Also die Bahn rückte näher und näher. Um den Anschluss nicht zu versäumen, musste der Stellwagen schon um vier Uhr früh von Niederdorf abfahren. Frau Emma hatte nie eine übertriebene Liebe zu ihren Kindern. Luise, die spätere Greifenwirtin, und Josefine mussten jetzt „zum Stellwagen“ aufstehen. Was wollte das sagen? Um drei Uhr morgens das Frühstück für im Adler übernachtende Passagiere zubereiten und servieren. — Wenn beim „Ringler“ in der Nachbarschaft die Wachtel schlug, so wussten sie, jetzt ist’s mit dem süßen Schlummer vorbei. Der Dorfbarbier Johann Mair, zu dessen Kindern die beiden Tauf- und Firmpatinnen waren und der ihnen zu ihren Geburts- und Namenstagen stets ein Morgenständchen brachte, musste jetzt in der Nacht aufstehen, sonst blies er seine Flöte vor leerem Zimmer. Nun kamen immer mehr Gäste. Im Fremdenbuch des „Schwarzadlers“ von dazumal befinden sich eine Menge berühmter Namen, Namen von Mitgliedern der hohen Aristokratie, von Adeligen des Geistes, von Bankgrößen. Erstaunlich war, wie sich Frau Emma allen in ihrem Wirkungsbereiche mit gleicher Aufmerksamkeit widmete. Sie verfügte über die seltene Gabe mit hoch und nieder, reich und arm in taktvoller, zuvorkommender Weise zu verkehren.
Wer je mit der einfachen, bescheidenen Frau ein Viertelstündchen verplauderte, war erstaunt über ihren klaren Geist, ihre Beobachtungsgabe. Dabei war sie von rührender Besorgnis für Dienstboten und Pflegebefohlene. Des Öfteren hat sie nach angestrengtem Tagewerk selber des Nachts eine kranke Angestellte gepflegt, Umschläge erneuert, Medizin eingeflößt. Sie, die selbstloseste Frau, sagte sich: Meine Töchter und die Mägde sind ja auch abends so müde, die Jugend hat den Schlaf notwendig und fand es selbstverständlich, dass ihr das Wachen zukomme. Selbst einigen Gästen, die im „Schwarzadler“ von einer Krankheit überrascht wurden, leistete sie derlei Samariterdienste, weil Pflegerinnen in Niederdorf nicht aufzutreiben waren.
Kein Wunder, dass alle Angestellten und Untergebenen keine andere Anrede für sie wussten, als „Mutter“. Für die Gäste samt und sonders war sie stets die Frau Emma.
Der „Schwarzadler“ versank in Vergessenheit, ja es kam einmal vor, dass die jüngste Tochter Luise, als ein Gast sie um die eigentliche Bezeichnung des Gasthofes fragte, vor die Türe lief, um nach dem Schilde zu sehen; sie wusste es nicht mehr sicher. Übrigens gab es schon einen „goldenen Adler“ und die Kaiserjäger-Kaserne gegenüber hatte ja auch einen schwarzen Adler ober dem Tor!