Die nächtliche Wallfahrt

War dereinst eine schlimme Zeit in Tirol, eine, wo der schwarze Tod schier in jedes Haus einkehrte, und wo es oft an Händen fehlte, die große Zahl der Gestorbenen zu bestatten. Vom Schloß Karneid, das am Eingang des Eggentals hoch auf dem Felsen liegt, konnte der Burgherr das verödete Land übersehen, die leerstehenden Hütten und die Leichenzüge, die etwa eine der einsamen Straßen schritten. Da hatte der Ritter von Karneid große Angst für sich, sein Weitb und seine Kinder, daß die Pest auch bei ihnen auf dem Felsen einkehren und sie mitnehmen möchte. Ein hohes Gelübde tat er: “Wenn wir, ich und die Meinen, der leidigen Seuche entrinnen, so wollen wir eine Wallfahrt tun nach Weißenstein, feierlich mit Kreuz und Fahne und der lieben Gottesmutter unseren Dank sagen.”

Die schwere Zeit ging vorüber, das große Sterben hörte mählich auf, und die auf Burg Karneid waren verschont geblieben. Auch nicht eins von den Seinen hatte der Ritter hergeben müssen. Drob ward er fröhlich und guter Dinge, ließ Feste feiern und Gastmähler veranstalten; denn es dünkte ihn angemessen, sich nach den ausgestandenen Ängsten recht gütlich zu tun.

Und die Wallfahrt? Ja, für die gab es jeden Tag ein anderes Hindernis: von heute ward sie auf morgen verschoben, von morgen auf übermorgen, und am Ende geriet sie in Vergessenheit.

Da mit einmal kehrte der schwarze Tod zurück, als das Volk ringsum seiner auch schon vergessen hatte. Und wieder herrschte Grauen und Entsetzen, aber zumeist auf Burg Karneid, denn just dort war die Pest eingekehrt und raffte eines nach dem anderen hin. Des Ritters ganze Sippschaft: Weib, Kinder, alle starben gähen Todes, er selbst als letzter, ein Jahr, nachdem er das Gelöbnis gemacht.

Daß er es aber nicht erfüllt hat, läßt ihn noch im Grabe nicht Ruhe finden. Wenn die Zeit seines Todes sich jährt, entsteigen er und die Seinen nächtlicherweile der Gruft und pilgern nach Weißensiein, in schwarzen Gewändern, ein gespenstischer Wallfahrerzug. Fromme Pilger, die sich auf dem Heimweg von Weißenstein verspätet hatten, sind öfters in der Nacht dem toten Ritter und seiner Sippe begegnet, wie sie den Berg zum Heiligtum emporklommen.

Quelle: Raff Helene, Tiroler Legenden, Innsbruck 1924, S. 184

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Veröffentlicht von josefauer.com

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