein zu halten, während der Pfarrer die herrlichen Gesänge anstimmte.
Eine Bemerkung: Der echte Tirolerwein ist des Menschen Freund und kein Verräter, wie Bier und Schnaps. Obwohl der gute Mair manchmal im Genuss keinen Boden hatte, wurde ihm der Rote nicht zum Verderben; er erreichte trotz manchen Exzesses ein vorgerücktes und gesundes Alter.
Fremde Gäste gab es wohl selten damals im Schwarzadler. Handlungsreisende waren noch nicht gang und gäbe. Eine einzige Kaufmannsfirma in Hall sandte einen solchen aus. Die Herren der großen Holzhandelsgesellschaft aus Venedig, Lazzari und Malcolm, welche häufig im Pustertal zu tun hatten, logierten im Gasthof zur Post. Eines Abends stürzte der sonst so gemessene alte Tagger ins Herrenzimmer beim Schwarzadler mit der Nachricht:
Drunten, unter Ampezzo geht’s los; — hier ist eine Aufforderung vom Landgericht, es müssen zur Grenzbewachung von Schluderbach und Kreuzjoch Scharfschützen-Kompagnien gebildet werden! Am 7. April seien schon anderswo verschiedene Kompagnien an bedrohte Grenzen geeilt. Feldmarschalleutnant Baron von Melden sagte in seiner Proklamation unter anderm: „Es kann in Tirol eine größere Truppenmasse gegenwärtig nicht aufgestellt werden“. Zu deutsch: Tiroler, helft Euch selbst! Der vorlesende Tagger fügte hinzu! „Ich selber kann nicht mehr mit! Muss wohl auch da sein, für Euren Proviant zu sorgen! aber meinen Buab’n, meinige Leut’ kriagt’s mit“. „Und ich“, sagte Vidal, „kann auch nicht gehen, schicke aber zwei Leute von der Fabrik.“ „Und ich aber geh’ selber!“ So Josef Mayr, nachmaliger Schwiegersohn der Frau Emma. „Auch ich!“ erklärte lächelnd der allzeit gelassene k. k. Förster Franz Ritsch. Fast drohend sprang jetzt der alle Schulmeister Michael Kramer in seiner ganzen hageren Länge von sechs Schuh auf und schlug auf den Tisch: „Meint Ihr vielleicht, ich bleibe daheim? Bin anno neun dem Speckbacher sein Leibtrompeter gewesen; — ich muss mit!“
Am folgenden Vormittag wurde die Einschreibung in die Kompagnielisten vorgenommen, die meisten waffenfähigen Männer wollten dabei sein, auch ein Gregor, Leopold Hellenstainer. Bezeichnend für den Geist jener Zeit kam alles spontan, ohne Zwang. Nicht nur in Niederdorf, überall in Ost und West, von Brixen bis Lienz, selbst in den entlegensten Tälern entwickelte sich die Zurüstung zum Kampf. Eile tat not! Zu lange war den treuen Tirolern die kritische Lage verschwiegen worden; — die Pustertaler hatte man unter den Letzten avisiert (befanden sich doch, als die Wiener Studenten kamen, bereits 60 Kompagnien teils an den Grenzen, teils in Bewegung dorthin.) Am 23. April gings in Welsberg an die Wahl der Offiziere und Chargen, die sich nicht schwierig gestaltete.
Landrichter von Putz hielt eine Anrede an die „Mander und Buab’n“, die vom Herzen kam, und — vorgetragen in unverfälschtem Pustertaler Dialekt — auch zu Herzen ging. Der würdige Wahlreferent äußerte sich: Zum Hauptmann müsst Ihr einen allgemein als Ehrenmann bekannten, und Euer ganzes Vertrauen besitzenden Bürger wählen. Ich wüsste Euch keinen bessern vorzuschlagen, als den Gastwirt Johann Schmied, Prünster. Die Hüte flogen in die Höhe, minutenlanges Hoch! Hoch! unserm Hauptmann, dem Prünster Hans.
Als der Landrichter sich wieder Gehör verschaffen konnte, fuhr er fort: „Der Prünster war nie beim Militär, also müsst Ihr ihm einen Oberleutnant zur Seite geben, der gedient hat, um ihn im Kommandieren zu unterstützen; da schlag’ ich vor den gewesenen Feldwebel Hermann Steinhardt, Steuerkontrollor! Diesmal war das Hochrufen erheblich kürzer und kühler, nicht wegen fraglicher Würdigkeit des Gewählten, nur der unangenehme Beigeschmack des kleinen Vorwortes zum „Kontrollor“ setzte der Begeisterung einen Dämpfer auf. Trotzdem nahm die Wahl in ungestörter Harmonie ihren Verlauf. Zu Unterleutnants wählte man den Stamenter Müller Franz Schwingshackl, eine Prachtgestalt, einen von der alten Garde, lieben Menschen und der berühmtesten Scheibenschützen einer; — ferner den Gratschwirt Franz Fink, gewesenen Oberjäger der Tiroler Kaiserjäger. Klugerweise wählte man meistens zu Chargen ausgediente Oberjäger vom vaterländischen Regiment: selbe besaßen eine gewisse Autorität, so wie man es gerne sah, dass sich die k. k. Förster in den Dienst der Sache stellten, die ja jeden Stock und Stein im Gebirge kannten; es fanden sich dazu bereit:
Herr von Schmuck aus Welsberg, Franz Ritsch, Förster in Niederdorf, Götz aus Sillian, Hlavaty vom Kreuzberg, Herr von Peyer aus Innichen, waren durchaus akademisch gebildete Männer und vorzügliche Sänger.
Aber halt! Wo blieb der Fahneneid? Den brauchte es nicht! In froher Stimmung kehrte man nach Niederdorf zurück. Nur ein Unzufriedener war darunter; der alte Schulmeister Michael Kramer. Man trug Bedenken, den bejahrten Mann, geboren 1776, bei noch immer rauher Jahreszeit den Strapazen des Lagerlebens in den Eisregionen der Dolomiten auszusetzen. Er wollte sich nicht zufrieden geben und brummte in den Bart hinein, den er ja gar nicht besaß. — Ein Schullehrer hatte glatt rasiert zu sein wie ein Geistlicher, wollte er seiner Würde nichts vergeben, außerdem kennzeichnete ein schwarzseidenes Halstuch, welches nur einen kleinen Rand vom Hemdkragen sehen ließ, und ein langer, dunkler Rock den Mann der Wissenschaft.
Der zum Feldkaplan ernannte Geistliche, Herr Peter Passenbacher (vorzüglicher Scheibenschütze), tröstete den mißmutigen Trompeter, dass ja auch er der Feldpater nicht beständig bei der Mannschaft bleiben könne, jedoch beim Ausmarsch würden sie beide mittun.