Drei Sommer in Tirol – Von Vent nach Schnals

von Ludwig Steub

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In Zwieselstein gehen drei Wege auseinander. Einer von diesen Steigen führt der Oetz, oder wie sie von jetzt an heißt dem Venterbache, entlang in den hintersten Ort des Thales, nach Vent. Links von diesem geht einem andern Bache nach ein anderer Weg ins Gurgltal. Dieser wird in neuern Zeiten von kecken Reisenden viel begangen. Wenn den Beschreibungen zu trauen, so ist schon der Pfad bis zu dem Gurgler Dörfchen einer von den schauerlichsten, und jenseits des anmuthigen Grundes von Gurgeln geht’s dann über den großen Oetzthaler Ferner ins Pfosenthal hinab, das ins Schnalserthal mündet. Der Gang über den Gletscher beträgt da ein paar Stunden und gewährt die interessantesten Schrecknisse. Noch weiter zur Linken zieht ein Bergsteig auf den Timbels, von welchem man ins Passeyer hinuntersteigt, von allen dreien der betretenste, als der kürzeste Weg aus dem Oetzthale nach Meran, der auch während des Sommers fast immer „aber“ d. h. frei ist von Schnee und Eis. Ein guter Fußgänger kann von Zwieselstein in einem Tage nach Meran gelangen. Die Oetzthaler machen übrigens in derselben Zeit auch den Weg von Längenfeld aus.

Wir wählten uns den Weg nach Vent, der alsbald über einen Steg in die Schlucht hineinführt, aus welcher der Oetzbach hervorstürmt. Der Pfad ist schmal und unbequem und macht auf etwas Klettern und Springen Anspruch. Eine schöne Bergpyramide, die im Hintergrunde des Thales aufsteigt, bleibt immer als Wegweiser vor Augen und soll deßwegen Thalleite heißen. Nichtsdestoweniger geriethen wir einmal in schwere Zweifel ob wir nicht den Weg verfehlt hätten; denn als wir einige Zeit durch thauigen Wald gegangen waren und endlich wieder im Freien das enge Thal betrachteten, den Bach, der zwar noch sehr jung, doch schon mächtig schrie, und die langen Berghänge die oben in Schneefeldern und Fernern ausgingen, als wir dieß so betrachteten und mit den Augen in der Höhe allerlei Schönheiten zusammensuchten, gewahrten wir auch plötzlich hoch über unsern Häuptern auf senkrecht abgeschnittenem Felsenrand eine Capelle und etliche Häuser. Auf den hellgrünen Wiesensaum, der in Adlershöhe über dem Abgrund schwebte, [224] auf die weiße Capelle und in die Fensterchen der hölzernen Hütten fiel die Morgensonne und darüber stieg der blaue reine Himmel auf. Wie wir da aus der schattigen Schlucht, die noch kein Strahl erreicht hatte, hinauf blickten in jene erleuchtete Höhe, so wollte es uns bedünken als läge dort unser wahrer Weg der allein ans Ziel führe. Diese Ahnung hätte uns freilich nur betrogen, denn als wir noch auf gut Glück den rauhen Pfad im Thale etwas weiter verfolgten, sahen wir bald das ersehnte Kirchlein von Heiligkreuz vor uns, wie es sich dem Bach zur Seite freundlich winkend auf seinem grünen Hügel erhebt.

Als wir auf dem Platze waren, trat der Meßner aus dem Gotteshause und sagte uns grüßend, der Herr sey noch am Messelesen und wir möchten einstweilen auf der Bank vor dem Widdum, der Priesterwohnung ausrasten. Dieß thaten wir auch gehorsam und betrachteten die Gegend, die so schmal und still vor unsern Augen lag. Man hat erst im Jahre 1804 in diesem engen Thalschnitt eine Kirche erbaut, einfach und klein, wie sie für die hundert Aelpler, die unter die Seelsorge gehören, ausreicht. Rund herum ist auch ein kleiner Friedhof. Neben diesem liegt das Häuschen des Caplans, hölzern aber heimlich, mit einigen Blumentöpfen vor den Fenstern. Etwas weiter oben stehen vier oder fünf ärmliche Hütten, die den Hauptstock des Sprengels ausmachen. Etliche Gerstenfeldchen und ein paar Erdäpfelbeeten zeigen ungefähr, was hier noch durch Anbau dem Boden abzugewinnen ist; dagegen bringt er ungezwungen die schönsten Alpenblumen hervor und prangt auch sonst im lebhaftesten Grün. Unten in der Schlucht braust der Bach. Diesseits sind die Höhen nicht weit zu verfolgen, da die niedersten Abdachungen zu nahe liegen und den Blick auffangen; aber jenseits des Baches geht’s von diesem an schräge hinauf über Schrofen und Fichtenwald bis zu den Fernern, die weiß und reinlich auf dem Sattel ruhen. Mancher braune Felsklotz sticht trotzig aus der eisigen Decke, und besonders schön war es anzusehen wie diese stolzen Hörner, von heiterer Sonne beschienen, ihre blauen Schatten über den weißen Schnee hinwarfen. Aus den Fernern lösten sich etliche silberne Wasserfäden [225] ab und stürzten ungehört über den Berghang in die Tiefe.

Wir saßen also auf der Bank vor dem Herrenhause, schauten immer wieder aufs neue zu jenen Fernern hinauf und sagten einander: dort wohnen die Feen des Oetzthales! In solche Herrlichkeiten verlegt nämlich die Oetzthaler Sage den Wohnsitz der „saligen Fräulein,“ elfenhafter Jungfrauen, welche die Hirtenknaben lieben und die Gemsenjäger hassen. Von diesem Hasse und jener Liebe erzählen die Aelpler mehr als eine schöne Geschichte. Indessen haben die saligen Fräulein auch sonst bequemer gelegene Wohnungen im niedern Thalgelände, und zumal bei Längenfeld ist durch eine Grotte der Eingang zu ihren gefeiten Hallen im Innern des Gebirges. Vor dieser Grotte saß einst im schönen Mai ein junger Hirte und kochte sein Mittagsmahl. Unversehens erscholl von Längenfeld her die Mittagsglocke, der Knabe kniete nieder um zu beten und warf in seiner Unvorsicht den Topf um. Alsbald trat ein Fräulein aus der Grotte und gab ihm andere Speise für die welche er verschüttet. Dabei kamen die beiden, der schöne Hirtenknabe, und das schöne Fräulein, in ein freundliches Gespräch, und als der eine sich geletzt, nahm ihn die andre bei der Hand und führte ihn in ihr wunderbares Schloß. Dort wurde er mit lieben Worten aufgenommen und die Elfen sagten ihm, er möge kommen zu allen Stunden, aber Niemand dürfe davon wissen und niemals dürfe er jagen gehen auf die Gemsen, die allesammt ihre Hausthiere seyen. Dem Hirtenknaben gingen neue Tage auf, schönere als er je erlebt, bis ihm nach manchen Monden ein Wort entfuhr, das seinem Vater seine Liebe verrieth. Als er darauf wieder an den Berg kam, war dieser verschlossen und keine Bitte, keine Klage konnte ihn wieder öffnen. Der Knabe, verging fast in seiner Sehnsucht und starb schier vor Gram, aber das salige Fräulein, seine Liebe, kam nicht mehr zu Tage. Und zuletzt machte er sich auf und ging um Rache zu nehmen auf die Gemsenjagd, ersah ein Thier, verfolgte es und schoß. Aber kaum war’s gethan, so stand das salige Fräulein, das ihn einst geliebt, in all ihrer Schönheit schützend bei dem werthen Wilde, blickte den Jäger an, [226] schwermüthig aber milde, als thäte sie vergangener Tage gedenken, und der untreue Knabe stürzte von dem Blick geblendet in den Abgrund.

Als nun der Caplan aus der Kirche trat, gab er uns freundlichen Willkomm und erregte auch sonst manche angenehme Hoffnung in den beiden Pilgern; denn da gestern, wie bekannt, Fasttag gewesen und der Wirth zu Sölden jedem Manne nur ein Ei gewährt hatte, so war ihnen noch etlicher Hunger übergeblieben. Dafür wurde nun trefflich gesorgt, und ehe die Sonne im Mittag stand, stand eine kräftige Suppe und ein auserlesener Gemsziemer und eine noch mehr hervorzuhebende Gemsleber auf der Tafel. Nebenbei tranken wir vom rothen Wein des Etschlands und plauderten bis zum späten Nachmittage, festgehalten durch einen stürmischen Regenschauer, der sich urplötzlich emporgezogen hatte an dem Himmel, der noch um Mittag so heiter gewesen war.

Wer macht sich wohl im bequemen geselligen Flachlande eine richtige Anschauung von dem Leben dieser hochgebirgischen Dorfcapläne? Drei Viertheile des Jahres liegen sie unter Schnee, und in der „abern“ Zeit läßt ihnen Mutter Natur kaum die Erdäpfel im Garten reif werden. Jahr aus Jahr ein leben sie da in ihrem engen Häuschen mit der nächsten Aussicht auf den Friedhof, und verlassen es nur um den Verrichtungen in der Kirche oder der Seelsorge auf den Höhen herum nachzugehen oder zu einem einsamen Spaziergang, der unveränderlich den Wiesenpfad thalein- oder auswärts verfolgen muß, denn ringsherum sind steile Wände. Wenn im Winter der Weg in die Kirche oft erst mühsam gebahnt werden muß, so läßt sich denken was für Fährlichkeiten zu bestehen, wenn etwa ein Sterbender auf entlegenem Hofe nach dem Priester begehrt und dieser in finstrer Nacht, in Sturm und Schneegestöber, dem Rufe folgen muß, auch wenn es bis dahinaufginge, wo wir heute früh auf dem sonnenhellen Bergrande das ferne Capellchen glänzen sahen. Ist dann der Weg auch gangbar, so drohen noch immer die Schneestürze, und davon weiß mau in Heiligkreuz wie im ganzen Oetzthale Schauerliches zu erzählen, als z. B. daß gleich im Jahre 1817 [227] zu Nörder auf dem Wege nach Zwieselstein siebzehn Personen verlahnet[WS 1] wurden, die sich alle in ein Haus geflüchtet hatten, das sie für besonders sicher hielten – ein Unglück bei welchem nur der achtzehnte, ein alter Mann, mit dem Leben davon kam. Ueberhaupt sind die Arten wie man hier zu Lande mit Tode abgehen kann, kaum zu zählen, und der lange Weg durchs Oetzthal herauf bis zum Ferner läuft oft wie durch eine Allee von Martertäfelchen, kleinen Abbildungen des Todfalls mit beigeschriebener Bitte um ein Vaterunser, welche die Hinterbliebenen am Pfade aufrichten lassen. Manche sind in Fernerklüfte gefallen, andere vom Schrofen gestürzt, andere durchs Eis in den Bach gebrochen, andere hat der Strom im Sommer fortgerissen, andere ein fallendes Felsstück erschlagen, andere ein rutschender Baum erdrückt, andere sind in der Lahne erstickt, andere im Gerölle umgekommen und so fort, nur von mörderischen Ueberfällen ist nicht die Rede. Um übrigens zu unsern Bergcaplänen zurückzukehren, so führen sie auch im Sommer kein sehr geselliges Leben, da der Nachbar oft mehrere Stunden zum Nachbar hat, auch die Gießbäche in der schönen Jahreszeit nicht selten den Pfad mit sich fortreißen und den Verkehr für mehrere Tage unterbrechen. Drum ist das enge Häuschen mit ein paar Büchern, ein paar Singvögeln und ein paar Blumentöpfen gleichsam die Cajüte, in der der einsiedlerische Priester die langen Monate durchsteuert – das enge Häuschen, welches zwar zuweilen einen guten Keller hat, in dessen Küche aber frisches Fleisch jeweils eine Zufälligkeit. Besondere Wonnen- und Freudentage die das stille Einerlei des Jahreslaufs unterbrechen, wären wohl schwer namhaft zu machen; doch hält einer oder der andere die Jagd auf „Murmenten,“ auf Murmelthiere für ein hohes Vergnügen. Gleichwohl sind die Fälle nicht gar selten daß solche Priester zehn und zwanzig Jahre bei ihren Kirchen und ihren anhänglichen Schäflein geblieben sind, obgleich es ihnen in dieser langen Zeit nicht an Gelegenheit fehlen konnte den Ort ihrer Wirksamkeit zu wechseln.

Für gesellige Naturen mag es eine Labsal seyn, daß sie Niemand hindert müden Wanderern Herberge zu geben. [228] Da findet sich doch alle vierzehn Tage einmal Anlaß etwas zu reden; man hört wieder von der Welt und in neuern Zeiten oft von fernen Ländern, von den britannischen Inseln, von Scandinavien und dem äußersten Thule. Mancher Engländer, mancher Normann bleibt durch Unwetter aufgehalten etliche Tage sitzen und erzählt zur Kürzung der Stunden von seinem Lande und seiner Vaterstadt. Davon haftet dann Vieles im Gedächtniß und man muß sich oft wundern, wie der geistliche Gastfreund, der nie über die Gränzen seines Bisthums hinausgekommen, an einem andern Ende des Welttheils ganz gut Bescheid weiß und Verhältnisse kennt, die aus Büchern gar nicht zu lernen wären. In allen Fällen wird man die Aufnahme freundlich finden und wenn sich auch der Tisch nothwendig nach dem richten muß was vorhanden ist, so wird das Lager doch überall befriedigen. Billige Rechnung ist ein Ehrenpunkt, da man’s lieber ganz umsonst thäte, wenn die Mittel ausreichten. In manchen Häusern darf sich die Köchin gar nicht in die Sache mischen, weil der Hausherr fürchtet, sie möchte zu fiscalisch dareingehen. So kommt dann der gute Wirth selbst mit der Kreide, schlägt die einzelnen Posten vor, ladet den Gast ein seine Erinnerungen zu machen, wozu freilich nie ein Grund gegeben ist, schreibt jedes Sümmchen nur nieder, wenn es vorher gebilligt worden, und so wird denn im friedlichsten Einverständniß der Betrag der mäßigen Vergütung festgesetzt.

Gegen Abend also machten wir uns, gelabt und gestärkt, wieder auf um nach Vent zu gehen. Der treffliche Caplan gab uns noch eine Strecke weit das Geleit, und dann nahmen wir herzlichen Abschied. Der Weg war in seiner Art wenig verschieden von dem den wir in der Frühe von Zwieselstein nach Heiligkreuz gegangen waren, doch eher etwas bequemer. Hie und da stehen ein paar Hütten an dem Wege – sonst große Einsamkeit und wegen der vielen Spuren von Lahnenstürzen, wegen der Steingerölle und der wilden Schrofen etwas Melancholie. Nach zwei Stunden eröffnet sich das heitere Thal von Vent, wo das letzte Dorf im Oetzthale, das höchste im Lande steht, 6048 Wiener Fuß über dem Meere, höher als [229] die Schneekoppe im Riesengebirge. Es finden sich hier fünf Bauernhöfe, und darin wohnen etliche vierzig Menschen die keine Felder mehr bauen, aber schöne Alpenweiden besitzen und durch Viehzucht einen ziemlichen Wohlstand unterhalten.

Das Thal von Vent ist ein Seitenstück zu der Landschaft von Galthür: hölzerne Alpenhäuser und eine weiße Kirche, glatte Wiesen, ein ruhigfließender Bach, niedere grüne Berge. So grauenvoll der Winter seyn mag, so harmlos und artig scheint das Gelände im Sommer. Wir haben der Ueberraschung schon einmal gedacht, die den Pilger befällt, wenn er Tage lang am tobenden Bache aufwärts gegangen, an Schrofen und dräuenden Felsen vorbei, durch grause Schluchten, über Lawinenbahnen und Steingerölle, zeitenweise die ernsten Gletscher im Auge – wenn er nun immer tiefer ins Gebirge hineinkommt und zuletzt wo der Schauer am größten seyn soll, in den grünen Wiesenplan eintritt und statt des verwüsteten Tummelplatzes dämonischer Gnomen den ebenen Tanzboden friedlicher Elfen findet. Dasselbe Gefühl kehrt auch hier wieder, und man kann es noch an vielen andern Stellen erleben.

Das Wirthshaus zu Vent ist eine sehr ärmliche Anstalt und kann vielleicht auch nicht viel besser seyn. Frisches Fleisch kommt nur bei feierlichen Gelegenheiten vor, sonst hält man zum Bedarf der Fremden geräuchertes Kuhfleisch, mager, dürr und ranzig, eine höchst unleckere Nahrung. Das Brod wird alle vierzehn Tage vom äußern Thale hereingeholt und ist also dreizehn Tage altbacken. Der Wein – in jedem Betracht das beste was zu haben – kommt im Winter auf Schlitten über Zwieselstein herein, und dazu muß als Bahn, wenn der Pfad ausgeht, auch der gefrorene Bach behülflich seyn. Die Betten waren nicht lang genug für uns, was anzudeuten scheint daß die Reisenden der Mehrzahl nach kürzer sind als wir.

Den Abend füllten wichtige Gespräche über die Fernerfahrt die wir vorhatten. Einige Bauern gaben darüber ihre Gutachten ab, die aber sehr weit auseinanderwichen. Die einen erklärten den Gang für höchst bedenklich, die andern für ein Kinderspiel, vorausgesetzt daß gut Wetter sey. Der Wirth nannte Nicodemum von Rofen als den besten Mann für Gletscherreisen. [230] Dieser würde morgen früh erscheinen um, als am Sonntag, in die Kirche zu gehen, und der würde uns führen wohin wir wollten. Unter großen Hoffnungen schlüpften wir zuletzt in die kleinen Betten und verfielen in sanften Schlaf.

Am andern Morgen, es war der des 6 August 1842, erschien Nicodemus von Rofen und erklärte sich, wie voraus gesagt war, ohne Umschweife bereit uns übers Niederjoch nach Schnals zu führen, vorher aber gedenke er noch zur Sonntagsandacht ins Amt zu gehen, welches sammt Predigt bis zehn Uhr dauern sollte. Zu gleicher Zeit lud uns auch der Wirth ein mit ihm in die Kirche zu wallen, da das Haus geschlossen werde. So gingen wir bescheiden und mit niedergeschlagenen Augen auf die Kirche zu. An der Pforte bemerkte uns sofort der Gastfreund, hier sollten wir stehen bleiben, denn die Plätze im Innern seyen alle ausgetheilt und für uns keine Unterkunft. Blieben also einige Zeit an der Thüre stehen, bis die männliche Alpenjugend immer dichter herandrängte und mit breiten Ellenbogen auch den Raum auf der Schwelle besetzte. Unter dieser Bedrängniß mußten wir wider Willen ins Freie treten. Mittlerweile fing es zu tröpfeln an und wir verehrten unsern Gott in leisem Regen, waren etwas trübselig und mischten in unser Gebet hie und da ironische Betrachtungen über die sieben Seligkeiten der Bergreisen. Dieß dauerte eine gute Weile. Endlich kam der Wirth mit den Schlüsseln und wir trachteten fröhlich der Herberge zu und versprachen uns, da vorderhand keine Hoffnung zum Aufbruch war, viele Belehrung von den Gesprächen die wir mit den Betern führen wollten, wenn sie nach dem Gottesdienste durstig ins Wirthshaus kommen würden, nahmen auch zu diesem Zwecke schon vorhinein einen guten Platz. Alsbald wälzten sich die Venter und ihre Nachbarn in dickem Haufen zur Stubenthüre herein, besetzten alle Bänke und Stühle die noch frei waren, und etliche welche nicht mehr unterkommen konnten, blickten von der Schwelle begehrlich ins Gemach. Um diese Zeit nahte der Wirth, fragte ob es uns hier nicht zu lärmend sey, und als wir mit einem vernehmlichen Nein geantwortet, drehte er seine Rede und bat uns freundlich, ja sehr freundlich, zu bedenken, daß [231] die Stube gerade für so viel Männer gebohrt sey als in die Kirche gingen, daß da an Sonn- und Feiertagen jeder seinen Platz haben wolle und daß er gar keinen Frieden genießen würde bis auch die andern auf der Schwelle noch zu sitzen kämen. Dabei stellte er uns vor, wie angenehm und ruhig unser Schlafgemach sey, und es wäre ihm sehr lieb wenn wir da hinüber gingen. Ei was? brummte da der eine von uns, wir sind ja hier wie die Parias; erst wollen sie uns nicht in der Kirche leiden, und nun nicht einmal im Wirthshause! Ach! sagte der andere, es sind gute Leute; thun wir ihnen den Gefallen. Nun nahm der Wirth vergnügt unser Trinkzeug und trug’s hinüber, und wir folgten in unser armseligstes aller Schlafgemächer. Stühle waren nicht darinnen, und so legten wir uns in nothwendiger Verkürzung auf die Betten. Leider wußten wir gar nicht was wir anfangen sollten. Lesen, Schreiben, Rechnen schien alles nicht am Platz und an der Zeit. Auch zum Reden fielen uns nur ärgerliche Bemerkungen ein, die wir lieber unterdrückten. Alle Viertelstunden aber ging einer hinunter und traf verabredetermaßen mit Nicodemus von Rofen zusammen um das Wetter zu beurtheilen, denn beim ersten sichern Anzeichen von Besserung sollte es weiter gehen.

Endlich, es war um halb zwölf Uhr und der Regen hatte schon seit einiger Zeit aufgehört, endlich sagte Nicodemus: es hebt, und mahnte zum Aufbruch. Er ließ sich noch eine fette Suppe geben, während wir einige Lebensmittel zu uns steckten und die Rechnung berichtigten. Bei letzterem Geschäfte gewannen wir übrigens die Ueberzeugung daß es in Vent zwar ziemlich schlecht, aber auch ziemlich theuer zu leben sey.

Nun hatte sich Nicodemus gestärkt, griff nach seinem Stabe und wir zogen davon. Allererst ging es eine jähe Anhöhe hinan, von wo wir rechts nach Rofen hineinsahen. Zu Vent läuft nämlich das Thal abermals in eine Gabel aus, deren eine Zinke zum Hochjoch, die andere zum Niederjoch führt. Im grünen Grunde der ersteren liegen die beiden ansehnlichen Rofner Höfe, die letzten Häuser im Oetzthale, nur noch zwei Stunden von dem vielbesprochenen Rofener Wildsee, und Nicodemus, dem der eine davon gehört, deutete mit Stolz auf [232] sein väterliches Erbe. In dieser Wildniß hat nämlich, wie alte ehrwürdige Sagen berichten, Herzog Friedrich mit der leeren Tasche eine Zuflucht gefunden als er geächtet und gebannt heimlich dem Costnitzer Concil entflohen war (1416). Dazumal, als hundert Feinde ihm nachstellten und der eigene Bruder nach der Grafschaft Tirol strebte, lebte Friedel manchen stillen Tag auf dem Rofnerhofe und die Rofnertochter soll sogar ihr Herz an ihn verloren haben. Später, als er wieder zu seinem Lande gekommen war, gedachte er dankbar dieses Asyls und verlieh dem Hofe ausgezeichnete Ehren, Steuerfreiheit nämlich und die Rechte einer Freistätte. Erstere genießt er noch, letztere ging unter Joseph II ein. Auch wurde der Hof zu einem eigenen Burgfrieden erhoben und dem Schloßhauptmann zu Tirol untergeben. Noch zur Zeit aber spricht Nicodemus von seinem Hof nicht anders als ein Ritter von seiner Burg, und es nimmt sich sehr stolz und fürnehm aus, wenn der Bauer etwa anhebt: So lange ich auf Rofen sitze u. s. w. Uebrigens gehörte auch die Gemeinde Vent bis in dieses Jahrhundert herein ins Gericht nach Kastelbell im Vinschgau und ins Bisthum Chur. Jetzt steht sie sammt den Rofner Höfen unter dem Landgerichte zu Silz im Innthale und unter dem Bischofe zu Brixen.

Obengedachter Wildsee im Rofnerthale wurde in letzterer Zeit öfter besprochen; aber schon im Jahre 1773 hat er einem öffentlichen Lehrer an der Universität zu Wien, Namens Joseph Walcher, ein gutes Schriftchen entlockt: „Nachrichten von den Eisbergen in Tirol,“ wohl die ersten, die über diese entlegene Gletscherwelt unter das deutsche Publicum gebracht worden. Damals wo Niemand ohne Schauer an diese winterlichen Einöden dachte und die weißen Fernerketten nur allmählich die Augen neugieriger Naturforscher auf sich zogen, damals mag dieß Büchlein den Leser sehr überrascht haben. Wir lernen daraus unter anderm, daß zu jener Zeit noch manche der Meinung seyn konnten, es hätten die Gletscher in Tirol erst im dreizehnten Jahrhundert ihren Anfang genommen, indem damals mehrere sehr kalte Winter aufeinander gefolgt seyen und sich deßhalb auf den hohen Bergen das Eis dergestalt [233] gehäuft habe, daß die darauffolgende Sonnenhitze nicht mehr vermögend gewesen es gänzlich zu zerschmelzen. Die Bildung des Rofner Eissees wird von Joseph Walcher schon richtig so beschrieben, daß der an der linken Seitenwand des Rofnerthales gelegene Vernagtferner zeitenweise von seiner Höhe, oft aus stundenweiter Entfernung, in den Thaleinschnitt heruntersteige, diesen als quergelegter Eisdamm ausfülle und so den Bach, der aus dem Rofnerferner, dem innersten des Thales kommt und sonst ruhig abfließt, zum See aufstaue. Reißt dann mit zunehmender Sommerwärme der See den Damm durch, so ergeben sich jene verheerenden Ueberschwemmungen die alles flache Uferland, die Oasen von Vent, Sölden, Längenfeld und Umhausen betreffen und nicht die mindeste der Plagen sind, denen der starkmüthige Oetzthaler ausgesetzt ist. Manchmal war die Wasserfluth, die sich da plötzlich löste, so mächtig, daß selbst das Innthal noch davon zu leiden hatte.

Der erste Ansatz dieses Eissees, so weit sichere Nachrichten vorhanden, fällt ins Jahr 1599. Im Jahr darauf brach er verwüstend aus. Darnach lag sein Bett lange Zeit trocken, aber 1677 fing er abermals an sich zu bilden und 1678 und 1680 zerbrach er den Damm mit großem Schaden des Oetzthales zum zweiten- und drittenmale. Als Peter Anich von Perfuß, der geniale Landmann, sein Vaterland Tirol aufnahm, um 1760, war der Seeboden wieder Weideland; er gab durch Punkte den einstigen Umfang des Wassers an und schrieb dazu: gewester (d. h. gewesener) See. Deßwegen spricht auch Friedrich Mercey, der im Jahre 1830 mit der Anich’schen Karte in der Hand Tirol durchpilgerte und das Tagebuch später zu Paris herausgab, in dieser Gegend von dem fameux lac Gewester, ein komisches Mißverständnis, das sich bei Lewald, der hier von einem Gewesteinersee erzählt, fast noch verschlimmert zeigt.

Im Jahre 1771 kam der Vernagtferner wieder an den Bach herab und zwei Jahre darauf erfolgte ein Ausbruch, der aber allmählich und daher mit weniger Zerstörung vorbeiging als die früheren. Seitdem zog der Gletscher vor- und rückwärts, erreichte jedoch die Thaltiefe lange Zeit nicht wieder. [234] Im Jahre 1840 soll er nach Stafflers Angabe zwei Stunden ober dem Bach gestanden seyn. Bald darauf fing er wieder zu wachsen an, und als wir in Vent waren, hörten wir schon, daß der Ferner nicht mehr sehr weit vom Bache entfernt sey. Im vorigen Jahre berichteten die Zeitungen, daß man die Thalsperre sicher voraussehe. Der Gletscher wuchs im August täglich um mehr als drei Wiener Fuß. Endlich am 1 Junius heurigen Jahres schob sich der Eisdamm quer über den Bach und bald war der See wieder da, eine Viertelstunde lang und zwanzig Klafter tief. Von Innsbruck kam der Landesgouverneur mit einer Gefolgschaft sachkundiger Männer nach Vent, um das Mögliche vorzukehren. Am 14 Abends brach das Wasser durch und unter fürchterlichem Drängen und Toben war in einer Stunde der See abgelaufen. In Vent waren alle Brücken, Schneidemühlen und Scheunen am Ufer niedergeworfen, in Sölden die schönen Wiesgründe zerwühlt, viele Häuser beschädigt, Kirche und Pfarrwohnung bedroht. In gleicher Art hatte die wüthende Ache auch Längenfeld ins Mitleid gezogen, und erst bei Umhausen verminderten sich die Spuren der Verwüstung. Der Schaden wurde auf 100,000 Gulden geschätzt. Nicodemus von Rofen hatte als Führer, Rathgeber und kecker Spion in dem gefährlichen Lager des Ferners rühmliche Dienste geleistet. Ganz auf dieselbe Weise hat sich im Jahre 1716 der Gurgelsee im nächst anliegenden Gurglerthale gebildet, zum größten Entsetzen der Einwohner, die in Processionen an den Ferner wallten und den Himmel um Rettung anflehten. Da jedoch seitdem dieser See alle Jahre unschädlich abrinnt und wieder einläuft, so haben sich die Gurgler an diesen Nachbar gewöhnt und hegen zur Zeit keine Besorgnisse mehr.

Nicodemus Klotz von Rofen ist ein Vierziger, eher klein als groß, ledig, ernsthaft, aber doch kein Feind des Scherzes. Er trägt den spitzen Hut, die braune Jacke und die braunen dicken Strümpfe, die Tracht der Oetzthaler, und dabei spricht er ein alterthümelndes, wenig abgeschliffenes Deutsch, von jener scharfkantigen Art, wie es in den innersten Thälern gewöhnlich erklingt. Er rühmt sich der einzige Mann der Gemeinde [235] zu seyn, der die Gebirge und die Gletscher ringsherum alle bestiegen. Er hatte von Jugend auf seine Herzensfreude an den feierlichen Fernern und kletterte vordem mit seiner Büchse allein auf die Hörner, neugierig was da für eine Aussicht, oder nach seinen Worten: für eine „Einsicht zu fassen“ sey. Er ist daher gewiß der verlässigste Führer im Venter Thal, und geht von da aus überall mit, wohin man immer will, über den kleinen Oetzthaler Ferner und das Niederjoch oder über das Hochjoch nach Schnals, an der Wildspitz vorbei ins Pitzthal, über den Gebatschferner ins Kaunserthal oder links hinüber nach Langtaufers und ins obere Vintschgau. Da, auf letzterer Fahrt, beträgt der Gang über das Eis indessen mehrere Stunden, und dieser hatte in seiner Gefährlichkeit selbst den kecken Alpensohn etwas verdutzt gemacht. Vor kurzem waren nämlich Bergsteiger aus Albion da gewesen und hatten ihn aufgenommen sie nach Langtaufers zu führen. Als sie eine gute Weile auf dem Eise fortgegangen, wurde aber der Ferner durch Klüfte, Brüche und Schrunden so unwegsam daß gar kein Mittel mehr schien weiter zu kommen. Nicodemus schlug vor zurückzugehen; die Engländer aber wollten ihre Mühe nicht verloren haben und forderten ihn gebieterisch auf sie weiter zu geleiten. Nun gelangen zwar noch einige Uebergänge, aber an einem breiten und tiefen Gletscherspalt fiel der eine der fremden Reisenden und glischte hinunter, so daß ihn Nicodemus nur noch beim Schopfe zurückziehen konnte. Als er so vom Tode gerettet war, besah er sich von oben bis unten, sagte lachend: das war gut – und nun hatte keiner mehr etwas gegen die Umkehr einzuwenden. Nicodemus aber hatte sich das zur Warnung dienen lassen und wollte Niemand mehr nach Langtaufers führen, ehe denn er einmal wieder nachgesehen, ob sich nicht das Eis gewendet habe und der Ferner neuerdings gangbar sey.

Wir ließen also die Rofnerhöfe rechts liegen und gingen links ins Niederthal ein und darin fort, einen öden, gar nicht kurzweiligen Weg, der oft von Fernerbächen durchschnitten ist, über welche wir nicht immer ungenetzt kamen. Außerdem war aber weder Gefahr noch Unbequemlichkeit, denn der Steig ging [236] ganz mählich an der Halde hin, welche düster und mißfarbig an den Wänden von Glimmerschiefer abbrach, und nur etwa an den Ufern der stürzenden Wässer freundlichern Krautwuchs zeigte. Im Frühjahre ist das Thälchen dagegen sehr blumenreich, und da überzieht die Abhänge vor allem der duftende Speik (Primula glutinosa), die geehrteste aller Alpenblumen. Rückwärts blickend hätten wir jetzt wohl auch die prächtige Wildspitze sehen müssen, die höchste des Oetzthalerstockes, welche 11,912 Wiener Fuß über das Meer emporsteigt, aber auf den Höhen lagen noch trübe Nebel, was wir wegen der gerühmten Schönheit jener Ansicht sehr bedauerten.

So hatten wir eine gute Strecke zurückgelegt als wir zu einem Bildstöckchen kamen, auf dessen Tafel ein sitzendes Weib gemalt ist mit einem neugebornen nackten Kind im Schooß. Die Mutter Gottes schaut aus den Wolken gnädig herab. Der Rofner Bauer erzählte, hier habe sein Oheim vor Jahren in Wind und Wetter ein gebärendes Weib gefunden, und in ihren Todesängsten sie gerettet. Dessen zum Angedenken habe er die Tafel machen lassen. Sie aber, setzte er hinzu, sie war ein Lottermensch von Schnals. Mein Gott! sagte einer von uns, so gibt es also auch hier in diesen keuschen Wildnissen solche Opfer der Verführung, und sie gebären an den Fernern, um ihre Schmach den Augen der Menschen zu verbergen! Aus Sittsamkeit forschte keiner mehr nach nähern Umständen, und so erfuhren wir erst drüben im Vintschgau mit frohem Erstaunen daß ein Lottermensch nichts Unehrlicheres bedeute als ein Bettelweib, wornach sich denn die Beurtheilung des Falles wesentlich berichtigte.

Dann kamen wir auch bald zu einer kleinen schwarzgrauen Hütte, welche ungemein kunstlos aus übereinander gelegten Steinen an die Halde hingebaut war. Die Vorderseite ragte kaum mannshoch über den Boden auf; Fenster hatte sie nicht, aber eine niedere Thüre. Aus dieser trat ein Mann, anzusehen wie Robinson Crusoe, in Thierhäute gehüllt, mit verwirrten Haaren, ungewaschen vielleicht seit Monden. Er zeigte sehr viele Freude daß wir uns zu ihm heraufbemüht, und wir dann auch nicht minder daß wir so angenehmen Eindruck [237] auf ihn machten. Im ersten Augenblicke hatten wir allerdings über ihn gestutzt; indessen war er ein glänzendes Beispiel mehr daß auch unter rauhem Kittel ein edles Herz schlagen könne, denn nicht allein grüßte er sehr herzlich und mit dem heitersten Lachen, sondern bot uns auch gleich eine Schüssel voll Milch an. Dafür ließen wir ihn einen Schluck von unserm Vintschger Branntwein thun, womit er sich mehr als königlich belohnt erklärte. Auch lud er uns ein in sein Haus zu kommen; von uns aber fand es jeder zu mühsam sich so tief zu bücken. Doch warfen wir einen oberschlächtigen Blick hinein, und gewahrten in der Finsterniß etwas wie eine Schlafstelle aus Loden und Heu. Am Thürpfosten bemerkten wir auch ein geschnitztes Heiligenbild angeheftet, und vor diesem, sagte uns der edle Wilde, verrichte er seine Andachten. Nachdem wir in dieser Art von allem Wissenswerthen Notiz genommen, sprach Nicodemus: Bhüt Gott, Schnalser! und wir zogen weiter.

Der wilde Mann war übrigens ein Schafhirt aus Schnals, aus dem Thale das jenseits der Ferner liegt. Solcher Schäfer gibt es mehrere in der Revier. Die Venter verpachten nämlich ihre Weiden an die Leute von enthalb der Berge, und diese schicken ihre Heerden mit den Hirten über die Gletscher und lassen sie hier den Sommer zubringen. Deßwegen ist denn auch, wie wir noch diesen Abend in Erfahrung bringen sollten, der Ferner in Schnals ein viel geläufigeres Thema als in Vent.

Nachdem wir nun zwei Stunden im Niederthal fortgegangen waren, kamen wir endlich an den Murzollferner, der eigentlich der Ausläufer zweier andern ist die sich oben vereinigen und in dieser Spitze zu Thal gehen. Die Ansicht gewährt noch wenig von der Schönheit der Gletscherwelt, denn das Thal ist enge, der Blick bergaufwärts beschränkt, der herabziehende Ferner selbst mit Schutt und Geröll bedeckt, daher schmutzig und rußig so weit man sieht. Außen herum an den untern Kanten hat er mächtige Schuttwälle aufgeworfen. Murzoll war übrigens dieses Jahr vollkommen ausgeabert (spr. ausg’appert), und was er obenauf an Rissen und [238] Schrunden haben mochte, das lag alles klar am Tage. Um diese Zeit, wenn nämlich die Sommersonne den tückischen Schnee aufgezehrt und die Ferner „das Hemd ausgezogen haben,“ so daß sie Gestalt und Wesen ihrer Oberfläche nicht verbergen können – um diese Zeit werden sie am liebsten begangen. Dann lauern wenigstens keine heimlichen Gefahren und es locken nicht jene leichten Schneebrücken, die beim ersten Tritte einbrechen und den Wanderer wie die Fallbretter in den alten Ritterburgen hinuntersenden in die kalte Gruft zur ewigen Ruhe.

Nicodemus führte uns nun auf Murzoll – er gebrauchte die Namen seiner Ferner und Berge ohne Geschlechtswort – und wir gingen einige Zeit auf dem Eise fort, um den Pfad im Geröll, der immer mühseliger wurde, zu vermeiden. Murzoll dagegen zeigte sich zu dieser Zeit recht eben und zusammenhängend; nur hie und da zog sich ein handbreiter Spalt hindurch. Allmählich aber wurde auch Murzoll etwas unwegsam und wir suchten wieder den Fußpfad auf dem festen Lande zu gewinnen, den die Schnalserhirten durch unterlegte Felsblöcke zur bequemen Treppe erhoben hatten. Nachdem wir ungefähr drei Stunden auf dem Wege gewesen, machten wir bei einer zerfallenen Steinhütte Halt, die in den Zeiten ihres Glanzes wohl ein getreues Ebenbild der andern gewesen war, in welcher wir den Schäfer von Schnals gefunden. Hier nahmen wir etwas Brod und Käse ein und stärkten uns mit dem Vintschger, auf kahlem Boden, rings von Gletschern umsäumt, dicht ober unsern Häuptern einen wolkigen verschlossenen Himmel. Letzteres erpreßte uns manchen trüben Seufzer, denn jetzt, wenn je, standen wir an der Pforte alpinischer Erhabenheit. Neben uns auf dem braunen Felsgeschiebe, mitten zwischen ewigem Eis und Schnee war eine kleine Heerde Schafe in der Sommerfrische, die mit ihren Schellen fröhlich klingelten und zutraulich herankamen. Sie bleiben während des Hochsommers hier obdachlos im Freien und suchen bergauf und ab ihr Futter.

Indessen sollte uns doch nicht alle Freude verloren gehen und nicht alle Erwartung getäuscht werden. Die Nebel die [239] sich während unsers Aufsteigens mehr und mehr gesammelt hatten und eine Zeit lang schwer und ruhig auf die Gletscher drückten, hoben jetzt, da etwas Wind hineinzublasen begann, ein lustiges Gejaid[WS 2] an, zogen abwärts, zogen aufwärts, huschten wie Phantome an den Fernern hin, schlangen wilde Reigen, drehten sich wirbelnd durcheinander, und zuweilen entstanden weite Risse, durch welche die Sonnenstrahlen verklärend brachen. Einem solchen Augenblick verdankten wir einmal eine prächtige Aussicht links hinein in einen langen, langen Corridor von weißleuchtenden Fernern, Schalf, Muttmal und Fanat, zwischen denen eine breite silberne Straße glänzend dahinzog, wie eine Avenue zum Palaste des Alpenkönigs oder zu einem Bergschloß der saligen Fräulein.

Von jetzt an wurden wir allmählich des großen Schneefeldes gewahr, das den Niederjochferner deckt. Nachdem wir noch ein paarmale aushülfsweise den Gletscher betreten hatten, weil der Weg zur Seite ungangbar geworden, nachdem wir auch aus derselben Ursache ein paar kleine Schneefelder durchwatet hatten, fanden wir uns auf der Stelle wo der Pfad an den Schrofen hin ganz aufhört und der Gang über den Gletscher eigentlich seinen Anfang nimmt. Hier war zwischen die Steine ein hölzernes Windfähnchen eingeklemmt.

Jetzt geht’s über den Ferner, sagte Nicodemus mit einem feierlichen Ernste, gleichsam als wollte er in seinen Anbefohlenen die Betrachtung erwecken daß sie an einem großen Wagnisse stehen. Die Luft war feucht, aber nicht kalt. Ermüdung oder anderes Ungemach spürten wir nicht. Wir ließen in der kleinen Runde noch einmal die Flasche mit dem Vintschger kreisen, und traten dann den Weg an. Nicodemus hatte zwar Stricke mitgenommen, um uns alle drei nach Vorschrift der Sachverständigen an einander zu binden, aber nach einiger Besprechung hielten wir’s doch nicht vonnöthen, auch nicht als uns der Bauer von Rofen erzählt hatte, wie kurz vorher ein ungebundener reisender Herr in den Gletscher gesunken und wie er dann, nach mühsamer Rettung von ungeheurem Ekel an dem ganzen Wesen erfaßt, Hut und Stock von sich geworfen und in Einem Rennen, als wären ihm alle Ferner des [240] Oetzthales auf der Ferse, über Vent bis nach Heiligkreuz gelaufen sey, um dort noch immer voll Entsetzen und halbtodt vor Ermattung beim Caplan wieder zur Fassung zu kommen. So gingen wir demnach unsern Weg, jeder für sich – der Führer voran, Todtenstille ringsum – kein anderer Laut als das leise Knirschen unsrer Tritte.

Der Gletscher schien uns nicht sehr breit, etwa eine halbe Stunde, vielleicht nicht so viel. Der Weg führte etliche hundert Schritte von den Felsenwänden, die zur Rechten ihre Häupter in den Wolken verbargen, schnurgerade über das weiße Feld hinauf. Die schmutzige Spur von Menschentritten und Viehtrieb zeichnete ihn wenigstens von unten auf gesehen sehr kenntlich. Uns schien alles recht sicher und bequem, zumal da der Gletscher, seiner höhern Lage wegen, nicht ausgeabert und die Klüfte daher alle überschneit waren. Nicodemus mochte gleichwohl hie und da Gefahr wittern, denn etlichemale hielt er an und stieß mit dem Stocke bedenklichen Gesichtes in den Schnee, ohne Grund zu finden. Er pflegte dann den Kopf zu schütteln, ging aber nichtsdestoweniger bald mit einem weiten Schritte vor, uns befehlend in seine Fußstapfen zu treten, was wir denn auch folgsam thaten.

Jetzt war’s ungefähr 3 Uhr, und sehr düster auf dem Ferner – neben und über uns, vor und hinter uns dichte stockende Nebel. Nun begann aber auf einmal zur Linken das Jagen wieder. Das zog und zerrte, huschte und flog, und plötzlich riß es auseinander und aus dem bewegten Wolkenreigen stieg ein ungeheures Horn, schrecklich geschartet an den Wänden, von tiefbrauner, feuchtglänzender Farbe, und um das braune Haupt legte sich wie ein Heiligenschein eine Scheibe hellblauen Himmels, die auch mit einemmale sichtbar geworden. Nicodemus blieb stehen, drehte sich überrascht um und sagte leise: das ist Similaun – und so leise flüsterte er’s, als wenn er fürchtete durch lautes Wort das Ungethüm zu reizen. Wir aber hatten eine innige Freude über den titanischen Klotz, und diese wuchs noch immer als auch die letzten Schleier an den Flanken des Hornes verflogen, und dieses in seinem schimmernden Braun mit unbeschreiblicher Pracht vom [241] weißen Ferner sich abhob und in den blauen Himmel ragte. Das ist Similaun – wiederholten wir, um den Namen ja nicht zu vergessen – und schauten vorwärts schreitend immer wieder auf dieß stolze, stumme, trotzende Haupt mit dem niegesehenen Ausdruck von Größe und Wildheit.

Similaun, so schroff er scheint, ist dennoch schon etlichemale bestiegen worden. Er reizt dazu um so mehr als er nach der Wildspitze der höchste Grat ist im Oetzthaler Fernerstock und zwölfthalbtausend Fuß mißt. Der erste der seinen Scheitel betrat, war der Priester Thomas Kaaserer von U. L. Frau in Schnals. Es geschah im Jahre 1834. Ihm folgte der Landarzt von Algund bei Meran, Franz Rodi, der das Wagniß am 27 August 1839, aber bei sehr ungünstigem Wetter vollführte. Am 22 Junius 1840 bestieg der Nämliche die Spitze zum zweitenmale, willig gefördert und geleitet von den Schnalsern, die unten im Thale auch Böller aufstellten, und die kühnen Steiger, als sie den Gipfel erreicht hatten, mit Freudenschüssen begrüßten. Der Himmel war dießmal rein. Die Aussicht wird als unermeßlich geschildert; sie soll hinausgehen bis ins deutsche Reich und man will selbst bayerische Städte gesehen haben. Gegen Morgen zeigt sich der Großglockner, gegen Abend der Ortles und die Schweizergletscher, ja die kecken Männer behaupteten sogar der Montblanc sey ihnen erschienen. Die wimmelnden Eishäupter und Schneeköpfe in der Nähe sind gar nicht zu zählen. Uebrigens sieht man so weit oben oft viel mehr als man nachher den Leuten unten glaubbar machen kann.

So waren wir nahezu ans Ende des Ferners gekommen. Der Himmel hatte sich jetzt ganz aufgethan, die Sonne schien fast warm, und überhaupt glaubten wir zu merken daß sie in den Thälern den schönsten Tag gehabt, während wir da oben in und über den Wolken gegangen waren. Nunmehr öffnete sich auch das Land gegen Süden; nahe prächtige Ferner die sich gegen Schnals hinunterlagern, und hohe Gebirgsstöcke traten auf, lange zackige blaue Kämme, die weit und breit hinzogen nach Welschland oder zum Ortles, und unten wie in Meerestiefe lachte auch schon zu erquickender Herzensstärkung das grüne [242] Thal von Schnals. Da standen wir und schauten bald auf Similaun, den schauerlichen, so hoch über uns, bald auf das stille Paradies in der Niederung so tief unter uns, und wollten nun rasch über den letzten Auslauf des Gletschers weg. Ehe dieß aber vollbracht, hatten wir noch eine neckische Fährlichkeit zu bestehen.

Der Weg zum Ziele führt nämlich hier rechts an den zerklüfteten Wänden hin, und zwar noch immer auf dem Ferner, der da in mäßiger Breite schief abwärts hängt, bald aber ganz senkrecht in einem thurmhohen spitzen Zipfel, gleich einem gefrorenen Wasserfall, zwischen tausendzackigem Gestein ins Thal hinunter geht. Die letzte kurze Strecke, ehe wir auf festen Boden kamen, war die bedenklichste – rechts die Felsenwand, links der gefrorne Wasserfall, in der Mitte durch auf schiefem Eise der schlüpfrige Pfad. Der eine von uns legte sich nieder, um sich mittelst der Hände über die verdächtige Stelle zu schieben; der andere wollte aufrecht darüber steigen. Leider geriethen ihm nur wenige Schritte – jählings glitschte er aus, fiel zu Boden, kam ins Rutschen, packte in der Zerstreuung den andern Liegenden an einem Fuße, dieser als einer der auf der glatten Fläche keinen Halt hatte, mußte folgen und so glitten wir aneinander gekettet, der eine voraus, der andere hintennach, pfeilschnell dem Wasserfalle zu, über den wir wie zwei geflötzte Holzblöcke hinabgeschossen wären, um unten an den Felsen zu zerschellen, wenn nicht der Hinterpart trotz aller Eile den kleinen Runst eines Eisbächleins entdeckt hätte, das in derselben Richtung floß welche wir eingeschlagen hatten. In diesen stemmte er nun schleunigst seinen Vorderarm, und da das Rinnsal gewunden war, so gab es bald eine Hemmung, und der todesmuthige Convoi blieb so noch zur rechten Zeit lebensfroh auf dem Eise hängen. Nicodemus, der sorglos vorausgegangen war, weil ihm in seiner Geübtheit die offene glatte Bahn viel weniger Bedenken gemacht, als die überschneiten Fernerklüfte, Nicodemus hatte unterdessen seine Augen am grünen Thal von Schnals geweidet, kam aber jetzt auf unser Rufen herbei und führte einen nach dem andern ans Land, nicht ohne Mühe, denn da unten [243] wo wir hielten, war’s noch um ein Gutes schlüpfriger als oben wo wir abgefahren.

Die Stelle scheint überhaupt eine von denen zu seyn, wo einem gern etwas begegnet. Zwei unserer Vorgänger, Dr. Stotter u. Ludwig von Heufler, die trefflichen Botaniker von Innsbruck, die am 18 Sept. 1839 über den Ferner gingen, wissen auch etwas davon zu erzählen. Es kam ihnen nämlich auf dem schmalen gefährlichen Wege ein Trieb von mehreren hundert Schafen entgegen, und um die furchtsamen Thiere nicht zu verscheuchen, mußten sie sich an die überhängenden Wände seitwärts vom Wege anklammern und geduldig warten bis sie alle vorübergezogen waren, was fast eine Stunde dauerte. Diese Lage konnte für solche Dauer unmöglich befriedigen, und die meisten geben wohl unserm Abenteuer den Vorzug, da es mit angenehmer Bewegung auch den Vortheil der Zeitersparniß verband.

Jetzt standen wir also auf festem Felsenboden und blickten mit noch einmal so viel Vergnügen in die freundliche grüne Tiefe. Dabei sahen wir auch auf die Uhr und brachten heraus daß wir gerade 37 Minuten auf dem Ferner gewesen waren. Im Ganzen hatten wir von Vent bis daher nicht volle fünf Stunden gebraucht und Nicodemus fand darin Grund genug, uns manches Schöne über unsern rüstigen Schritt zu sagen. Hier ließen wir auch den werthen Führer ziehen, der im Sinne hatte noch nach Rofen zurückzugehen. Wir boten ihm, da im voraus nichts bestimmt worden war, sechs Zwanziger als Führerlohn, und er meinte für das bissel Weg sey das übrig Geld genug. Auch legte er seine Zufriedenheit in einer sehr kräftigen Danksagung an den Tag, und gewiß war es ebenfalls nur zur Verlautbarung seiner stillen Freude, daß er uns, allerdings in ganz ungefährlicher Richtung, von oben herab noch etliche große Steine nachwälzte, um die Wirkung bewundern zu lassen, wie sie über das Geröll krachend in den Abgrund sprangen. Wir befanden uns mittlerweile auf einem steilen Felssteig, der mit rothbraunen Blöcken verfriedet ist, und wendeltreppenartig an dem Geschröfe abwärts zieht. Hier setzten wir unsre Bergstöcke ein und halfen uns in raschem Schusse zu [244] Thale, kamen zuerst, nachdem wir uns von der Schrofenwand losgelöst, auf magere Wiesen, die über und über mit kleinen und großen Felstrümmern, den Zeichen ungeheurer Steinmuhren beschüttet waren, und so mehr und mehr aus der Region des Schreckens in die des Grünen, zu Zirbelnüssen und Lärchenbäumen, zu Hütten und Häusern, zu Kornfeldern und in die liebliche Au von Unsrer lieben Frau zu Schnals. Ehe wir aber so weit waren, drehten wir uns noch einmal um und besahen den riesenhaften Vorhang von Eis, der aus dem Ferner herunterhängt, und so leicht hätte unsers Lebens Ziel werden können. Dann betrachteten wir auch die Felsenwand an der wir herabgeklettert, und fanden es fast wunderlich daß wir nun gar keine Spur des Steiges mehr entdeckten, der uns ins Thal geführt. All die Aussicht über die Berge des südlichen Landes hatte sich jetzt wieder verloren. Zur linken Hand zog sich die Schnalser Landschaft in eine enge Schlucht zusammen. Auf den Höhen saßen schöne Gletscher, deren klaffende Risse blau hernieder schienen. Da drinnen, zu hinterst in dem schmalen Gelände ist der Fineilhof zu suchen, berühmt in der Sage wie der Rofnerhof, weil Herzog Friedrich, als er diesen verlassen hatte und eine neue Zufluchtstätte suchend über den Ferner gegangen war, beim dortigen Bauern eine Weile unerkannt lebte und dann den Hof auf immer „von gemeiner Obrigkeit freite.“ Die Sage läßt den Fürsten hier die Schafe hüten und auch auf dieser Seite des Ferners mit einer schönen Hirtin eine Idylle spielen, was diesseits wie jenseits seine Richtigkeit haben mag, da er ein sehr wohlgebildeter Herr war. Auf einem nahen Hofe soll damals ein Bauer, Namens Forcher, Vorherr gesessen seyn, der den Flüchtling über die Ferner geführt und dafür einen Wappenbrief erhalten habe, und es ist eine durch Freiherrn von Hormayr wieder neuerdings angeregte Thatsache, daß der königlich bayerische Baurath Vorherr in München von diesem Beschützer Herzog Friedrichs abstammt.

Wir aber glaubten wärmere Lüfte zu fühlen, das tiefe Thal schien uns grüner, lachender als was wir bisher gesehen, und so sagten wir uns, wir seyen jetzt, wenn auch noch [245] mitten im Hochgebirge, doch schon jenseits der großen Wasserscheide und eigentlich unter hesperischem Himmel. Stattliche Männer mit großrandigen spitzen Hüten und grünausgeschlagenen braunen Jacken kamen des Weges, riefen uns mit lautem Gruße an, fragten neugierig ob wir übers Joch gegangen, und freuten sich unsrer That die sie, als von landfremden Leuten vollbracht, des höchsten Lobes würdig fanden. Darüber fast etwas aufgebläht, traten wir mit stolzen Schritten ins Wirthshaus, wo zum einnehmenden Gegensatze mit der finstern Venter Herberge an den hellen Fenstern und um den großen runden Tisch sieben oder acht kräftige Zecher saßen, die bei unserm Erscheinen alle aufstanden und uns mit rüstigen Grüßen empfingen. Auch sie sagten uns nur Ehrenvolles über unser Wagstück, und erzählten dieß und jenes von verschiedenen Fernerfahrten. Ueberhaupt wird den Schnalsern nachgeredet daß sie, frisch und aufgeweckt wie ihre Art, auch sehr ehrgeizig seyen, und etwas Großes darein setzen daß so viele fremde Herren ihre Gebirge in Augenschein nehmen. Es läßt sich noch zu ihrem Ruhme beifügen daß dieß Hochgefühl kein unthätiges ist, vielmehr ist bekannt daß sie schon oft, wenn Similaun oder ein anderes Joch bestiegen werden sollte, nicht allein unentgeltlich als Führer mitgezogen, sondern mit manchem Aufwand von Zeit und Mühe durch Aussuchung und Vorbereitung der thunlichsten Gletscherwege und Wildsteige zu solchen Zwecken behülflich gewesen sind. Auch Franz Rodi preist Joseph Rafeiners und Joseph Weitthalers, seiner Führer, Uneigennützigkeit und erzählt, daß dieselben keinerlei Entgelt für ihre Mühsal angenommen, sondern sich mit der Ehre begnügt haben. Die ernsten Venter stehen ziemlich scheu zu ihren Fernern und wollen nicht viel davon wissen; die frohsinnigen Schnalser aber nehmen die ganze Revier fast wie ihr angestammtes Reich in Anspruch, um so mehr als ihre Schafe bis gegen Vent hinab auf die Weide gehen, und sie sprechen von ihren Eiswildnissen und ihrem Similaun wie regierende Alpenkönige von ihren unterthänigen Ländern. Es ist ein großer schöner Schlag von Menschen, dem diese hochfahrenden Reden sehr wohl anstehen.

[246] Das Wirthshaus zu Unserer Lieben Frau – das untere nämlich, denn es sind deren zwei – hat unsre Erwartung weit übertroffen. Seppele, der Wirth, ist ein einundzwanzigjähriger Knabe, groß und schön mit langen krausen Haaren von dunkler Farbe, ein Musterbild von einem Schnalser, und seine etwas jüngere Schwester steht als Schnalserin eben so preiswürdig da. Beide waren überaus freundlich und dienstbeflissen und halfen zusammen um uns das Daseyn angenehm zu machen. Seppele setzte uns das Beste auf was er hatte, nämlich frischen Braten vom Fleisch des Gstrauns, worunter aber der Leser nicht etwa ein fremdartiges Thier der Alpenwelt, sondern lediglich einen Hammel verstehen wolle, der in Tirol allgemein mit diesem aus dem italienischen Castrone verstümmelten Namen belegt wird. Ueberdieß hatten wir einige andere Zuspeisen und vortrefflichen Wein. Wir betrachteten uns diesen Abend schlechtweg als eine paar rare Leute, dieweil wir, was zwar auch vielen andern vergönnt, aber doch noch ungleich mehreren versagt ist, einen Gang über die Oetzthaler Ferner gemacht hatten, freuten uns immer wieder von neuem über das schöne Gelingen, wiederholten uns alle die vorübergegangenen Ereignisse des Tages, die stille Sonntagsandacht im Regen, als uns die Venter zum Gotteshause hinausgeellenbognet hatten, den trüben Abschied vom Wirth, die Votivtafel mit dem Lottermensch, die biedere Manier Nicodemus des Rofners, den Gang durch die Wüste der Gletscher, das ragende Horn Similaun, die unterbrochene Fahrt nach dem gefrorenen Wasserfalle, die jähen Sprünge von dem Ferner herab und die hallenden Grüße der Männer von Schnals, als wir in ihr Thal traten. Daran hatten wir viel zu reden und lange Zeit redeten auch die starken Schnalser drein, und als diese am späten Abend fortgingen, blieben wir noch erinnerungsvoll über dem Glase sitzen, und dabei strömten uns, wie wir meinten, immer noch bessere Gedanken zu und frischere Ansichten von dem Reisen in der Welt. Und den der sich einmal in solcher Lage befunden, in einem gastlichen Hause, am Fuße der Ferner, auf denen er den Tag zugebracht, einen solchen, sag’ ich, wird’s nicht grämlich machen, [247] wenn er hört daß wir an diesem Abende sehr viel Wein und sehr wenig Wasser getrunken haben, und erst nach Mitternacht zu Bette gegangen sind.

Am andern Tage bereitete uns Seppele’s Schwester noch ein vortreffliches Frühstück und der Bruder machte uns dazu die Rechnung, welche nicht ganz einen Gulden betrug für die Person, daher auch eine der billigsten war, die wir im Gebirge bezahlt, obgleich nicht zu vergessen ist, daß hier das Seidel Wein nur mehr vier Kreuzer kostet, während es in Vent auf acht oder neun zu stehen kommt. „Wünsch’ wohl auf zu leben,“ sagte uns Seppele zum Abgang, und dieser Abschiedsgruß bleibt von jetzt an der übliche bis man wieder auf den Brenner kommt.

Unsere Liebe Frau von Schnals liegt also in einem grünen kesselartigen Hochthale und ist ein Dorf das zumeist aus zerstreuten Höfen besteht, welche in weitem Kreise die Kirche umlagern, die ehedem ein besuchter Wallfahrtsort war. Jedoch ist nur die Gegend um das Dorf so offen und mild, denn alsbald schließt sich das Thal wieder und nackte morsche Wände, an denen der Pfad nur mit Mühe sich hält, engen den Bach ein. Der Weg geht in der Höhe immer am Abgrunde hin, lange Zeit mit keiner andern Aussicht als auf öde, kahle Schrofen.

Hoch an dem Tobel fortziehend gelangten wir zur Carthause von Schnals, auch Allerengelsberg genannt, welche König Heinrich von Böhmen im Jahre 1326 stiftete. Der Prior der Carthauser war Hofcaplan der Grafen von Tirol und hatte Sitz und Stimme auf der Prälatenbank der tirolischen Landtage. Er lebte mit seinen Brüdern in allerdings sehr ascetischer Gegend von schmackhaften Fischen und gutem Weine. Aus dem See zu Haid ob Mals, der dem Kloster angehörig, zappelten die edelsten Flossenträger im Küchenbrunnen zu Schnals. Kaiser Joseph hob die Carthause auf und seitdem ist die königlich böhmische Stiftung in bösen Abfall gerathen. Die Zellen der frommen Mönche sind jetzt armen Leuten zur Wohnung hingegeben. Auf den alten Mauern wachsen junge Gräser.

[248] Nach diesem blickten wir links ins grüne wilde Pfossenthal[WS 3] hinein, aus welchem jene herauskommen, welche bei Zwieselstein im Oetzthale auf Gurgel gehen und über den großen Ferner steigen. Dann sahen wir jenseits des Baches St. Katharina, eine kleine Kirche auf schauerlich schroffer Höhe. Während dessen schlängelte sich der Weg diesseits immer an kahlen Sandwänden hin und tief in der Schlucht rauschte der Bach. Nur selten stehen einsame Häuschen da oder dort in der Aussicht. Nach und nach aber erscheinen die grünen Rebengelände, die sich vom Vintschgau augenlabend hereinziehen und den Hof zu Ladurn bekränzen, der bemerkenswerth und ausgezeichnet ist, weil davon das Geschlecht der Ladurner stammt, das sich clanartig, wohl mehrere hundert Köpfe stark über Vintschgau, Etschland und ganz Tirol verbreitet und damit nicht zufrieden sogar einen Absenker nach Petersburg getrieben hat, welcher dort Schlachten malt. Zu gleicher Zeit beginnen die Berge jenseits der Etsch in die Schlucht hereinzublicken und die Burg Jufal erscheint stolz und groß auf hoher Warte, einst der Eppaner, dann der Matscher Eigenthum, von Markgraf Ludwig von Brandenburg dem Herrn Erhard von Halben vergeben, im sechzehnten Jahrhundert bei Hans Schwicker Sinkmoser, dem Kellner zu Tirol, seit 1815 einem Bauern verkauft und dem gänzlichen Verfall entgegensehend. Unten wird die Schlucht enger und finstrer, oben hebt sich der Weg unter riesigen Kastanien und schattigen Linden immer mehr in die Höhe, je näher des Thales Ende rückt, und nahe an den Pforten des Schlosses hat er die höchste Stelle erreicht. Von da aber sieht man wieder einmal hinunter in ein Hauptthal, ins Land, das die Etsch durchströmt, ins schöne Vintschgau. Die gelben, verbrannten Berge der Sonnenseite standen den mächtigen Jöchern enthalb des Stromes zu großartigem Widerspiel entgegen; jene eine heiße, steil aufsteigende Sahara, diese voll Gras und Laub und Schatten, voll Wiesen und Wälder bis hinauf an die beschneiten Zinnen. Da sah man hinüber bis an die Suldnerferner und ich glaube sogar bis an den Ortles,

whose head in wintry grandeur towers
and whitens with eternal sleet, [249]

while summer in a vale of flowers
is sleeping rosy at his feet.

Es ist dieß zwar vom heiligen Libanon in Syrien gesagt, aber es gilt auch hier von den weißen, ewigen Fernern, die in winterlicher Größe sich aufthürmen, während der Sommer im Vintschgau unten rosig zu ihren Füßen schläft. Und jetzt schlief er auch wirklich am heißen Sommermittage in südlicher Siesta und athmete nur leise durch die Rebenlauben, und während die Gletscher klar und unumwölkt am blauen Himmel ihre schneeigen Glieder zeichneten, lag ein weicher blauer Duft über dem Thale, aus welchem weithin die Schlösser und die Dörfer, die Weingelände, die Kornfelder und die Kastanienbäume dämmernd sich erhoben. Mitten drinnen strömte in schönem Zuge die Etsch und daneben schlenderte wie ein gelber Faden zwischen Büschen und Bäumen die Heerstraße daher. Auf dieser entdeckten wir weit draußen ein eiliges schwarzes Pünktchen, in dem wir allmählig den Stellwagen erkannten. Um mit ihm zusammenzutreffen, mußten wir gleichwohl auf die Schau der schönen Malereien verzichten, mit welchen Hans Schwicker Sinkmoser, der Kellner zu Tirol, die Burg hatte schmücken lassen, und so stiegen wir rasch die hohe, steile, rebenbekränzte Halde hinab, und nachdem wir, von schwerer Hitze bedrückt, das Dorf Staben, welches unten an der Etsch liegt, erreicht hatten, rollte auch zu gleicher Zeit der Stellwagen daher, der uns in seinen weiten Kasten aufnahm und in drei Stunden nach Meran brachte.

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Veröffentlicht von josefauer.com

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