Am nächtlichen Himmel erschien ein Komet! Zuerst wollte ihn einer bemerkt haben und dann sahen alle mit Entsetzen diesen unheimlichen rätselhaften Himmelskörper. Das bedeutet Krieg, sagte man zuerst leise, dann immer lauter. Nun kamen endlose Truppendurchzüge. Und der Krieg war da. Wie viele Regimenter zogen da an Niederdorf vorüber; den Anfang machten die Freiherr von Hess´schen Ober- und Niederösterreicher, die Kärntner, Steirer, Salzburger usw. Es gab noch keine Bahn, es hieß marschieren. Unabsehbar schritten sie fürbass, ermattet, staubig, erhitzt, dürstend. Wohl ihnen, wenn in Niederdorf für sie Rasttag war. Doppelt so gut waren sie bei Frau Emma einquartiert. Sie hatte das leere Kugler-Haus gemietet und mit dem Nötigen versehen.
Da konnten sie wirklich rasten, hatten es bequem, bekamen nicht nur die ihnen gebührende Ration an Suppe und Fleisch, sondern die gute Frau brachte — und wäre sie noch so schwer abgekommen — noch einen gefüllten Korb mit Extrasachen, wie Wein, Kaffee, Obst usw. An ihrer Seite trippelte ein Töchterchen, die sollte es auch lernen! Und ob Ungar oder Kroate, Slowake oder Pole, alle verstanden sie ihr gütiges Zunicken, ihr mütterliches Zureden. Und wie ihr erst die Herzen der jungen Offiziere zuflogen — sie hätte ja alles für sie getan, geboten, gegeben, die so schwere Strapazen für das Vaterland ertrugen. Es gab Zeiten, wo Frau Emma und ihre Kellnerin mehrere Tage hindurch nie aus den Kleidern kamen, nur auf einem Stuhl der notwendigsten Ruhe pflegten, es wanderte immer und die Haustüre konnte nie geschlossen werden.
Und der Jammer erst, als die Verwundeten kamen, aus Stroh gebettet, in federlosen Leiterwägen, wie litten da die Ärmsten und was litten die, die den Jammer mit ansehen mussten, ohne helfen zu können. Alles eilte mit Labemitteln herbei, Frau Emma war nicht die letzte, überall, besonders in Bozen, war alles überfüllt mit Blessierten, die mitleidigen Bewohner wetteiferten, diesen zu helfen.
Die Mondscheinwirtin, Frau Nussbaumer, mit dem goldenen Herzen, schickte täglich Leckerbissen ins Lazarett. Einmal traf es die Niederdorfer Kochenlernerin Emma, die fünfzehnjährige Tochter der Witwe Hellenstainer, das Körbchen hinauszutragen. Wie sie dort auszuteilen beginnt, eilt ein Soldat auf sie zu. „Basele, grüß Gott!“ Emma kennt ihn nicht; aber bald stellt sich heraus, dass es der Vetter Berger aus Windisch-Matrei war; er erkannte das Bäschen an der Ähnlichkeit mit der Mutter. Und nun erzählte er: In der Schlacht bei Solferino hatte es ihn erwischt, ein Schuss ging ihm durch die rechte Hand. Er versicherte, dass er von der Verwundung gar nichts verspürte und ihn erst seine Kameraden, welche ihn bluten sahen, darauf aufmerksam machten. Übrigens war er schon
bald geheilt. Und noch eine Bemerkung: das berühmt gewordene Sturmwetter am Nachmittage der Solferino-Schlacht sah man über Ampezzo ganz schwarz herausziehen. Emma nahm den Vetter zu sich in den „Mondschein“, da wurde er noch ein bisschen ausgefüttert, dann ging es dem Pustertale zu.
Emmas Lehrjahr war vorbei, der Gasthof „Mondschein“ war eine ausgezeichnete Schule für Wirtstöchter und angehende Wirtinnen, nur noch übertroffen von der „Kaiserkrone“ in Bozen, erst im Besitz des Herrn Peter Gelb, eines Augsburgers, der später als Privatmann ständiger Sommergast bei Frau Emma war, nachdem er das Hotel „Kaiserkrone“ an Familie Büchner verkauft hatte. Und die junge Emma sah ihrer Rückreise nach Niederdorf mit großer Freude entgegen, hatte sie doch jeden Trick der Kochkunst erlernt, Butterteig, Strudel usw., war sogar imstande, Vogelnestchen aus gesponnenem Zucker zu machen, welches Kunststück keiner ihrer Schwestern gelingen wollte.
Sollte man es glauben, dass der „Mondschein“ keinen Sparherd besaß, sondern nur offenes Feuer? Die Braten drehten sich am Spieße, die „Köche“, Aufläufe, Torten und Kuchen wurden zum Bäcker getragen, der gegenüber war und in dessen Backofen alles aufs Beste gedieh. Aber dabei kostete es den Kochenlernerinnen viel Mühe und Herzensangst. Lehrjahre waren auch damals keine Herrenjahre!
Nun winkte die Freiheit. Onkel Louis, Frau Emmas jüngster Bruder, anfangs der sechziger Jahre Koadjutor in Aurach, hatte Ferien, die er bei seiner Schwester in Niederdorf verbringen wollte. Er machte einen Abstecher nach Bozen, um sein Bäschen heimzugeleiten und zugleich einen langgehegten Wunsch in Erfüllung zu bringen, nämlich das „Kalterer Fräule“ zu sehen. Es war dies die im Jahre 1812 geborene Maria von Mörl, Tochter eines Gutsbesitzers, von Jugend aus von einem überaus reizbaren Nervensystem und großem Hang zu religiösen Übungen.
Die besonnensten Männer, die kühlsten Beobachter, Ärzte wie Laien, schilderten deren Zustand als höchst wunderbar. Maria lag da mit offenen Augen und gefalteten Händen, ohne etwas von allem, was sie umgab, zu sehen oder zu hören und ohne die mindeste Nahrung zu sich zu nehmen, mit Ausnahme des Saftes von zerdrückten Trauben oder Zitronen. Kein Zucken der Wimper verriet, dass Leben in diesem Körper war, der Atem war so leise, dass er nicht wahrgenommen werden konnte. Sobald aber während der heiligen Messe die Glocke das Zeichen der Wandlung gab, richtete sie sich mit Blitzesschnelle auf und schien in der Luft zu schweben. Maria betete nicht auf den Knien liegend, sondern ruhte auf „gebogenen Zehen“, wodurch der Eindruck des Schwebens hervorgebracht wurde. So berichtete Emma. Schon in den dreißiger Jahren war der Zulauf, um die „Heilige“ zu sehen, ungeheuer. Scharen frommer Pilger zogen zu Hunderten zu Fuß und zu Wagen nach Kaltern.
Später wurde der Besuch derselben von der Behörde verboten, und nur wenn man durch einen Freund in die Familie von Mörl eingeführt wurde, konnte man Zutritt erlangen. Jetzt hatten zwar die Wallfahrten zu ihr aufgehört, doch ihr Zustand war noch immer unverändert. Wenn sie der bei ihr befindliche Geistliche beim Namen rief, schien sie aus ihrer Lethargie zu erwachen, strich sich die Haare zurück, das Auge wurde lebhafter und sie antwortete auf vorgelegte Fragen, aber schnell sank sie wieder in ihren gewöhnlichen Zustand zurück und pflegte zu sagen: Lasst mich, ich bin nicht für diese Wett, lasst mich fort! Maria hatte regelmäßige Züge, lang herabhängende blonde Haare, die Lippen waren fest geschlossen, die Wangen leicht gerötet. Ein hervorragender Arzt äußerte sich, dass ihr Zustand zwar nichts Übernatürliches darstelle, ihre Frömmigkeit jedoch nicht krankhaft sei. Wahr ist, dass ihr Anblick einen tiefen Eindruck hinterließ und niemals zu Spöttereien Veranlassung gab. Der Zustand dieses Fräuleins blieb ein tiefes Rätsel, das niemand zu lösen imstande war; sie starb im Jahre 1868.
Nun ging’s nach Hause. Emma wurde im Triumphe empfangen und nun ging ein Erzählen los…, bis die undankbaren, unhöflichen Zuhörerinnen sagten: Geh, hör‘ einmal auf! Oder erzähle und wenigstens von der Krinoline. Ist es wahr, dass in der Stadt alles schon Reifröcke trägt, und wie kann man damit niederknien, und wie hat man damit im Stellwagen Platz? Und wird uns die Mutter auch einen solchen kaufen oder machen lassen? — Emma wusste nur die erste Frage zu beantworten: in Bozen gingen alle in Reifröcken daher (wohl nicht für einen Künstler, höchstens für einen — Geometer eine annehmbare Figur). — Nur eine Dame in Bozen, und zwar eine der nobelsten und reichsten, hatte keinen. Ihr Mann, Reeder Scholwien aus Hamburg, gestattete es seiner Frau, einer geborenen Ferrari, durchaus nicht. Sie suchte diesem Mangel durch zwei bis drei gesteifte Unterröcke abzuhelfen, aber der richtige Effekt ließ sich nicht herausbringen. Dann fing man auch auf dem Lande damit an, zum großen Ärger der Familienväter und Mütter. In Windschnur hatten die sechs schönen Töchter auch solche mit Bambusstäben angefertigt und paradierten damit herum. Nun musste die Mutter einmal des Nachts, als die Mädchen schliefen, die Röcke dem ergrimmten Vater bringen, der sie auf dem Hackstock kurz und klein zerhackte. Als die Krinoline längst verpönt war, gab es in Niederdorf noch immer zwei bis drei alte Fräulein, die derselben bis an ihr seliges Ende treublieben.