Frau Emma Hellenstainer und ihre Zeit – Das Brauhaus wird verkauft

Die Brüder des alten Postmeisters, die Junggesellen Thomas und Seppl, waren Besitzer des Wirtshauses am Hauptplatze in Niederdorf gewesen — vor uralter Zeit das Jagdhaus der Grafen Görz, später Troyer´sche Wirtsbehausung — nun hieß es zum Schwarzen Adler.

Thomas, Taufpate unseres Josef, hatte vor dem Tode im Einverständnisse mit dem Bruder den ganzen Besitz mit Feld und Wald testamentarisch dem Neffen Josef verschrieben. So beschlossen die jungen Eheleute mit Zustimmung der Mutter das Bräuhaus zu verkaufen und nach Niederdorf zu ziehen; es fand sich ein zahlkräftiger Käufer im Bräuer Lenz, der Handel wurde geschlossen und so kam Emma in jenes Haus, in dem sich der größte Teil ihres Lebens abspielte.

Der alte Postmeister hatte nun alle seine Kinder gut versorgt; der älteste Sohn hatte den Postgasthof und übte das Postmeisteramt aus, Josef war Schwarzadlerwirt, Johann hatte einen guten Kaufladen in bester Lage, Alois war Weiherbadbesitzer, und der jüngste, Leopold, bereitete sich zum Priesterstand vor. Die fünf Töchter, obwohl hübsch und wohlhabend, verheirateten sich nicht.

Niederdorf war ein Ort nicht ohne Bedeutung. Im Jahre 1833 wurde statt des bisher bestandenen Saumweges die prächtige Ampezzaner Straße vom lombardischen Generalunternehmer Tallachini dem Verkehr übergeben. Diese Straße wurde zur unmittelbaren Verbindung des Freihafens von Venedig mit Deutschland angelegt. War früher die Entfernung von Innsbruck nach Venezia über Verona 62 deutsche Meilen, so betrug dieselbe auf der neuen Kunststraße über Toblach (das einsame Postwirtshaus Höhlenstein war schon damals eine der besten Gaststätten auf der ganzen Strecke), Ampezzo, Perarolo, Longarone, Seravalle nur 48 ½ Meilen. Dadurch rückte Niederdorf zu einem Mautamt 1. Klasse vor.

Der große Platz neben der Reichsstraße in der Mitte der Ortschaft bildete den Stapelplatz, daneben war die Dogana für Transitgüter. Da gab es Waren aller Art: Carobbe und Feigenfässer, Baumwollballen, Ölfässer, Kaffeesäcke, Limoni-, Pomeranzen- und Dattelkisten, Säcke mit Reis, mit Weinbeerln, Zibeben, Stockfischscheite in Bündeln, Brasilholz, Kupfervitriol aus der Boite, welches sich dort an eigens angebrachten Fäden und Latten ankristallisierte und so in den Handel gebracht wurde. Transportgüter aller Art aus Triest wurden hier zollamtlich behandelt und weiter nach Innsbruck verfrachtet, um von dort aus ihren Weg in ferne Gegenden zu nehmen.

Das war etwas für die Dorfjungen auf diesem Platze; die Aufleger rissen mit ihren Hacken häufig unversehens ein Loch in die Säcke, aus denen dann der süße Inhalt, Weinbeerln und Zibeben, quollen, oder hatten dadurch die Bockshörndln sichtbar und zugänglich gemacht. Da wurde manche Kappe verstohlen gefüllt. Niederdorf war ein Stapelplatz, wie sich außer Innsbruck keiner auf der ganzen Strecke befand; es brauchte Beamte, Zolleinnehmer, Kontrolleure usw. In den fünfziger Jahren war ein Franzose Pouchs Obereinnehmer. Spediteure. Wirte, Fuhrleute, Schmiede und Rädermacher hatten glänzende Zeiten. Die Aufleger konnten den ihnen von den Fuhrleuten gestifteten Wein gar nicht bewältigen. Der Mäßigkeit schien sich niemand beflissen zu haben.

In die Kindheitsjahre der Frau Emma fällt die Ära der kunstvollsten Straßenbauten im Lande, Konstruktionen, die an Großartigkeit selbst von denen der Römer nicht übertroffen wurden, die oben erwähnte Ampezzaner Straße, jene über den Finstermünzpass, dem Splügen, und vor allen die Stilfserjochstraße, welche aus dem Vinschgau in das Veltlintal über die höchsten Alpen des Landes bis zu einer Höhe von nahezu 3000 Metern nach Mailand führt.

Schon Napoleon I. hatte den Plan gefasst, diese Straße auszuführen, wollte dabei jedoch das Wormser Joch, wie es früher hieß, umgehen und sie von Spondalunga über Monte Broglio ins Münstertal leiten; wäre zweckmäßiger und leichter gewesen, wunderbarer sicher nicht.

Kein anderer Alpenpass, weder der Gotthard, Mont Cenis, noch der Simplon erheben sich zu solcher Höhe, bei keinem waren die Schwierigkeiten so ungeheuer, zeigt sich solche Kühnheit in der Anlage, in Vollendung und Ausführung, wie bei dieser höchsten Fahrstraße von Europa.

Wie großartig erhebt sich selbe hinter Trafoi, wo man ganze Strecken wieder zurückfährt, um die Höhe zu gewinnen. Ost schlingt sich der Weg in ungezählten Windungen übereinander, überall sorgfältig ausgemauert und gestützt, die zuletzt in einer halbrunden Brustwehr in schwindelnder Höhe enden! Man staunt freudig, man atmet auf, wenn man hinaufblickt — und doch ist es noch nicht das Ziel; höhere, unwirtbare, mit Eis und Schnee gekrönte Felsen versperren den Hintergrund, auch sie müssen überwunden werden. Im vorigen Jahrhundert strebten da noch Riesentannen, an die Wälder Litauens und Polens gemahnend, aus dem Abgrunde hervor. Diese Baumgiganten hielten an der Grenze der Vegetation die getreue Wacht; nachher trifft man nur mehr Gestrüpp und Knieholz; dann beginnt der Granit zu sprossen aus uraltem Eis und Schnee, welche seit Tausenden von Jahren kein Sonnenstrahl schmolz.

Und endlich türmt sich das Joch in furchtbarer Erhabenheit vor dem Reisenden auf. Welch ein Anblick! An der steilen Felswand sucht das Auge vergeblich die Stelle, wo der Fuß rasten könnte, und da hängt die Straße im Zickzack schwebend! Und wagt man in die Tiefe zu schauen! Beim schnellen Umbiegen, indem man eine neue Wendung aufwärts fährt, ist dieser Blick in den Abgrund, an dessen schroffen Rand man knapp dahinfährt, schaudererregend! Jedoch die heitere Gesellschaft im eleganten Auto lacht und scherzt und — vertraut der Straße, ja denkt daran oder vielmehr denkt nicht daran, wie einstens vor hundert Jahren einsame Wanderer ängstlich und mühsam  mporgeklommen sind, wie kunstsinnige italienische Ingenieure dort unter beständiger Lebensgefahr ihre Messungen Vornahmen und Tausende von Arbeitern, an Stricken hängend oder auf schwankenden Brettern über bodenlosen Abgründen schwebend, den Riesenbau vollendeten. Die Zivilingenieure, welche die Straße konstruierten, hießen Noli und Paoli unter der Leitung des Oberingenieurs Tallachini, die Aufsicht über das Ganze hatte Lambertenghi und der Entwurf stammte vom genialen Donegani, der es wohl verdiente, dafür von Kaiser Franz I. in den Adelsstand erhoben zu werden.

Der Postdirektor von Innsbruck, der Postmeister von Mals und ein Offizier waren die Ersten, welche mit der Post die neue Straße bereisten. Nie zuvor war in Bormio, der Endstation, ein Posthorn erklungen. Der Postillion musste von einem Ende der Stadt zum anderen das Posthorn blasen. Die Leute stürzten aus den Häusern, die fröhliche Neuerung anzustaunen, welche ihr abgeschlossenes Tal mit der übrigen Welt in Verbindung brachte. Nach dieser Abschweifung kehren wir wieder ins Pustertal zurück.

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Veröffentlicht von josefauer.com

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