Von der Armen Seele

Ein unschuldiges Bübel, keine drei Jahre alt, kam zu sterben. Es mußte arg und lang leiden: der Angstschweiß stand ihm in großen Tropfen auf dem wächsernen Stirnlein, und der kleine Mund lechzte unaufhörlich. Die Mutter konnte nicht genug jammern, was sie und ihr Kind denn gesündigt hätten, daß das arme Würml so viel ausstehen müßte. Ihre Mutter, die Ahndl des Kleinen, tröstete sie und mahnte daran, daß ein unschuldiges Kind im Sterben mit jedem Schnaufer einer armen Seele im Fegfeuer hilft. Sie hieß die weinende Tochter das Leiden ihres Bübels und ihr bitteres Mitleiden der ärmsten Seele aus ihrer und des Kindes Verwandtschaft zum Trost aufopfern. Das tat die junge Frau unter vielen Tränen.

Als das Kleine ausgeatmet hatte, und die trauernde Mutter allein bei ihm die Totenwacht hielt, blickte sie von ungefähr empor von ihrem Rosenkranz und sah vor sich eine graue Gestalt. Voll Schlecken erkannte sie ihren Mann, der sie und ihre Kinder, zwei größere und das nun verstorbene Kleinste, leichtfertig verlassen und sich in der Fremde umgetrieben hatte nach allerhand bösen Streichen. Daß er draußen gestorben und verdorben war, hatte sie nicht gewusst; nun verkündete es ihr sein Schatten und sagte ihr und seinem Kinde herzinnigen Dank. „Bis heute war ‚ ich schwarz, nun bin ich grau – so hat das Leiden unseres unschuldigen Bübels und deine opferwillige Ergebung mir geholfen. Wenn du mit Fürbitten und frommen Werken nicht nachläßt, so werde ich in einigen Jahren ganz weiß sein und zum Frieden eingehen.“ Damit zerrann er wie ein lichter Nebel vor ihren Augen.

Quelle: Raff Helene, Tiroler Legenden, Innsbruck 1924, S. 186

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Veröffentlicht von josefauer.com

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