Wir sind nun mittlerweilen ins Wippthal gelangt. Diesen Namen trägt ein Landstrich, der sich von Innsbruck an der Sill aufwärts bis zum Brenner und von da am Eisack abwärts bis zur Brixener Klause erstreckt. Was sich nördlich vom Brenner gegen Deutschland senkt, heißt das untere, was sich südlich gegen Italien zieht, das obere Wippthal. Der Name kommt von dem alten Vipitenum, das ungefähr auf der Stelle des heutigen Sterzings lag. Im neunten Jahrhundert kommt ein Quartinus, nationis Noricorum et Pregnariorum vor, der in valle Wibitina lebte. Seit dieser Zeit ist der Name nicht mehr verschollen. Er hat, wie der des Pusterthales das Eigene, daß er über die Wasserscheide hinübergeht und zwei Flußgebiete in sich begreift, nämlich das der Sill und den obern Lauf des Eisacks, während sonst im Allgemeinen die Thalnamen nicht weiter reichen, als ihr Bach. Das Wippthal zwischen Schönberg und Matrei ist nicht sehr dicht bevölkert. Zur Linken jenseits des tiefen Schlundes, in dem die Sill sich fortwälzt, steigen schöne Halden auf. Mitten durch diese zieht für den Nichtkenner kaum bemerkbar die Ellenbögenstraße, ein wohlunterhaltener, und von den Salzfuhren fleißig benützter Verbindungsweg zwischen Matrei und Hall. Diese Straße hat ihren Namen davon, daß sie wie die neue Schönbergstraße an der steilen Absenkung des Gebirges hinzieht, so wie jene, alle vorspringenden Erker und alle eingehenden Tobel, mit Einem Worte die Ellenbögen abläuft. Die jenseitige Halde ist reich geschmückt mit Kornfeldern, Wiesen, Baumreihen, Schluchten, Häusergruppen, zu oberst mit Wald, zu unterst mit der Sill. In der Ferne über den Matreier Wald hin sieht man das Schloß von Matrei aufragen.
Matrei ist die alte Römerstation Matreium, jetzt eine lange Gasse voll Wirthshäuser, alles von ziemlich neuem und reinlichem Ansehen, da der Markt seit Jahrhunderten immer und immer durch Feuersbrünste gelitten hat. Die Stelle des alten Matreium glaubt man jenseits der Sill zu finden, [499] wo jetzt der Häuserhaufen steht, der den Namen Altstadt führt. Man thut nicht Unrecht, auch das Matreier Schloß zu besehen, das auf einem von der Sill umströmten Serpentin- Felsen erbaut ist. Diese Burg besteht aus einer Reihe niederer Gebäude, die sich an einen starken, angeblich römischen Thurm lehnen. In einer Vorstube ist ein älteres Gemälde zu sehen, die Bauernlangweil genannt. Es soll das ausgelassene Leben schildern, wie es die tirolischen Bauern nach dem dreißigjährigen Kriege geführt, und stellt auch in der That Fraß, Völlerei und Unzucht in Menge dar. Im Prunksaale sind ein paar Bildnisse aus der Familie der frühern Schloßherren. In der Burg saßen ehemals die frühverschollenen Herren von Matrei. Von diesen ging sie auf das glänzende Geschlecht der Trautsone über, die vor Zeiten den Thurm in der Pfitsch bei Sterzing inne gehabt. Die Trautsone verwalteten das Erbmarschallamt von Tirol, das auf der Burg zu Sprechenstein bei Sterzing ruht. Im Jahre 1711 wurden sie Reichsfürsten, im Jahre 1775 sind sie ausgestorben. Ihre Erben sind die Fürsten von Auersperg, jetzt die Erblandmarschälle von Tirol.
Zu Steinach an der Brennerstraße, eine Stunde oberhalb Matrei, ist Martin Knoller geboren, welchen Tirol seinen größten Maler nennt. Eine Gedächtnißtafel ziert die Thüre des Hauses wo er das Licht der Welt erblickt. „Es war der achte Tag des Novembers, sagt Herr Heinrich von Glausen, der im sechsten Bande der Zeitschrift für Tirol und Vorarlberg dem Künstler einige Seiten gewidmet hat, es war der achte Tag des Novembers 1725, der dem Dorfe Steinach durch Martin Knollers Geburt eine eigene Berühmtheit verschaffte.“ Sein Vater war ein armer Dorfmaler, der den Sohn allerdings für seine Handthierung erzog, aber auch viel anderes Häusliches, Gemeines von ihm forderte. Martin, der seinen Genius gefesselt fühlte, ging daher eines Tages aus dem Walde, wo er Brennholz holen sollte, nicht mehr zurück, sondern lief nach Innsbruck, und warf sich dort dem Hofkammerrath von Hormayr zu Füßen, mit der Bitte, ihn die Malerei lernen zu lassen. Sofort lernte er zwei Jahre [500] bei einem Innsbrucker Maler, und kam dann wieder nach Steinach ungefähr in dieselbe peinliche Lage, die er vor zwei Jahren verlassen hatte. Als er nun eines Tages in einem der Dorfwirthshäuser Scheiter zur Küche trug und in einem freien Augenblick mit der Kohle einen Holzträger auf die Mauer zeichnete, stieg ein reisender Herr an der Schenke ab, ging in die Hausflur und fing an den zeichnenden Jüngling zu beobachten. Die Arbeit scheint ihm höchlich zu gefallen und ehe der Andere noch fertig, erklärt er, Paul Troger zu seyn, der berühmte Maler von Wien. Zugleich legt er die Absicht an den Tag, den jungen Martin mit in die Hauptstadt zu nehmen, um ihn dort in seiner Kunst zu unterrichten. Der Vater will dem Glücke des Sohnes nicht im Wege stehen, schlägt ein und Knoller fährt mit Paul Troger davon. Der junge Mann blieb bis in sein achtundzwanzigstes Jahr zu Wien, ging dann nach Rom, nach Neapel, nach Mailand, wurde befreundet mit Winckelmann und Raphael Mengs, malte in Fresco und in Oel, vieles für Italien, noch mehr für Deutschland und starb hochbejahrt 1804 unter der italienischen Republik zu Mailand. In deutschen Landen sind es besonders drei Kirchen, deren Decken er mit seiner Kunst geziert, die des ehemaligen Benedictiner-Klosters zu Ettal im bayerischen Gebirge, die des Reichsstiftes zu Neresheim und die des Chorherrenstiftes zu Gries bei Bozen. Er galt sehr viel zu seiner Zeit, war gut angesehen an den Höfen zu München und Wien, und an letzterm durfte er sogar den Kaiser Leopold malen. Heiter und liebenswürdig, fromm und bescheiden, gutherzig und wohlthätig, immer fleißig und regsam, war er ein schönes Muster tirolischen Naturells. Die Kirche zu Steinach, wo er auch durch einen Denkstein geehrt worden ist, besitzt drei Altarblätter von ihm, den heiligen Erasmus, den Kirchenpatron, die Enthauptung Johannis und St. Sebastian, welchem fromme Frauen die Pfeile aus dem Leibe ziehen. Alle drei verrathen milde, weiche Zeichnung, schwache, harmonische Färbung.
Auf dem Rosenwirthshause zu Steinach, gegenüber der Post, ist ein Zug Landsknechte mit Fahne, Trommel und [501] Pfeife, sieben Mann stark angemalt, lauter schnurrige, seltsam aufgeputzte Gesellen. Dieses Gemälde soll zum Gedächtniß seyn, daß im Jahre 1631 ein Fähnlein Steinacher in die Schweiz gezogen, um dort Krieg zu führen. Von dem ganzen Haufen seyen nur diese sieben zurückgekommen und diese erst nach sieben Jahren. Das hinten dreingehende Weibsbild hat der Mann zunächst vor ihr als sein ehelich Gemahl aus feindlichen Landen mitgebracht, betrogen durch falsche Botschaft, daß seine Frau zu Steinach gestorben. In dem Helden, der die Fahne trägt, will man den damaligen Rosenwirth erkennen. Dasselbe Haus hat im Jahre 1705 auch den Kurfürsten von Bayern beherbergt, als er den erfolglosen Zug an den Brenner unternommen. Deßwegen heißt es auch noch heutzutage beim Bayerwirth.
Dicht bei Steinach geht das Gschnitzthal ein, in dem die Veste Schneeberg steht. Es enthält zwei Gemeinden, Trins und Gschnitz, beide arm. Ich spreche deßwegen von dem Thälchen, weil ich wünschte, daß etwa ein Nachkommender eine Merkwürdigkeit erhöbe, deren ich mich, weil zu spät benachrichtet, nicht bemächtigen konnte. In Gschnitz nämlich, im hintern Dorfe, lebt nach verlässiger Kunde ein alter Jäger, alt aber rüstig, der wie die gesprächigen Greise von ehemals, wie die betagten Kinderfrauen, die jetzt am Aussterben sind, noch an Sagen und Mähren seine Freude hat, und seine Wissenschaft, wenn freundlich angegangen, gerne mittheilt. Er soll unendlich vieles zu erzählen haben von den Geheimnissen der Bergwelt, von dem eigensten Wesen der Gletscher, von den Unthieren, die in ihren Tiefen wohnen und dort unermeßliche Schätze bewachen. Nach allem, was man von ihm hört, dürfte er als einer der letzten Eingeweihten den Liebhabern tirolischer Sagen von größtem Werthe seyn.
Eine Stunde ober Steinach strömt der Bach von Schmirn in die Sill. An seinen Ufern hin führt ein angenehmer Pfad in das Dörfchen St. Jodok oder St. Jos. Ein alter Bauer kam des Weges, begrüßte und tröstete mich wegen des Wetters, das mir etwas bange gemacht hatte. Der Alte stellte sich als [502] Steinklauber vor und bot mir bald auch seine gesammelten „Imeralien“ an, von denen ich aber leider keinen Gebrauch machen konnte. Doch schieden wir im besten Frieden, und zuletzt empfahl er mir auch noch dringend das obere Wirthshaus von wegen des bessern „Gesüffes.“
Von St. Jos an verliert sich der Weg gegen Dux, den wir einschlagen, bald in einen waldigen Tobel, den der Schmirnerbach immer stürzend und tosend durchjagt. Der Pfad ist schmal und oft eingebrochen, die Zusammenwirkung von wilden Wasserstürzen und abgerissenen Tobelwänden im dunkeln Föhrenschatten manchmal schauerlich. In das Düster herein scheint zuweilen von der Höhe herab durch den Wald ein weißes Bauernhaus. Endlich führt der Steig wieder ins Freie, in eine schöne, hellgrüne Fläche, in das Thal von Schmirn, durch welches der Bach ruhig, silberglänzend dahin fließt. Weit zerstreute, steinerne Höfe stehen jenseits des Wassers und diesseits an den waldigen Halden. Die Dächer glänzten im Morgenscheine und ein bläulicher Rauch schwebte um ihre Giebel. Schöne Bergeinsamkeit! Die Aelpler sind mit der Ernte auf den Feldern beschäftigt und beleben das morgenlichte Bild.
Die Kirche steht am Ende der Thalebene, der Widdum daneben. Der Herr Curat, den ich um den Weg befragte, gab mir freundlich Bescheid, und führte mich auch in die Kirche. Dort zeigte er mir den schön gefaßten heiligen Leib, den Stolz des Thales. Er soll einem gebornen Schmirner angehört haben, der Felix geheißen und ein Krieger gewesen. Es ist zu wünschen, daß diesem Felix nichts Aehnliches zustößt, wie dem San Felice in einem Dorf bei Roveredo, der es sich schon vor hundert Jahren gefallen lassen mußte, von dem gelehrten Abbate Tartarotti durch authentische Urkunden für einen einbalsamirten Grafen von Castelbarco erklärt zu werden.
Nachdem wir heiligen Leib und Kirche besehen, begleitete mich der Geistliche noch weiter ins Thälchen hinein zur kalten Herberge, einer Wallfahrt, die sich erst in den neuesten Zeiten aufgethan. Es ist ein reinliches Kirchlein, das eine halbe Stunde vom Dorfgotteshause oben im Walde leuchtet. [503] Die vornehmste Merkwürdigkeit ist ein auf schwarzem Sammet ausgelegtes Crucifix, welches Peter Miller, ein Missionär, auf seinen Fahrten in Amerika gebraucht und in manchen Gefahren als Talisman befunden hat. Namentlich, führt der beigeschriebene Zettel an, sey er einmal im Jahre 1783 von den Wilden eingefangen und sein Tod auf den nächsten Morgen festgesetzt worden. Da habe er nun am Abende noch seine Andacht bei dem Kreuze verrichtet, Gott sein Leben anheimgestellt und nur für den Fall, daß er noch ferners in Ausbreitung seines Wortes thätig seyn könnte, um Erhaltung desselben gebeten, worauf er eingeschlafen und am andern Morgen jenseits des Meeres fern von seinen Widersachern erwacht sey.
Unten am Wege in der Tiefe des Thales erscheint der kleine Tempel als das letzte Heiligthum, von dem ein Glöcklein tönt und zur Messe ladet; weiter drinnen ist nur mehr eine stille Capelle.
Im innersten Winkel des Thalgeländes stehen noch drei steinerne Weiler, von denen der letzte Kasern heißt, zum Andenken, daß hier ursprünglich nur Sennhütten standen. Jetzt waren die Häuser zumeist geschlossen und die Einwohner standen an den Abhängen herum bei der Ernte.
Hinter dem Dorfe springt ein Wasserfall vom Felsen in beträchtlichem Wurfe in die Luft hinaus – eine Erscheinung, die von vielen sehr hoch gehalten wird. Der Weg aufs Joch zieht an zwei Feldkreuzen vorüber, dem Bache entlang, anscheinend auf einen Schneeberg zu, der das Thal in großem rundem Buckel schließt. Bald darauf ändert er aber seine Richtung und kriecht in vielen Windungen einen steilen Abhang hinauf, zur Rechten eines baumlosen Tobels, wo ein Alpenwasser an langer Felswand herabglitscht. Er ist sehr betreten und kaum zu verfehlen. Seine Anmuth auf dieser Seite ist unbedeutend; man sah als Staffage nur etliche von jenen bienenkorbförmigen Heuschobern, die den Sommer über oft auf den gefährlichsten Klippen errichtet und im Winter nach Hause gebracht werden. Höher oben erspähte man an dem steilen Gebirge, das die andre Thalseite bildet, etliche Rinderheerden auf Weiden, [504] die zunächst an der Schneegränze liegen. Ein Wanderer, den ich jetzt erreicht hatte, gab sich als Metzger zu erkennen, und machte auf diese in seine Geschäftssphäre einschlagende Erscheinung besonders aufmerksam. Einer andern schriftlichen Quelle bin ich für die Nachricht verbunden, daß einst bei einer Jagd, die Kaiser Max in diesen Bergen hielt, hundert und dreiundachtzig Gemsen erlegt wurden – eine Beute, die jetzt kaum mehr zu gewinnen wäre, auch wenn wieder ein Kaiser käme. Mein Begleiter war übrigens gebürtig bei Sterzing, in dem Dorfe Gossensaß, dessen Name (urkundlich Gozzinsazze) sein Gefährte nicht unglücklich als Gothensitz erklärt und auf die Zeit zurückgeführt hat, als die Gothen Herren über Rhätien waren. Drum studirte dieser auch lange in den Zügen des andern, ob er nicht eine ethnographische Rune, irgend ein gothisches Wahrzeichen darin entdecken möchte, bis der Metzger, des Spionirens überdrüssig, lächelnd fragte: Haben Sie denn da nichts zu schauen als mein G’fris.
Oben fast am Joche fanden wir eine Galthütte mit dem Stalle für sechs Ochsen, etliche Ziegen und eine Kuh, die hier in der Höhe weiden. Neben an rieselt eine Quelle, die ein treffliches Wasser bietet. Nahe bei der Quelle ist am Felsen ein Denkstein angebracht, zur Erinnerung an die heitre Fußreise, welche den Erzherzog Johann im Jahre 1835 auf diese Höhe geführt. Damals stieg der geliebte Prinz herüber mit den gewappneten Heerhaufen der Gebirgsschützen aus der Nachbarschaft, die ihm fröhlich das Geleit gaben.
Der Ochsenhirt war nicht in der Hütte, doch fanden wir sein Trinkgeschirr, mit dem wir alsbald aus der Quelle schöpften, nach mühsamer Reinigung, denn der einfache Aelpler hatte es augenscheinlich die ganze Saison über noch nicht ausgespült. Die Galthütten fallen überhaupt sehr störend in die gebirglerischen Illusionen der Leute von der Ebene. Dahin verläuft sich keine junge Sennerin, die dem Gast zum Abschied mit rosigen Lippen einen Kuß aufdrückt, da gibt’s keine Zither und keinen Gesang, keine Käskessel und überhaupt keine Alpenwirthschaft, wohl aber einen alten eisbärtigen Ochsner, der in seinem Schmutz erstickt und nur zu oft schlechter [505] Laune ist. Im Hüttchen hat er ein Heulager und eine Wollendecke, und daneben in einem feuergefährlichen Winkel liegt ein breiter Stein, auf dem er seine Milchsuppe kocht. Neben dem Schlafgemache steht der dürftige Stall. Der Ochsner selbst hat nichts zu thun, als etwa hin und wieder einen verirrten Ochsen auf den rechten Weg zu führen und die Kuh zu melken, die ihm mitgegeben ist, um die Milch in seine Küche zu liefern. Alle drei oder vier Tage steigt ein Knabe aus dem Thale hinauf und bringt ihm Brod, Mehl und Salz; damit fristet er sein Leben.
Also von der Galthütte wieder in die Höhe und aufs Joch. Oben an der Wasserscheide saß der greise Hirt auf einem Stein und blickte schmauchend auf seine Heerde herab. Es fror ihn und vielleicht hat’s ihn auch geschläfert, vielleicht hat er auch wie der nordische Fichtenbaum vom Morgenlande geträumt, von einer warmen Felsenwand, auf der die jungen Kamele schäkernd um ihn herspringen. Wie geht’s, rief ihn der Gossensasser an und der Andere fuhr auf aus seinem Sinnen und antwortete: Mitterla, mitterla (mittelmäßig). Es hatte Tags vorher von Morgen bis Abend geschneit und der Hirte sich kaum erwärmen können – es sey gar so ein kalter Ort. Ein Ochsner hat’s übel, meinte er, wenn das Wetter nicht fein ist. Trotz seines Trübsinns gewann sich der Hirt aber doch die Frage ab: wo bleiben Sie? Als ich zwei Jahre darauf noch einmal zur Stelle kam, hatte er’s übrigens schon wieder vergessen. Ich sagt’ es ihm abermals und bin jetzt begierig, ob er’s noch weiß, wenn ich wieder komme.
Auf dem Joch, etwas über dem Hirten, begegneten uns drei Duxer, ein Mann und zwei Weibsen, welche in ihren Kraksen Butter nach Steinach trugen. Es wird nämlich mit der Butter aus dem Duxerthale ein großer Handel getrieben, und die Einwohner beiderlei Geschlechts tragen davon jährlich mehr als dreihundert Centner über die Jöcher nach Innsbruck oder in die Orte an der Brennerstraße. Der Mann sprach uns freundlich an, die Weibsen plauderten gleich ganz gesprächig mit – und so bekam ich zum erstenmale eine Anschauung [506] von dem frischen, offenen Wesen der Duxer. Der Mann meinte, ich ginge gewiß auch das schöne Maidele von Lannersbach sehen, die schon in den Büchern gedruckt sey, und von der die Fremden alle zu reden wüßten!
Das Duxer Jöchel ist eines der bequemsten Hochjöcher, zwar etwas steil von beiden Seiten, aber nicht übermäßig hoch und ganz gefahrlos. Es wird viel begangen, weil es die reichbevölkerten Gegenden von Zillerthal und Dux mit dem Wippthal verbindet. Auf dem Joche oben sind Schneestangen eingesteckt, da der Uebergang auch im Winter viel benützt wird. Auch ein Höhenkreuz steht da und ein hölzerner Heiland hängt daran, dem die Regengüsse alle Farbe abgewaschen haben; auch die beiden Arme sind vom Rumpf abgesprungen und hängen nun trostlos neben dem Leibe herunter. Ringsherum ist eine kleine Fläche, von welcher zwei Wege ausgehen – der eine jäh abfallend zieht gerade vorwärts, der andre läuft zur Linken in ein Thal ein, das sich weit hinaus in die Runde zieht. Seine glatten, steilen Seiten sind baum- und buschlos, aber mit schönem Grün bekleidet. Durch dieses Thal geht auch ein Weg nach Hinterdux hinunter und manchem fremden Wanderer, der ohne Führer von dort heraufkam, ist es schon begegnet, daß er den stillen Pfad, der durch diese einsame Weiden hinabführt, für den Weg nach Schmirn hielt, und daher zu einiger Schadenfreude der Duxer wieder ins Thal hinunter fand, aus welchem er heraufgestiegen war.
Etwas unter dem Joche erreichten wir zwei Menschen, einen Passeyrer und ein Duxer Mädchen, welche zur Zeit in ruhiger Rast saßen. Der Passeyrer trug in seiner Krakse Branntwein zu eigenem Gebrauche, wie er sagte, da er mit andern Leuten seiner Heimath auf den Hochweiden von Hinterdux zahlreiche Schafheerden zu hüten hatte. Die Duxer nämlich, deren Viehstand die ganze Ausdehnung ihrer Almen nicht in Beschlag nimmt, verpachten diese an auswärtige Heerdenbesitzer und darunter sind mehrere Passeyrer Bauern. Das Duxer Mädchen hatte Butter nach Schmirn getragen und ging nun leer zurück. Sie rasteten also beide und als [507] wir herankamen, grüßten sie manierlich, die Duxerin nicht ohne einige Freude, daß da, von dem Rufe ihres Thales angezogen, wieder einmal ein Fremder übers Joch gestiegen sey. Der stattliche Passeyrer, ein großgewachsener, schlanker Mann mit braunem, scharfgeprägtem Gesichte, fragte zuvorkommend, ob ich nicht von seinem Schnapse versuchen wolle, und als ich mich bereit erklärt, nahm er unverweilt seine Krakse vom Rücken und schenkte mir aus einem kleinen Fäßchen ein. Vergeltung wollte er nicht haben, denn auf dem Joche müsse ein Mensch dem andern aushelfen.
Sehr artig war auch das Duxer Mädchen, obgleich nicht gar schön. Sie sang ihre Worte so lieblich hinaus und plauderte so uraltes Bayrisch, daß ich ihren Lauten mit immer wachsendem Vergnügen zuhorchte. Insbesondere überraschte die Deutlichkeit ihres Vortrages; ich und mich und sich sprach sie ganz bühnengerecht, und da sonst die bojoarischen Landleute nur i und mi und si sprechen, so klang mir das gar städtisch und vornehm. Auch mit den Vocalen der Vor- und Nachsylben ging sie sehr behutsam um und gönnte ihnen viel mehr Daseyn, als es ihre Landsleute in andern Thälern thun. Sie lud mich schmeichelnd ein, doch auch ihren Ferner zu besehen, den so viele schon mit Freuden beschaut hätten. Sie hatte den gleichen Weg zu machen auf einige Kasern hinunter, die nicht weit außerhalb des Gletschers standen. Ich ging gerne mit und wir kamen also zu den Kasern, etlichen armseligen Hütten in einer kleinen Thalrinne. Hier blieb das Mädchen zurück und ich schritt einwärts zum Ferner, oder vielmehr zum Keese, denn diesseits der Brennerstraße, in Dux, im Zillerthal, im Pusterthal und seinen Seitenthälern werden die Ferner Keese genannt. Nach wenigen Schritten bog ich um eine Ecke und stand da im Amphitheater des Gletschers, der im Sonnenschein prachtvoll aufblitzte. Rechts und links steigen riesige Hörner in die Höhe, zwischen denen sich der Ferner wie eine silberne Schleppe in die Kiesarena heruntersenkt, die seine Bäche durchströmen. Die eine Hälfte seines Eises liegt einer Muschel gleich auf dem Griese; die andre Hälfte sitzt zerbrochen, zerklüftet, in vielen Spitzen [508] aufstarrend, hellgrün und hellblau glänzend auf einem Felsstock, den sie ehedem wohl bedeckt hat, so daß dann der Ferner wie ein ausgebreiteter Fächer in der sandigen Runde lag. Oben verliert er sich in ein schrundiges Schneefeld, die gefrorne Wand, über welche sich bisher noch niemand emporgewagt. Die Scene ist ringsum abgeschlossen; rückwärts ziehen sich niedere Hügel auf, hinter denen sich höhere Berge erheben. Links weit oben glitzern etliche Wasserfälle, welche von höhern Schneefeldern herunterstürzen.
Als ich wieder zu den Kasern kam und mit dem Mädchen weiter ging, zeigte sich’s bald, daß der Ferner so zu sagen hinten in einem hohen Stockwerk liege, aus dessen vordern Stellen man das Thal erschauen kann, das aber noch tief unten liegt. Und so schauten wir denn hinunter in die idyllische Alpenlandschaft, in die grünen Auen von Hinterdux, in denen Hütte an Hütte, braun und niedlich, wie Grillenhäuschen, sich an einander fortreihten, umgeben von gelben Gerstenfeldern, durchzüngelt vom silbernen Bache, eingesäumt mit Anger und Feld von einem bergauf und ab laufenden Zaune, der das sattere Grün der Heimwiesen von dem blasseren der Alpenweiden abschnitt. Zu beiden Seiten thürmte sich mächtiges Gebirge auf, unendliche, steile, breite Halden, hie und da mit Sennhütten besetzt, welche die Warten sind für den einheimischen und auswärtigen Heerdenreichthum. Ist’s nicht fein? fragte das Duxer Mädchen in hellem Vergnügen über meine Bewunderung.
Rechts von da geht es zum Duxer Wasserfall hinunter, der wohl einen Gang verdient, aber besser vom Thale aus besucht wird, als von da hinab über die jähe schlüpfrige Keßler-Rinne, an der sich einer beim ersten Fehltritt zu Tode scheipen[WS 3] kann. Unter heitern Reden erreichten wir die Flur des Dörfchens, wo das Mädchen zurück blieb, wahrscheinlich damit nicht, wie einst Nausicaa[WS 4] befürchtete, die Zungen im Dorfe für ihren Einzug mit dem fremden Wandersmann irgend einen unvernünftigen Grund aussuchen möchten. Dafür fanden sich bald ein Knabe und ein Mädchen, zwei sehr schöne Kinder von acht oder neun Jahren, die plaudernd [509] auf dem Rasen saßen, meine Fragen anmuthig erwiederten und unaufgefordert sich erhoben, um mir den Weg zu den warmen Quellen zu zeigen, die ich wenigstens sehen wollte. Sie stießen kurz vor dem Dorfe jenseits des Baches in zwei Armen von der Halde herab. Sie sind nur wenig lau, noch nicht untersucht, und scheinen in der Gegend keines besondern Rufes zu genießen; wenigstens hörte ich nichts von ihrer Heilkraft. Sicher wohnt ihnen eine solche bei und es wäre vielleicht nicht übel, wenn sich da ein „Badel“ erheben würde. Die Duxer sind indessen zusehends zu gesund dafür und den Zufluß aus der Ferne dürfte die Abgelegenheit des Thales wohl immer sehr beschränkt halten. Später habe ich irgendwo gelesen, daß die Quellen wenigstens in ältern Zeiten mit Erfolg angewendet wurden.
Ehe ich nun die erste Hütte erreichte, kam ich noch an einem Wiesgärtchen vorbei, in dem etliche halberwachsene Jugend Kurzweil trieb. Als die Königin des Festes erschien ein schönes, wohlgekleidetes Mädchen von etwa achtzehn Frühlingen, der man es ansah, daß sie nicht in dem Thal geboren war. Ich schaute dem Spiele einige Augenblicke zu, worauf die Jungfrau das Thürchen öffnete und heraustretend in feinen Worten mich willkommen hieß zu Dux. Dabei gewahrte ich, daß sie einen städtischen Rock anhatte und ein sauberes Halsgekröse, und an den Füßchen trug sie schön lackirte Schuhe, was mir vorkam, wie ein schalkhafter Spott über die ascetische Bedürfnißlosigkeit der Duxer. Ich will’s gleich voraussagen, was ich später erfahren habe, nämlich daß das Mädchen eines reichen Müllers Tochter aus dem Zillerthale war, die ihrer Bildung wegen schon manchen Winter in der Hauptstadt verbracht hatte, nun aber als vornehmer Sommerfrischgast bei armen Verwandten in dem hölzernen Dörfchen wohnte, das neben uns lag. Deßwegen wird sich auch Niemand wundern, daß wir trotz der Ferner, die von oben recht arg herunterglotzten, trotz des Heerdengeläutes und des Bergjauchzens, das jetzt bei kommendem Abend in die Stille froh hereinklang, daß wir trotz alle dem fast eine sehr gebildete Conversation pflogen, beide nicht ohne tiefes Gefühl [510] für die Ironie des Zufalls, der hier dem Mädchen mit den lackirten Schuhen den Gegenpart zugeführt hatte, der ihre exceptionelle Stellung zu würdigen, zu bewundern und zu belächeln wußte. Sie verstand es, in Schilderungen die augenscheinlich nach Salis und Mathisson gebildet waren, die idyllische Einsamkeit ihres Sommeraufenthalts zu zeichnen und ebensowohl in meinem Wesen den schwärmerischen Zug herauszufinden, der mich durch alle Mühsal der Bergwelt hieher in die reine Luft des friedlichen Alpenthals geleitet. Nach manchem guten Gedanken und manchem witzigen Scherze von ihrer Seite, worauf ich, so gut es ging, Bescheid that, beurlaubte ich mich von der städtischen Alpenmaid, die in mir die Bemerkung zuwege brachte, daß ein schönes Mädchen überall am rechten Platze sey und daß man auch in Hinterdux nicht unangenehm berührt werde durch ein anmuthiges, feines Müller-Töchterchen, gesetzt auch sie hätte lackirte Schuhe.
Hinderdux, die Ortschaft, mit ihren hölzernen Hütten, welche neunzig Menschen beherbergen, ist vielleicht das unansehnlichste aller Alpendörfchen. In Damils und Fend sind die Häuser, obgleich von Holz, doch viel größer, in Galthür sind sie von Stein; andere Orte taugen kaum zur Vergleichung. Was aber diesem Dörfchen eigen, das ist eine fast alterthümliche Philoxenie – man kann nicht sagen: Gastfreundschaft, denn das Völkchen hat nichts anzubieten als Milch und Gerstenbrod, was es für die Herren nicht recht passend hält – aber es ist eine recht innige, herzliche Freude an den Fremden, die durch ihre Holzgehäuse durchpilgern. Als ich da den Fuß einsetzte, war es bereits Abend geworden und die Leute saßen auf den Sommerbänken vor den Thüren. Als sie mich ersahen, sprangen sie von allen Seiten auf, eilten herbei, bildeten einen Kreis, und ließen die Augen neugierig auf mir ruhen. Die ältern Männer und Weiber sprachen mich zuvorkommend an und fragten vor allem, wo ich bleibe. Als ich Bayern nannte, erinnerten mehrere, das sey ein feines Land, ganz eben und voll Getraide. Es sey zu verwundern, daß man da fortgehen möge, um ihre „schiechen“ Löcher zu betrachten. Ich hatte Mühe, mich darüber zu rechtfertigen, [511] doch schien es ihnen auch wieder nicht unstatthaft, daß ich die schöne Flur von Hinterdux recht augenfreundlich finden wollte. Uns däucht es außen fein, enk herinnen, sagte endlich ein Alter gewissermaßen als Vergleichsvorschlag und die andern wiederholten es wie eine tief empfundene Wahrheit. Die jüngern, noch schulpflichtigen aus dem „Umstand“ duzten mich, die ältern sagten Ihr und Sie. In allem was sie sprachen, war ein so freundliches Wohlwollen ausgesprochen, daß ich mich nur ungern aus der Runde losmachte, um nach Lannersbach in Vorderdux zu gehen, wo eine gute Nachtherberge zu erwarten stand, während in Hinterdux nur ein sehr kümmerliches Wirthshaus zu finden ist. Aehnliche Aeußerungen wie die der Duxer von der schiechen Natur ihres Thales hätten auch an andern Orten wiedergegeben werden können, da sie fast allenthalben zu vernehmen sind. Der Mann, der der Scholle sein knappes Leben abgewinnen muß, berechnet die Schönheit des Landes nach der Fruchtbarkeit des Bodens, nach der Bequemlichkeit und Sicherheit der Feldarbeit. Der bäuerliche Tiroler hält daher die Ebene für viel „feiner,“ als das Gebirge und seine Geburtsstätte mit den abschüssigen Halden unter Lahnen- und Muhrengefahr, mit den Felsenwänden, die alle Frühjahre donnernd in das Thal herunterpoltern, mit den Wildbächen, die jeden Lenz verwüstend losbrechen, sein eigen Mutterland nennt er am liebsten „schiech,“ ganz unbeschadet seiner Liebe zu der strengen Erzeugerin. Die volle Herrlichkeit der Bergwelt geht ihm oft erst im Heimweh auf. Landschaftsmaler, die im Gebirge bekannt sind, wissen zur Genüge, daß eine Gegend desto weniger Ausbeute gewährt, je feiner sie geschildert wird und umgekehrt, je schiecher desto voller die Mappen. Die grimmigsten Ausdrücke versprechen die erhabensten Schönheiten; ich wenigstens habe nie solche Lust verspürt, einer Empfehlung nachzugehen, als einmal auf den Wiesen von Sterzing, wo ein Bauernjunge auf die Gletscher des Ridnaunthals deutend, lustig hervorbrach: Ei ja, da sollt es hineingehen, da sind Ferner drinnen, daß es eine Schand’ ist.
Nicht weit von Hinterdux kamen mir zwei Novizen der [512] Liguorianer nach. Der eine war ein Tiroler und schwieg, der andere ein Wiener und plauderte lehrreich über Welt und Leben, insbesondere viel Aprioristisches über die Alpen, die er seit acht Tagen betreten hatte. Auf der Moosseite, wo wir miteinander vorüber kamen, steht ein Wirthshaus, vor dessen Thüre die Tochter erschien, fragend, ob denn heute gar nichts gefällig sey, kein Wein, keine frische Buttr. Während wir uns nun zur Rast anließen, versammelte sich alles Hauswesen, so weit es daheim war, drei Brüder, schöne Jungen, der älteste mit Schnurrbart und gelockten blonden Haaren, wie sie hier die Burschen haben, und die Schwester, die uns so gastfreundlich angerufen hatte. Der älteste Bruder bemerkte, es gehe ein kühler Wind im Freien und lud uns ein hinein zu kommen, da es doch viel schöner sey in dem „Gaden.“[WS 5] Ich freute mich über den lieben Kerl mit seiner Nibelungensprache, ging auch hinein in den Gaden, fand es aber sehr schmutzig darinnen und die Wände neu geweißt. Die Unterredung war recht niedlich, und drehte sich abermals um die sonderbaren Herrenleute, die die schiechen Jöcher absteigen, um sich ein Plaisir zu machen.