Drei Sommer in Tirol – Das Ötztal

von Ludwig Steub

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Wir gehen also von der Straße ab und gegen Roppen zu, das auf der andern Seite des Stromes liegt. Rechts steigen da bewaldete Berge auf, links steht der Tschirgant, der nunmehr, nachdem man um seine Vorderseite herumgekommen, aus einer Pyramide ein langer Bergkamm geworden, und sich am Inn hinunter langsam verläuft. Er ist öde und wild zerrissen; nackte Felsenwände wechseln mit gelben Erdfällen, die ihre Striemen von dem Joche herab bis an die Straße gezogen haben. Desto lieblicher und freundlicher hebt sich der Eingang des Oetzthales hervor – da ist alles schön bebaut, mit Hanf, Flachs, Mais und anderm Getreide, Obstbäume sind reichlich verstreut und die Dörfer Au und Sautens, die sich einander gegenüber liegen, das eine auf der Berghöhe, über welche dunkler Wald von Lärchen und Fichten hinzieht, das andere in hügeliger Niederung, zeigen manches zierliche Haus. Letzteres erfreut sich auch einer hübschen Kirche, einer der schönsten Dorfkirchen im Lande. Oetz ist ebenfalls ein stattliches Gemeinwesen und zu seinem stolzen Aussehen trägt nicht wenig bei St. Jörgens Kirche mit ihrem gothischen Thurme, die auf ragendem Felsen senkrecht über dem Dorfe prangt. Auch hier trefflicher Anbau und reicher Wachsthum, selbst von heikeln Früchten, denen die Lüfte von Oetz, die von rauhen Nordwinden durch die Lage der Berge geschützt sind, besser bekommen sollen, als irgend andre im Innthale. Deßwegen behaupten auch Manche, dieses Dorf habe das mildeste Klima in ganz Nordtirol.

Ja, was ist denn das! gar nicht einkehren heute! rief am letzten Wirthshause von Oetz mit milder Stimme die Kellnerin, die auf den Stufenplatz vor der Pforte getreten war, und lächelte so freundlich dazu, daß wir – zwei Fußgänger nämlich – obwohl nach Umhausen trachtend, doch gerne anhielten, um uns wenigstens zu entschuldigen. Sie, die pflichtgetreue Schenkin, ließ aber keine Ausrede gelten und zog uns mit sanfter Gewalt in die Zechstube. Dort setzten wir uns zu [213] einer Halben, und plauderten mit dem Mädchen, während sich draußen ein Gewitter erhob und in gräulichen Regengüssen herniederfuhr. Als dieß vorübergezogen, war’s zu spät geworden um noch weiter zu gehen, und so blieben wir in Oetz, wo wir denn auch in allen Züchten „ausgezeichnet zufrieden“ waren, „besonders mit dem schönen Maidele.“

Gleich hinter diesem Dorfe geben sich schon einzelne Züge des Oetzthales zu erkennen, der großartigen, manchmal wilden und schauerlichen, manchmal friedlichen und idyllischen, nie reizlosen, cascadenreichen, schrofenstarren Landschaft, die sich eine lange Gasse an dem Bache hinaufzieht, bis wo dieser an den Fernern entspringt. Es ist bekanntlich unter den Nebenthälern Nordtirols das berühmteste wegen seiner Schönheiten. Die beständig abwechselnden Engen und Weiten, die Schluchten, die sich in breite Dorffluren öffnen und grüne Wiesenbreiten, die sich in die Klamm verlieren, die unzähligen Wasserfälle und die ragenden Bergwände sind die Reize des äußern Thales, Gletscher und Alpenwildnisse die des innern. Auch für die Botaniker hat es bekanntlich vieles voraus, und manche Gewächse, die in den südlichen Gegenden des Landes heimisch sind, kommen diesseits der Ferner nur im Oetzthale vor, während zugleich auch die Flora der Voralpen und der Hochgebirge bis zum Fahrwege herunter reicht.*)[1]

Oberhalb Oetz also – es war ein kühler Augustmorgen, die Luft feucht, voll jagender Frühnebel und in der Gegend knallte es lebhaft zur Feier einer Kirchweihe – oberhalb Oetz rücken die Thalwände zusammen und bilden das G’steig. Der Bach stürzt in rauschenden Fällen über Felsen und Trümmer durch die Schlucht und der Weg geht daneben hinauf durch den Lärchenwald. Aus diesem herauskommend, ersieht man das Dorf Dumpen, wo eine Brücke über die Oetz geht mit der Aussicht auf schöne Wasserfälle, die rechts und [214] links von der Höhe rauschen. Hier wird auch das Thal wieder breiter und gibt Raum für Getreidfeld und Wiesen.

Bei Dumpen gerade neben dem Wege steigt über tausend Fuß die Engelswand empor, ein schwindelnd hoher senkrecht abgeschroffter breiter Felsenstock, auf dessen oberstem Plane etliche schwer zu begehende Höfe liegen. Engelswand soll das Riff deßwegen heißen, weil einst ein spielendes Kind durch einen Jochgeyer von der Au im Thale hinweg auf diesen Grat getragen, von einem Engel aber dem Jochgeyer entrissen und der entzückten Mutter, einer Gräfin von Hirschberg, in die Arme gelegt worden. Die Geschichte ist zuerst 1825 durch Eduard von Badenfeld in einfachster Gestalt ans Licht gekommen, hat aber unter verschiedenen spätern Händen schon manche Ausschmückung erhalten und wird wahrscheinlich zuletzt eine lange Novelle werden. Uebrigens glauben die bäurischen Skeptiker im Oetzthale nicht mehr an diese Sage, sondern behaupten, die Engelswand habe ihren Namen von einem gewissen Angelus, der ein Bauer gewesen und auf der Höhe seinen Hof gehabt.

Die Oetzthaler feierten übrigens an diesem Tage, am 5 August, das abgewürdigte Fest Mariä Schnee durch Kirchenbesuch in der Frühe. Die Kirchengänger begegneten uns in zahlreichen Haufen, was ein günstiger Umstand war für Besichtigung der Thaltracht. Die Männer nicht schlank, aber gedrungenen Baues, tragen spitze Hüte, dunkle, an der Brust mit Seide ausgenähte Jacken und braune Strümpfe, sehen prunklos, aber zierlich aus. Die Weiber, und zumal die alten, haben manches Auffallende. Die spitze Haube, in Tirol Schwazerhaube genannt, ist dasselbe was im Vorarlberg Kappe heißt, nur in jedem Thale der Zeichnung nach diakritisch festgestellt; die Taille ist lang und durch ein steifes Mieder gehalten, aus welchem kurze, bauschige Aermel hervorstechen, die den obern Arm bedecken, während der untere in schwarzen Handstutzen steckt. Der Rock ist kurz aber mächtig, zumal auf der Rückseite weit über das Mieder vorspringend. Die Waden endlich, was für das Wahrzeichen der Thalweiber gilt, stecken vom Knie bis an die Knöchel in den Höslen, worunter [215] man eine Art von Strümpfen versteht, die aus langen Wolllappen hergestellt werden. Diese langen Binden werden nämlich so lange sie sind und je länger desto besser um die Wade gewickelt und machen so bei den Stutzerinnen, unter die jedoch nur mehr alte Weiber zu zählen sind, einen dicken, geschwollenen Kreis um das Glied – ungefähr von dem Umfange eines mäßigen Butternapfs. Es ist dieß dieselbe Strumpfart, die allenthalben in den deutschen Alpen von Tirol und ebensowohl in den bayerischen Vorbergen, bald bei Männern und Weibern, bald nur bei diesen oder bei jenen zu finden ist, dieselbe, die Albert Schott auch bei den Frauen in den deutschen Gemeinden jenseits des Monte Rosa entdeckt hat und die dort denselben Namen Hosen (hoso) führt, der auch im bayerischen Gebirge zusammengesetzt als Beinhöslen gang und gäbe ist. Das was uns an dem Alpler als Hose erscheint, heißt er ziemlich überall das Gesäß (Gsäß).

Wir nähern uns Umhausen, das mit ragendem Spitzthurm in schöner freier Flur liegt. Die volkreiche Gegend zieht viel Nutzen aus den fruchtbaren Flachsfeldern, deren Erträgniß in guten Jahren auf fünfzehnhundert Centner steigt. Zu diesem Segen hat sie aber auch die Schrecken der Bergfälle, die von Zeit zu Zeit verwüstend herunterbrechen, geduldig hinzunehmen. Hier in der Nähe ist jener berühmte Wasserfall des Hairlachbaches, einer von den besuchtesten, da er nicht weit von der Landstraße entlegen und die Fremden ihm bis auf eine halbe Stunde entgegenfahren können. Die weißen Staubwolken, wie sie links aus dem Bergwald aufsteigen, lassen sich schon vom Dorfe aus sehr deutlich gewahren; doch sind bis an den Fuß des Falles noch immer dreiviertel Stunden zu gehen. Der Pfad zieht links über die Wiesen hin, dem Bache entlang, an welchem die Umhauser ihre bequemen Dreschmühlen haben, etliche Hämmer, die vom Rade gehoben auf die unterlegten Garben fallen, dann in einen lichten Wald und zuletzt in die Schlucht selbst, wo er alsbald durch Trümmer und Schutt ziemlich rauh und steil wird. Der Donner des Sturzes kommt immer näher, der blendend weiße Qualm bricht immer deutlicher durch das Gehölz und endlich stehen wir ihm selbst gegenüber. [216] Da kömmt er oben aus einem Felsenthor im dünnen Fichtenwald hervor und stürzt wie fließendes Silber über den ersten Absatz der kahlen Bergseite, und weil er da an einer Klippe anprallt, so wirft er sich, in seinem Zorne scheinbar ums Doppelte mächtiger geworden, in ungeheuerm Schwunge weit über die untere Wand heraus und fällt welterschütternd in die Tiefe. Unten und oben geht rauchend der Schaum auf in dem sich wechselnde Regenbogen bilden, damals besonders reich und glanzvoll, weil die heiterste Sommersonne in den Gischt schien. Wem’s zu wild und tobend wird, der mag sich dabei Trost holen in der friedlichen Aussicht, die an derselben Stelle in das Thal hinaus und auf die Wiesen von Umhausen führt.

Der Bach aber, der in seinem fünfthalbhundert Fuß hohen Sturze die Wanderer herbeizieht, erquickt sie auch mit seinen Forellen, und im Wirthshause zu Umhausen, bei Herrn Marberger, hat seit vielen Jahren jeder einkehrende Fremde seinen Teller voll zu sich genommen. Dort ist auch ein reichhaltiges Fremdenbuch mit vielem wässerigen Schnickschnack, den die Cascade den Leuten eingeflößt hat.

Bis hieher halten schroffe Wände, stolze Berge und freundliches wohlbevölkertes Thalgelände noch verträglich zusammen; hinter Umhausen aber kommen wilde, ausschließlich wilde Partien und das Zahme sucht man da für etliche Zeit vergebens. Fast eine Stunde lang dräut eine schauerliche Schlucht, eine von den vielen, wo die Berge nach Regenwetter beweglich werden, dem Wanderer an den Kopf fliegen und den Pfad verschütten. Manche Stellen gibt es, wo das lockere Gerölle so steil am Wege steht, daß es Jahr aus Jahr ein auch an den trockensten Tagen herunterbricht, wie es denn überhaupt die Natur des Thales ist, daß es wegen des Reichthums an Wässern, der feuchten Atmosphäre und des zur Verwitterung geneigten Gesteines von Felsbrüchen, Bergfällen und Muhren sehr viel zu leiden hat. Unter solchen Betrachtungen gelangt der Oetzthalfahrer an eine Stelle, wo hoffentlich auch in dem Kühnsten ein bebendes Entsetzen lebendig wird. Steile mürbe Wände von beiden Seiten stellen ihre drohende Stirne einander gegenüber und dazwischen hat sich der Bach seinen Runst [217] durchgerissen. Derselbe hat nun von Umhausen aufwärts schon allerwege rührig gebrummt und gedonnert, aber hier wird das Getöse grauenvoll. Das sieht aus wie ein Stück Weltmeer, mit dem ein brüllender Orkan sein Wesen treibt, um es in wüthender Brandung an ein Riff zu jagen – so bäumen sich die Wogen, so sieden die Wässer, so tobt alles durch einander. Dabei hört man auch noch mitten durch den Höllenlärm das dumpfe Aneinanderprallen der unsichtbaren Felsenblöcke, die der Bach in seinem Grunde daherwälzt. Wie lange mag es dauern, fragt sich der Zeuge dieses Schauers, bis das rasende Element all das Felsenwerk, wie es ihn ängstigt und wüthend macht, zusammenreißt? und wenn er sich nicht bedächte, daß das Ding vielleicht schon Jahrtausende so forttobt, möchte er ihm wohl kaum mehr eine Viertelstunde Zeit geben. Gerade wo es am fürchterlichsten tost, geht ein schwankes Brückchen über die Wässer, welche es zu allen Zeiten mit ihrem Schaum übergießen. Da wird sich der Langsamste beeilen, um schnell drüber zu huschen und vom jenseitigen festen Ufer desto behaglicher den Graus zu betrachten.

Es ist kein Wunder, daß der Volksglaube in dieser Schlucht des Schauders eine Schaar von boshaften Hexen wohnen läßt, die den Wanderer bei Nacht mit Teufelsspuk fast bis zum Wahnsinn plagen. Der Oetzthaler betet und bekreuzigt sich, wenn er nach Gebetläuten den unheimlichen Pfad zieht. Wer nicht beten und sich nicht bekreuzigen will, wird besser thun ihn gar nicht zu gehen.

Auf diese enge Wildniß folgt dann wieder die offene Gegend von Längenfeld, lachende Fluren mit Wies und Feld, reich besetzt mit Häusern und Hütten, jetzt voll idyllischen Lebens, vor langen Zeiten, wie noch die Sagen melden, ein einsamer Bergsee. Jenseits der Oetz gewahrten wir den schönen Wasserfall des Lehnbaches, auf einer Anhöhe zeigte sich schön gestellt die Dreifaltigkeitskirche von Kropfbühel.

Längenfeld ist ein großes, gut gebautes Dorf, das durch einen schönen Fichtenhain und einen Fernerbach in zwei Theile geschieden wird. Auf den Jöchern, die das Thal begränzen, liegen schon bedeutende Gletscher, die da und dort in aller [218] Ruhe auf die grüne Ebene herunterschauen. Aus einem solchen kömmt der Bach, dessen wir so eben gedacht und dessen ungestüme Wuth die Längenfelder zu einem kostbaren Dammbaue genöthigt hat. Die Längenfelder trinken lauter solches Fernerwasser – wenigstens sagten sie im Wirthshause es gebe kein anderes. Frisch ist dieß Getränke allerdings und man behauptet sogar, es solle sehr gesund seyn, aber solche die nicht daran gewöhnt, würden an der trüben, milchweißen Farbe leichtlich Anstoß nehmen.

Wer gern an die alten Zeiten deutscher Nation zurückdenkt, der nimmt’s vielleicht gut auf, wenn wir ihm sagen, daß in die stillen Gründe von Längenfeld auch der unglückliche Conradin von Hohenstaufen zu zwei verschiedenenmalen reisig eingeritten ist, im März und im Julius 1264 nämlich, nicht gerade um wichtige Thaten zu verrichten, sondern wohl nur um sein väterliches Erbgut zu beschauen. Zwei seiner Urkunden sind zu Längenfeld ausgestellt.*)[2]

Im Wirthshause zu Längenfeld fanden wir einen alten Herrn röthlichen Gesichts, schwarzer Tracht, der uns freundlich ansprach: Comment vous portez-vous, Messieurs? Ueberdieß wußte er noch zu sagen: il fait beau temps und parlez-vous français? Nachdem wir dieß alles beantwortet hatten, schlugen wir vor zur deutschen Muttersprache herunterzusteigen, was aber unser neuer Freund so lange als möglich aufhielt, da er immerzu der guten Hoffnung war, es werde ihm noch etwas Französisches einfallen. Während des deutschen Gespräches, das sich endlich doch einstellte, fragten wir Reisende auch nach den Sagen, die, wie die Bücher melden, in diesem Thale zu Hause sind. Was? Sagen? – hob aber der andre an – wir haben keine Sagen im Oetzthale! Je nun, bemerkten wir, man liest doch da und dort davon und in manchem Buche wird nicht undeutlich zu verstehen gegeben, daß gerade dieses Thal mit solchen Ueberlieferungen reich gesegnet sey. Alles nur Blendwerk! rief darauf der alte Herr – wir haben keine Sagen, sag’ ich. Wir sind aufgeklärt im Oetzthal, so aufgeklärt [219] als anderswo. Als wir zu beschwichtigen suchten, ging er in sehr derben Worten auf die dummen Bücher über und die Fremden, die ins Land hereinkämen und die erlogenen Sagen hinaustrügen und die Leute lächerlich machten. Es hätte eine sehr bedauerliche Scene werden können, wenn nicht einer von uns in seiner Geistesgegenwart: Comment vous portez-vous? gesagt hätte, worauf der Erzürnte nach kurzem Zaudern: Trèsbien erwiederte und sich wieder ganz friedlich anließ.

Es ist unzweifelhaft, daß man im Oetzthale und in einigen andern Thälern die alte Sagenpoesie mit der dortigen Aufklärung nicht verträglich findet und daher das Wenige, was davon noch übrig ist, mit allem Eifer auszurotten strebt. Die Frage nach Volkssagen wird manchmal als eine Beleidigung angesehen, als ausländischer Uebermuth der mit der tirolischen Einfalt sein Spiel treiben wolle. Nie wurden auch die Oetzthaler bei ihrem Glauben an die eigene Aufklärung so peinlich angeregt, als im Jahre 1825, wo Herr Eduard von Badenfeld im Hormayr’schen Archiv für Geschichte, Statistik, Literatur und Kunst einige Nachrichten über die Sagen dieses Thals mittheilte und der Tirolerbote sie auch im Vaterlande verbreitete. Damals verfügten sich die Aeltesten des Thales zum zuständigen Landgericht zu Silz, um sich Raths zu erholen, wie und wo sie den böswilligen Injurianten gerichtlich belangen könnten, welcher der Ehre ihrer Heimath so nahe getreten sey und sie noch mit alten Mähren höhne, welche die neu eingeführte Aufklärung schon seit mehreren Jahren ganz abgebracht habe.

Selbst literarische Hülfe blieb nicht aus. Ein „geborner Oetzthaler“ trat im Tirolerboten auf und schnarchte höchst mißmuthig über die Indiscretion dieser Touristen, die da in seiner Heimath Mährchen gefunden haben wollten. Nebenbei ärgerte ihn freilich auch, daß von Branntwein, Raufen und Stelldicheinen die Rede gewesen. „Beinahe, sagt er in seiner Bitterkeit, kam mir die Versuchung zu wähnen, es gäbe vielleicht zwei Oetzthale, eines das ich recht gut kenne und wo ich meine seligsten Tage verlebt, und ein andres, das der Herr Verfasser geschildert. Oft war mir ein mitleidiges Lächeln, zuweilen [220] aber eine Art gewiß nicht ungerechten Aergers abgedrungen, indem ich mein geliebtes heimathliches Thal so dargestellt sah, als wären wir erst seit vorgestern aus den Wäldern hervorgegangen und noch immer vom tiefsten Aberglauben umnachtet.“ Deßwegen glaubt er auch feierlich versichern zu müssen, und erbietet sich sogar zum Nachweise, daß die meisten dieser schönen Mähren „die meisten der in diesem Aufsatze vorkommenden Anekdoten entweder im ganzen Oetzthale unbekannt, oder von dem Herrn Verfasser eigentlich mährchenmäßig verstellt, oder daß sie höchstens an langen Winterabenden in der Kunkelstube erzählt worden, nicht als werde daran geglaubt, sondern um zu kurzweilen.“ Wunderlich ist die Andeutung, daß die Mährchen deßwegen nicht zur Nacherzählung geeignet seyen, weil sie nur in den Kunkelstuben erzählt werden, als wenn nicht gerade da ihr sicherstes Asyl wäre. „Denn da in der Zeit von sechs bis neun Uhr an den Winterabenden, wo die Landleute beim Span-, Kien- oder Oellicht zusammensitzen, da vorzüglich theilt eine Generation der andern ihren Schatz von Erfahrungen und Lebensansichten mit; da wird der ganze Vorrath an volksmäßigen Dichtungen, Erzählungen, Mährchen, Liedern durchgegangen und mitunter durch neue Zugaben aus der Zeitgeschichte vermehrt. Bei keiner andern Gelegenheit, selbst beim Bierkruge nicht so sehr als da, kommt das reiche Capital an natürlichem Witz in Umlauf, mit dem das Volk ausgestattet ist.“*)[3] Uebrigens mag sich der Leser wieder beruhigen, denn ein Freund, der dazumal mit Herrn von Badenfeld im Oetzthale wanderte, hat uns versichert, daß bei Sammlung dieser Mähren alle wünschenswerthe Vorsicht und Unbefangenheit obgewaltet habe.

Die lachende Flur von Längenfeld endet eine Stunde oberhalb des Dorfes in abermaliger Wildniß. Hier wieder schwere Berge, die eng aneinander treten und in ihrem Trachten sich nahezukommen den Bach aufs neue fürchterlich reizen. Auch der Weg muß sich oft recht ärmlich schmiegen und drücken. Zuweilen wird’s weiter, aber nicht freundlicher. Dunkler Fichtenforst, [221] starre Schrofen oder Gerölle und Geschiebe vergangener Bergfälle theilen sich in den Raum. Wer an Wasserfällen noch nicht gesättigt ist, mag sich in dieser Gegend am schönen Sturz des Atterthaibaches ergötzen; mein Gefährte behauptete indessen den ganzen Tag über sich so genug daran gesehen zu haben, daß er im Vorbeigeben die Augen zudrückte, um nicht zu viel zu bekommen. Um diese Zeit am späten Abend begegneten wir einem Fuhrmann, der einen zweirädrigen schwergepackten Karren begleitete, welcher heute noch nach Sölden kommen sollte. Es ist schwer zu beschreiben was ein Fuhrmann und sein Gaul auf solchen Wegen auszustehen hat. Gerade jetzt zog der Pfad, voller Schrunden und Risse einen steilen Steig hinan und nun schob der Mann selber mit. Auf halber Höhe aber wollte das Pferd erliegen und ging nicht weiter. Und ehe der Fuhrmann sich’s versah, machte der Karren Anstalt rückwärts zu rollen und den Gaul mit sich zu ziehen, wobei es ihm denn gerade noch gelang einen Stein vor die Räder zu werfen und das Unglück aufzuhalten. Nunmehr stand er seufzend vor dem Gespann und sagte: wie lang werd’ ich noch brauchen, ehe ich da hinauf komme. Wir hatten Erbarmen, halfen ihm zuerst einmal ein bißchen ausrasten, verkürzten ihm die Zeit durch freundliche Reden und dann schoben wir alle drei an dem Karren und wie ich glaube auch an dem Gaul, der jede Lust am Ziehen eingebüßt hatte. Nach einer langen Viertelstunde waren wir oben und trieften vor Schweiß. Dort verließen wir auch den Fuhrmann, der erst eine halbe Stunde nach uns das Dorf erreichte.

Die Gemeinde Sölden liegt aber wieder sehr anmuthig in grünen Wiesen, die geräumig auseinander laufen und mit Roggenfeldern abwechseln. Die Häuser sind idyllisch zerstreut und verstecken sich da und dort heimlich hinter kleinen Waldschöpfen. Drüben ragen abermals die weißen Ferner herein und man spürt, daß man wieder weit hinten im Gebirge ist.

In Sölden ist ein unverwerfliches Wirthshaus und ein braver Wirth, mit dem wir indeß trotz seiner Trefflichkeit nahezu in Streit gerathen wären. Es war am 5 August des Jahres 1842 als wir, wie erzählt, des Morgens in dem schönen [222] Dorfe Oetz zum Wanderstabe gegriffen hatten und nachdem wir noch den ermüdenden Gang zum Wasserfalle bei Umhausen gemacht, und zur Erquickung lediglich ein zartes Forellenpaar gekostet, nachdem wir den Tag über im heißen Sonnenbrand an den nackten Felsenwänden heraufgegangen, ohne weiteres zu essen und zuletzt noch dem Fuhrmann seinen Karren über die Steig hinauf geschoben hatten, kamen wir mit etwa zehn Stunden in den Beinen bei einbrechender Nacht sehr hungrig in Sölden an und verlangten in einfachen Worten, sie möchten uns Schweinsrippchen oder Hammelbraten oder etwas ähnliches zum Nachtmahl geben. Der Wirth entgegnete darauf, es wäre zwar Fleisch vorhanden, aber weil es Freitag sey, werde er keines zurichten lassen. Umsonst beriefen wir uns darauf, daß wir Reisende seyen, umsonst ermahnten wir, er solle die Aufklärung im Oetzthale nicht Lügen strafen – der Herbergsvater zu Sölden blieb bei seinem ersten Worte, und etliche gesottene Eier, die man uns vorsetzte, umschlossen denn auch in ihrer engen Schale alles was unsre weiten Bedürfnisse decken sollte. Wir waren damals fast ärgerlich über den Mann, jetzt aber, nachdem die Empfindlichkeit längst vergangen, scheint mir der Wirth einer Ehrenerwähnung werth, weil er festgehalten an seiner Ueberzeugung und nicht für schnödes Geld Hammelbraten und Gewissensruhe hingegeben.

Bis zur Kirche in Sölden kann man mit Karren nothdürftig fahren, aber von da an ist nur mehr Fußweg. Nachdem man noch einige Zeit durch Wiesen gegangen, ist die grüne Flur wieder zu Ende und es stellt sich ein rother mit Alpenblumen buntgefärbter Berghang entgegen, an dem ein steiler Pfad hinaufführt. Oben genießt der Wanderer einen schönen Blick ins kleine Thalgelände das er verlassen, und wenn er noch etwas vorgestiegen ist, auch einen andern in einen grausigen Schlund, wo der Weg unsicher und oft verfallen hoch über dem schäumenden Bache hinzieht, während hängende Felsen von allen Seiten hereinnicken. Da muß er nun hinunter, und wenn er so anderthalb Stunden zwischen den Wänden fortgewandelt, öffnet sich wieder ein enges Thälchen, sanft und grün, in dem die Hütten von Zwieselstein ersichtlich sind.

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Veröffentlicht von josefauer.com

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