Drei Sommer in Tirol – Vom Reschen nach Meran

von Ludwig Steub

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Zu Nauders thut der Reisende gut sich auf einen langweiligen Weg gefaßt zu machen, auf die Fahrt über die Haide, oder Hoad, wie das Volk spricht, zuerst wohl nur der Name der Thalfläche, jetzt auch der eines Dorfes und mitunter auch des ganzen Straßenzuges, denn der Tiroler setzt zuweilen auch die Straße über die Hoad, sonst die obere genannt, der Straße über den Brenner entgegen. Der höchste Punkt des Weges in der Nähe von Reschen ist 4725 Wiener Fuß über dem Meere und an dieser Stelle ungefähr ist auch die Wasserscheide. Der Stillebach nämlich entspringt in den nahen westlichen Gebirgen und läuft wenige Schritte an einem andern [273] Bächlein vorbei, welches sich in den Reschensee ergießt. Jener stürzt bei Finstermünz in den Inn, mit diesem in die Donau und kommt so bei Sulina ins schwarze Meer; dieses gibt sein Wasser an die Etsch ab, die aus den drei Seen auf der Haide wegfließt, um in das Meer von Adria zu eilen.

Die drei Seen, die nun nacheinander folgen, gehören zu den unbesungenen. Sie sind klein, liegen in rauher, kalter Gegend und die lange Strecksicht über diese Wasserspiegel hinab ist nur dann anziehend, wenn sie der unbewölkte Ortles schließt. Ein Werth bleibt ihnen aber immer, nämlich der eines reichen Fischsegens. Kein Wunder, daß da die frommen Stifter ihre milde Hand auf die Wässerlein legten, und so gehörte denn die Fischenz in den beiden obern ehemals dem Cistercienser Kloster zu Stams, in dem untern aber der Carthause zu Schnals. Jetzt ist sie freilich nicht mehr in solchen Händen, sondern bei Bauersleuten, die an den Gestaden wohnen und alle Wochen mit den Fischen bis gen Meran fahren.

Am obersten dieser Seen liegt das Dorf Graun am Karlinbache. An diesem Bache hin steigt man nach Langtaufers, und von dort aus führt rechts ein beschwerlicher Weg über die Gletscher nach Rofen im Oetzthale, links ein Saumschlag ins Kaunserthal und nach Prutz. Ehe Kaiser Max den Paß über Finstermünz eröffnete, war dieser kümmerliche Pfad voll lebhaften Verkehrs, als der einzige, welcher Obervintschgau mit Oberinnthal verband. Noch erinnern die landesfürstlichen Wappen auf manchem Hause im Kaunserthale, wo vordem Amtleute und Zöllner gewohnt, an jene Zeiten. Seitdem war diese ehemalige Handelsstraße ganz verschollen, bis sie im März 1799 wieder einigermaßen ins Gedächtnis der Mitwelt gerufen wurde, als General London die der Niederlage bei Taufers entronnenen Heerestrümmer von Graun weg in die Sicherheit des Kaunserthales geleitete.

Zu Haid im Dorfe hat ums Jahr 1140 (?) Ulrich Primele von Burgeis ein Hospital zu St. Valentin gestiftet, den Reisenden zum Schutz und Obdach in den Winterstürmen, die hier mit schrecklichem Schneegestöber durch das Thal hinfahren und die Pilger verwirren, verschlagen und vereisen. [274] Seine Satzungen, d. h. wohl die spätern, nicht die ursprünglichen, waren in romanischer Sprache abgefaßt und verpflichteten, wie die der Stiftung Heinrich Findelkinds auf dem Arlberge, den Vorsteher sammt seinen Leuten an stürmischen Abenden mit Laternen, Stricken und Stangen, auch wohl versehen mit Wein und Brod, schreiend und rufend in die Haide hinauszuziehen und nach Verunglückten zu spähen. Jetzt da Häuser und Dörfer ziemlich nahe auf einander an der Straße stehen, ist diese Uebung schon lange nicht mehr nöthig und aus der alten Stiftung ist ein Krankenspital geworden – ein Wechsel, dem sich mit der Zeit auch manche andre tirolische Hospitäler unterworfen sahen, die einst in den Jahrhunderten der Kreuzzüge zum Besten der nach Jerusalem fahrenden Pilger errichtet worden. Es ist eine wohlbegründete Vermuthung Professor Albert Jägers,*)[5] daß diese gastlichen Herbergen als Aushängschild für die müden und hungrigen Wanderer das Bild des heiligen Christophs wählten, der nach der bekannten Legende das Jesuskindlein selbst über den Strom trug und daher als Beförderer der Reisenden betrachtet wurde. Die Bruderschaft auf dem Arlberg nannte sich nach diesem Heiligen, auf die Außenwand der Spitäler wurde seine lange Gestalt gemalt, und auf andern Kirchen, bei denen keine Pilgerherberge gestiftet war, mag das alte Bild wohl auf die Gastfreundlichkeit der Seelenhirten deuten.

Die Leute, die hier oben auf der Haide wohnen, sind stark an Verstand und an Gliedmaßen, aber arm an irdischen Gütern. Der Boden ist unfruchtbar, hat in nassen Jahren von der Kälte, in trockenen von der Dürre zu leiden und liegt zu hoch, um mannichfache Bebauung zuzulassen. Drum gehen auch von hier viele ins „sogenannte“ Schwabenland und andre leben als Dörcher oder Lahninger.

Abwärts vom letzten der drei Seen, aus dem die Etsch als lärmendes Flüßchen abrinnt, beginnt die Malserhaide. An dieser liegt das große Dorf Burgeis mit dem braunen [275] Schlosse Fürstenburg, in frühern Zeiten und bis zum Jahre 1803 den Bischöfen zu Chur gehörig, jetzt der Sitz eines Rentamtes. Bei uns im Stellwagen wurde es nunmehr immer finsterer; Burgeis fuhren wir in der Dämmerung durch; die Zinnen von Fürstenburg ragten auch nicht sehr kenntlich in die Luft, doch strahlten aus den Fenstern helle Lichter. Darüber ragte am Berghange das Benedictinerstift Marienberg, weißlich durch den Nebel glimmernd. Vom Ortles her ging ein kalter Wind, und so hatte wohl jeder seine Freude, als wir in die engen Gassen von Mals, dem Marktflecken einfuhren und endlich am Wirthshaus landeten, wo die Forellen unser warteten, aber auch ein großer Lärm in der Wirthsstube. So eben hatte nämlich ein Gränzjäger den Säbel gegen seinen Corporal gezogen und war nur mit Mühe durch mehrere herbeigesprungene Gäste abgehalten worden, dem Vorgesetzten ein Leid zu thun. Ach mein Gott, sagte die Kellnerin wehmüthig, jetzt hat sich der arme Mensch in einem Augenblick um viele Jahre Freiheit gebracht! – Wir fürchteten, die Bemerkung dürfte sehr richtig gewesen seyn.

Wir gingen bald zu Bette, mehr uns freuend auf den kommenden Tag als über den vergangenen, denn außer dem Paß von Finstermünz und der Aussicht auf den Ortles hatte die Reise von Pfunds her wenig geboten was uns besonders angeregt hätte, und die nächste Sonne sollte uns im Etschland untergehen. An dem Kloster Marienberg sind wir aber jedenfalls zu schnell vorbeigefahren und wollen daher noch nachträglich in Erinnerung bringen, daß dieses Benedictinerstift im Jahre 1090 von einem Grafen Eberhard von Montfort zuerst zu Schuls im Engadein errichtet, später aber 1146 dahin verlegt wurde, wo es jetzt auf der weitsehenden Berghöhe prangt. Ulrich von Tarasp, der reiche Herr, legte aus, was der Neubau kostete und gab dem Stifte viele von seinen eigenen Gütern. Endlich als er von der Kreuzfahrt im gelobten Lande zurückgekommen, ging er selbst als Mönch in seine Stiftung und starb darin. Seine Hausfrau Uta nahm den Schleier im Frauenstift zu Münster, das hinter Taufers liegt. Am meisten hatte das Kloster zu erleiden von seinen Schirmherren, den Vögten von [276] Matsch; Ulrich von Matsch, der gegen das Ende des dreizehnten Jahrhunderts lebte, vergriff sich gewaltsam an des Klosters Besitzthum, und als Hermann von Schauenstein, der Abt, ein Mann von dreißig Jahren, schöngestalt und weise, bei Otto dem Grafen von Tirol Schutz erbeten hatte, fiel der Vogt von Matsch mit seinen Reisigen über das Stift, nahm den Abt gefangen und ließ ihn im Thale von Schlinig enthaupten. Darauf pilgerte er zum Papste nach Avignon und kam mit einer Ablaßbulle zurück, die ihm aber viel mehr Buße auflegte als er leisten mochte. So trieb er sein Sündenleben fort, bis er, wahrscheinlich auf Anstiften der heiligen Vehme, durch seinen Oheim Egeno von Matsch erstochen oder erwürgt wurde. Darnach 1311 übernahm der Landesfürst die Schirmvogtei. Der Abt des Klosters darf die Inful tragen und hat ihm dieß Recht das Concilium zu Basel verliehen; auch ist er tirolischer Landstand und Hofcaplan. Seit 1724 besetzt das Kloster auch das Gymnasium zu Meran mit Lehrern. Eine alte Celebrität des Stiftes ist der Prior Goswin, welcher ums Jahr 1390 Herzog Leopolds von Oesterreich Hofcaplan war und eine Chronik von Marienberg schrieb, die der erste Band der Beiträge für Geschichte von Tirol und Vorarlberg in deutscher Uebersetzung mittheilt.

Am andern Morgen früh war lärmendes Leben im Wirthshaushofe. Zwei Stellwagen wurden gepackt, angespannt und fertig gemacht. Der eine ging nach Landeck, der andre nach Meran; beide waren zum Erdrücken voll. Mir war noch die langweilige Bequemlichkeit von gestern zu sehr im Sinne, als daß ich wieder hätte einsteigen mögen; es schien viel angenehmer das Vintschgau hinab zu Fuße zu gehen. Bald fand sich auch Jemand der geneigt war mich zu begleiten, ein tüchtiger Professor von Dorpat, der nach Italien fuhr. Mit diesem brach ich auf am wunderschönen Morgen, der mählich zum warmen hellen Sommertage wurde.

Zuerst also gingen wir von Mals eine Viertelstunde weit nach Tartsch und stiegen auf den Tartscher Bühel, eine freistehende Höhe, die eine alte Kirche trägt und eine herrliche Rundsicht gibt. Da sahen wir hinunter auf Mals, das schon [277] von den Römern bewohnt wurde und mit zwei alten Thürmen seinen mittelalterlichen Werth belegt, mit den zwei abgekommenen Warten, welche einst aus den Burgen ritterlicher Geschlechter aufgeragt, die längst verschollen sind. Weiter oben zeigt sich Burgeis und die Fürstenburg und das Stift Marienberg, und abwärts davon am Bergsaum der weiten Wiesen, welche von Erlen beschattet die Etsch durchströmt, liegen Schleiß und Laatsch, reich durchgrünt von Obstbäumen, und das Städtchen Glurns, ehedem als Handelsort von Wichtigkeit und in seinen engen Mauern reiches Leben nährend, jetzt ein stilles Nestchen, ein „rotten borough,“ wo fast nur mehr Fußgänger zusprechen, da es außer dem Zug der Heerstraße liegt. Seine starken Zinnen erheben sich noch wehrhaft über seine Dächer, aber die Gräben hat der Friede ausgefüllt und üppige Gärten darauf angelegt. Zwischen Laatsch und Glurns geht das Thal von Taufers ein, auf dessen grüner Hochebene die alten Raubschlösser Rotund und Reichenberg, dessen Herren einst die Schenken des Bisthums Chur gewesen, und der Thurm von Helfmirgott erscheinen, letzterer so benannt, weil sich in alten Tagen von seiner Höhe mit solchem Rufe eine Jungfrau stürzte, um vor dem Reitersmann, der sie bedrängte, ihre Unschuld zu retten. Auch hat ihr Gott geholfen – sie ging unversehrt von dannen, der Verfolger aber entsetzte sich und ward ein Büßer. Dahinter geht’s ins romanische Münsterthal in Graubündten, wo das Frauenstift, das Kaiser Karl der Große gegründet haben soll.

Unter Glurns liegen die weiten Mauern von Lichtenberg und Agums mit vielbesuchter Wallfahrtskirche und Prad, der Geburtsort der beiden gelehrten Primisser, wovon der eine Cassian als Mönch zu Stams gestorben 1771, der andere Johann Baptist als Custos des Münz- und Antikencabinets und der Ambraser Sammlung zu Wien 1815. Dahinter gegen Süden über grünen Alpen und grauen Schrofen steigt schweigsam und weiß und ungeheuer, alle Nachbarn weit überragend, der Ortles empor, ein titanischer Kegel, jetzt herrlich beschienen von der milden verklärenden Morgensonne. Auf der andern [278] Seite der Etsch liegt Schluderns und das große Schloß Churburg, eine vorstehende waldige Höhe krönend.

Dort auf der wiesenreichen Fläche zwischen Glurns und Mals und hinein gegen die Höhen von Taufers war eine blutige Schlacht, als am 22 Lenzmonat im Jahr 1499 die Engadeiner durch das Münsterthal herauskamen und achttausend Tiroler mit ihren dreihundert Herren von Adel und Ulrich von Habsberg, dem ungeschickten Feldhauptmann, ihnen das Land verwehren wollten. Während die berittenen Edlen auf dem Plane von Mals ruhig zuschauten, kämpften die Tiroler Bauern heldenmüthig für ihre Mutter Erde auf der Schanze bei Laatsch, wurden aber umgangen, von allen Seiten angegriffen und zu Tausenden erschlagen. Das tirolische Landbanner, dessen Adler die Erzherzogin Catharina von Sachsen mit hohen Händen gestickt hatte und viel andres Kriegzeug ging verloren. Neunhundert Frauen sind an diesem Tage im Vintschgau und zu Meran Wittwen geworden, und bis dahin war in der gefürsteten Grafschaft eine solche Niederlage nicht erlebt. Glurns, Mals, Laatsch, Schluderns und andre Dörfer an der Etsch hinab wurden niedergebrannt, der Schrecken weithin verbreitet. Nachdem sie dieß verrichtet, zogen die Engadeiner, welche selbst viel Blut verloren hatten, wieder heimwärts in ihr Thal. Den Tirolern, die alles Unglück dem schlechten Befehlshaber auflegten, hinterblieb aber eine namenlose Wuth und ein Haufe der Entkommenen, der nach Meran geeilt, erwürgte dort dreißig Engadeiner, die als Geißeln in der Stadt lagen. Rühmlich ist dagegen, wie sich gleich in den nächsten Tagen der Landtag zu Meran erhob und mit kräftigem Entschlusse den Schaden gut und die Grafschaft wieder wehrhaft zu machen strebte. Am achten Tage nach der Niederlage kam Kaiser Max von Landeck her mit achttausend wohlgerüsteten Kriegsleuten selbst nach Glurns und ritt auf das Schlachtfeld, wo er, die unbegrabenen Leichen der treuen Tiroler gewahrend, seiner Rührung nicht wehren konnte und den Gefallenen kaiserliche Thränen weinte. Auf der Walstatt leuchten noch jetzt von Zeit zu Zeit seltsame Feuer auf, die an der Stelle, wo sie flackern, einen Halbmond ausbrennen und den Boden für ein [279] Jahr lang unfruchtbar machen. Die Geschichte dieses Krieges beschrieb Albert Jäger anziehend im vierten Bändchen der neuen Zeitschrift des Ferdinandeums. Im Jahre 1799 kamen auch die Franzosen vom Münsterthale her, warfen den österreichischen General Loundon, legten Glurns, Mals und Schluderns in Asche, verübten viele Grausamkeiten, zogen darauf wieder zurück und verschanzten sich zu Taufers.

Vom Tartscher Bühel gingen wir nach Schluderns, was abermals ein großes Dorf ist von 1000 Seelen, wie wir denn von jetzt an durchs Vintschgau hinunter wenige mehr treffen, die nicht so bevölkert sind. Ober Schluderns steht die hochansehnliche Churburg den Grafen von Trapp gehörig und ihr Sommersitz, zu der wir auch hinaufpilgerten, um den Waffensaal zu sehen, der manch merkwürdiges Rüstzeug aus frühern Jahrhunderten enthalten soll. Wir hatten schon den Steig von alten Bäumen beschattet zurückgelegt und das Hauptthor gefunden, waren auch schon eingetreten in den Burghof und der Schaffnerin ansichtig geworden, hatten auch endlich um den Schlüssel gebeten, als uns eröffnet wurde, dieser befinde sich beim Herrn Verwalter zu Mals. Wir wußten nicht, sollten wir uns ärgern, daß der Herr Verwalter in Mals den Schlüssel habe, oder daß wir dort nicht darnach gefragt hatten, ärgerten uns aber doch. Die Schaffnerin war freundlich genug uns an die Fenster ihres Wohnzimmers zu führen, wo wir eine treffliche Aussicht ins Vintschgau genossen. Das war zwar auch etwas, aber nicht das was wir gesucht hatten.

Von Schluderns gelangt man dem Saldurbache nach auf beschwerlichem Wege in das Thal von Matsch, tief zerrissen von Wildbächen, aber gesegnet mit grasreichen Alpen und manchen Kornfeldern und dabei ein Lieblingsaufenthalt der Wölfe. Es gibt kaum ein Seitenthal in Tirol, was so früh und so oft genannt wird, was durch kirchliche Weihe und Ritterthum so bedeutsam ist, als dieser enge rauhe Winkel, wo isländisch Moos sich um Zirbelbäume schlingt. Hier wurde nach der Legende im siebenten Jahrhundert St. Florinus geboren, von reisenden Engländern, die sich von einer Pilgerreise nach Rom zurückkehrend da niedergelassen hatten. [280] Florin, den Knaben, in stiller Frömmigkeit erzogen, gaben sie in Unterricht dem Pfarrer zu Ramüs im Engadein, wo er noch in jugendlichem Alter Wunder zu wirken begann. In dem Kasten aus dem er den Armen Brod gab, wuchs Getreide, und wenn er den Tischwein des Pfarrers genommen hatte, Kranke zu erquicken, so wurde aus dem frischen Quellwasser, das er dafür auf die Tafel setzte, der beste Traubensaft. Als sein Lehrer, der Pfarrer, gestorben war, wurde Florin der Seelenhirt der Gemeinde und starb jung, aber im Leben schon als Heiliger verehrt. Die Einwohner von Matsch, zu denen er nicht mehr zurückkehrte, errichteten wenigstens ein Kirchlein auf der Stelle seiner Geburt. – Geschichtlich ist, daß Kaiser Lothar in einer Urkunde vom 3 Jänner 824 dem Bischof Leo von Como seine längst erworbenen Rechte auf die Pfarren zu Burmis (Bormio) und Amatia (das war der damalige Name von Matsch) bestätigte. Daraus geht hervor, daß in dem Thale schon altes kirchliches Leben war, wie denn überhaupt in den frühesten Zeiten die großen Thäler wo jetzt die Heerstraßen ziehen, wenig belebt erscheinen gegen die abgelegenen schwer zugänglichen Höhen und Gebirgsschluchten. Serfaus, Galthür, Matsch und mehrere andre abgelegene Stellen kommen als kirchliche Vereinigungsorte viel früher vor als die benachbarten Niederungen. Es mag wohl seyn, daß zur Zeit der Völkerwanderung mancher Strich am Heerwege ganz ausgefegt und für lange menschenleer wurde, denn die geringe Zahl der bekannten Pässe über die Alpen mußte die Last des Durchzugs für die am Wege liegenden Orte nur um so drückender machen. Drum waren dazumal diese Einsamkeiten wohl reich bevölkert von ursprünglichen Bewohnern und von Flüchtlingen aus der gefährdeten Nachbarschaft, welche letztere sich vielleicht erst nach längerer Zeit wieder in die öde gelegten Hauptthäler wagten.

Fünf Jahrhunderte, nachdem Florinus, der Pfarrer von Ramüs, im Geruch der Heiligkeit gestorben, erscheinen die Herren von Matsch, gewöhnlich die Vögte von Matsch genannt, als Gebieter des Thales und weit hinab im Vintschgau und drüben im Engadein. Später kamen dazu auch noch [281] Güter am Oberrhein und in Schwaben. Ihnen gehorchte auch das Veltelin vom Comersee bis zum Wormserjoche; Dörfer und Burgen waren mit Wagenwart, Frohne und Oeffnung pflichtig, auf den Landsprachen zu Mals führte ihr Amtmann den Vorsitz. Die Leute des churischen Bisthums von Pontalt bis zur Etschbrücke bei Meran, die Klöster Marienberg und Münster, das Hochstift Chur selbst standen unter ihrer Bevogtung. Die Nonnen zu Münster mußten ihre Hunde füttern, und wenn es den Gewaltigen beikam, mit Jägern und Knechten, Rüden und Rossen auf den Jagdzügen in die Bündner Gebirge in Marienberg zu übernachten, so hatte der Abt Futter und Nahrung unentgeltlich zu schaffen.*)[6] Lange wäre es, die Namen der Herrschaften und Güter anzuführen, die sie im Laufe der Zeiten erobert und erkauft, verloren und veräußert haben. Noch im Jahre 1471 kamen sie, aber nur auf kurze Zeit, in den Besitz eines völlig fürstlichen Besitzthums in Graubünden, zumeist aus dem tokenburgischen Erbe. Im dreizehnten, vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert ist ihr Name einer der öftest genannten in der Geschichte von Tirol, zumal auch wegen des zweihundertjährigen Zwistes, den sie mit den Bischöfen von Chur geführt haben. Ulrich der ältere und Ulrich der jüngere von Matsch waren hochbeliebt bei der minnesüchtigen Margaretha und wußten ihre Huld und Gnade gut zu nützen, insbesondere in den letzten zehn Tagen vor St. Polycarpentag 1363, wo die Gräfin von Tirol, ehe sie das Land an die Herzoge von Oesterreich übergab, den Matschern noch auf einmal die Gerichte Landeck und Naudersberg, die Propstei Eiers und das Schloß Jufal im Vintschgau schenkte, welche Güter sie freilich gegen die neuen Herren von Oesterreich nicht alle behaupten konnten. Die letzten des Geschlechtes waren Ulrich der Landeshauptmann († 1500) und Gaudenz von Matsch, Graf von Kirchberg, der 1504 zu Churburg starb und zu Marienberg begraben wurde, Herr im Prätigau und zu Davos, oberster Erbschenk des Bisthums [282] Chur, Kaiser Maxens und Herzog Sigmunds zu Tirol geheimer Rath, auch des letztern Feldhauptmann im Venediger Krieg 1487, seiner Zeit der reichste Dynast des Landes. Durch des erstern Tochter Barbara kam das ganze Erbe und mit diesem auch Churburg an Jakob von Trapp, einen steyrischen Edelmann, bei dessen Erben, die unterdessen Grafen geworden, es noch heutzutage ist. Die beiden Burgen im Matscherthale sind verödet und halbzerfallen.

Bemerkenswerth ist es, daß Guler von Wineck in seiner Rhätia, die, wie oben Seite 105 bemerkt, im Jahre 1616 erschien, die Nachricht gibt, daß das Thal von Matsch noch seiner Zeit rhätische, d. h. romanische Sprache gebraucht habe. Bekanntlich ist auch das obere Vintschgau jene Gegend des jetzigen Deutschtirols, wo sich dieses Idiom am längsten erhalten hat. Die von Freiherrn von Hormayr öfter wiederholte Behauptung, daß noch bis zur Zeit der Kaiserin Maria Theresia im obern Vintschgau und bis Schlanders und Latsch *)[7] das Romanische in Uebung gewesen sey, dürfte sich zwar in dieser Ausdehnung kaum erwahren lassen, doch ist gewiß, daß noch vor wenigen Jahren im Tauferer Thale alte Leute gefunden wurden, welche das Ladinische noch zu sprechen wußten von ihrer Jugend her, wo es die Sprache des Thales gewesen. Auch sollen ehedem die Urkunden in den Gemeindeladen zu Graun, Matsch, Glurns nach Freiherrn von Hormayr rhätisch, will sagen romansch gewesen seyn. Ein sehr wichtiges Document wären die alten romanischen Satzungen des Spitals auf der Haide, doch ist die Angabe selbst sehr bedenklich. Andrerseits scheinen die Acten des berühmten Processes, der im Jahre 1519 vor Wilhelm von Haslingen, dem Richter zu Glurns, von Seite der Gemeinde Stilfs gegen die Feldmäuse allda geführt worden ist, **)[8] wieder darzuthun, daß schon damals die [283] deutsche Sprache hier verbreitet gewesen, oder wenigstens zeigen die Geschlechtsnamen, daß viele deutsche Familien da seßhaft waren. Immerhin ist zu bedenken, daß das Deutsche, welches von Meran und von Landeck her getragen wurde, im Hauptthale viel früher Fuß fassen mußte als in den unwegsamen Zuthälern von Taufers und von Matsch.

Eine gute Stunde unterhalb Schluderns geht rechts die Straße ab, welche über das Wormserjoch ins Veltelin führt und erst in den zwanziger Jahren beendigt worden ist. Sie steigt da von Prad an aufwärts, anfangs im engen Thale, dann wendeltreppenartig an nackten Höhen hin, zur Linken die ungeheuren gletscherreichen Halden des Ortles, immer höher bis in die Region des ewigen Schnees, aus welcher sie stets in großartiger Gegend rasch hinunterzieht in die schönen wälschen Gelände. Es ist der höchste fahrbare Paß in Europa, 8900 Fuß über dem Meere, und in Ansehung der schwierigen Ausführung als ein Weltwunder zu betrachten. Deßwegen wurde auch schon vieles darüber geschrieben, was Grund genug ist, hier davon nicht mehr zu reden.

Nicht so schnell können wir den Ortles aus den Augen lassen, den prachtvollen Berg, der das ganze obere Vintschgau mit seiner weißen glänzenden Majestät erfüllt. Die Ortlerspitze ist im Anfange dieses Jahrhunderts zum erstenmale erstiegen worden und die Nachricht davon im dritten Bande des tirolischen Sammlers niedergelegt. Erzherzog Johann machte dazumal seine erste Reise in Tirol und war, als er zuerst des ungeheuern Kegels ansichtig wurde, der Meinung, daß dieser hohe First den höchsten Bergen von Savoyen und der Schweiz wenig nachstehen dürfte. Es war Niemand zur Hand, der diese Meinung bestätigen oder widerlegen konnte; denn noch lag auf dem erhabenen Felsrücken unbetreten der vieltausendjährige Schnee. Der Bergofficier Gebhard erhielt sofort von dem Erzherzog den Auftrag, von Mals aus alles Nöthige einzuleiten, was die Ersteigung herbeiführen könnte. Manche Nachbarsleute versuchten nun, durch die versprochene Belohnung gereizt, ihr Glück, kehrten aber beschämt von den Fernern zurück ohne etwas ausgerichtet zu haben. Jede Hoffnung schien verloren, [284] als am 26 September 1804 ein kurzgewachsener Jäger aus Passeyer, Namens Joseph Pichler, insgemein Josele geheißen, sich bereit erklärte das Wagstück zu übernehmen. Es wurden ihm zwei Zillerthaler mitgegeben und sie kamen selbdritt, der kleine verwegene Gemsenjäger an der Spitze, am 27 Sept. wirklich auf die höchste Höhe des Ortles, wo sie aber nur vier Minuten aushielten. Tags darauf fanden sie glücklich wieder heim und hatten begreiflicherweise viel zu erzählen von den Schrecknissen, die sie überstanden. Auch war ihr Aussehen ganz darnach um ihre Berichte zu unterstützen. Ungerechnet der erfrorenen Finger und Zehen waren sie mit einer Schneekruste überzogen und der Sprache beraubt, da ein heftiger Wind den losen Schnee gegen sie geblasen hatte. Im darauffolgenden Jahre stieg der kühne Gebhard selbst dreimal auf die Spitze und ließ dabei einmal, um die hartgläubigen Malser zu überzeugen, auf der Kuppe eine mit betheertem Stroh überzogene Stange zur Nachtzeit anzünden, was den bekehrten Zweiflern ein prachtvolles Schauspiel gewährte. Darnach wurde der Berg zum erstenmale wieder 1826 von Geometer Schebelka aus Wien bestiegen und zwar unter großen Beschwerden, die im Tirolerboten selben Jahres beschrieben und mitunter etwas haarsträubend sind. Endlich 1834 warf auch Professor Thurwieser zu Salzburg, der König der rhätischen und norischen Bergsteiger, sein Auge auf ihn und fand sich, wie er im dritten Bändchen der neuen Zeitschrift des Ferdinandeums erzählt, am 10 August zu Churburg ein, wo er Josele, den Passeyrer, der zum erstenmale die Ortlerspitz erklommen, noch am Leben traf. Freilich war der Jäger unterdessen siebenzig Jahre alt geworden, aber noch muthvoll, rüstig und behend. Das lakonische Zwiegespräch, das Professor Thurwieser mit dem verwitterten Gesellen führte, malt recht anschaulich sein absonderliches Wesen. Am 11 August begab sich der gelehrte Bergsteiger mit Josele und dessen Sohne Lex nach Trafoi, ins Posthaus an der neuen Straße. Dort warben sie noch einen dritten Führer und begaben sich auf das Abenteuer. Die erste Nacht blieben sie auf dem Bergl, 6327 Pariser Fuß hoch über dem Meere, im Freien über Nacht. [285] Andern Tages 36 Minuten nach zwölf Uhr war die Spitze erreicht, deren Höhe zu 12044 Pariser Fuß bestimmt wurde. Das Wetter war gut und die Aussicht unermeßlich – um so lohnender nach den Fährlichkeiten, deren Darstellung dem mit solchen Begegnissen minder vertrauten Leser manchen Schauer erregt. Man erblickt dort die Hochgebirge des größten Theils von Tirol und sieht gegen Salzburg und Kärnthen hinein noch Kuppen, welche jenseits des Großglockners stehen. Der Spiegel des adriatischen Meeres, der doch in die Aussichtsweite fällt, war gleichwohl nicht mehr zu unterscheiden; bestimmt aber traten hervor die Gletscherhöhen der Lombardei, Piemonts, wahrscheinlich auch Savoyens, die Hörner der Schweiz und über diese und die Ferner des Oetzthales hinausging der Blick bis in die Ebenen von Bayern und Schwaben. Vier Jahre später unternahm der Postmeister von Prad mit fünf Begleitern, worunter ein sechzehnjähriges Mädchen, abermals eine Besteigung, welche ebenfalls glücklich ablief, indessen nicht näher beschrieben worden ist. Dieß ist die letzte, von der wir gelesen.

An dieser Stelle, wo die Ortlerstraße abgeht, macht übrigens das Thal eine Beugung. Das kalte Hochland der Gerichte von Nauders und Glurns, der Verwaltungsbezirk des Oberinnthals ist zu Ende und es beginnt das warme untere Vintschgau, ein verdeutschtes Italien. Rechts stehen die Eisberge, die Suldnerferner, die Gespannen des Ortles, mit weißen Scheiteln und grünen bewaldeten Abhängen, links liegen die Sonnenberge des Vintschgaus, zumeist dürre, gelbe, zerbröckelte Halden. Im Thale geht die Etsch, die sich vielfach in weite Moosgründe verliert, auf welchen man die Vintschger Gäule weiden sieht.

Eyrs, das erste Dorf nach diesem Scheidepunkt, weist an seinem Ende noch die verfallenen Mauern eines längst verlassenen Schlosses, worin die Grafen von Moosburg aus Bayern seßhaft gewesen. Ueber der Etsch am steilen Berghang steht das Dorf Tschengels, mit Wallfahrtskirche und der Tschengelser Burg, ehedem den Rittern von Tschengels, dann den Grafen von Lichtenstein gehörig. Nicht weit davon ist das neue Gebäude des heilsamen Bades zu Schgums, worin mit [286] ungemeiner Billigkeit und zarter Sorge gegen die Gäste verfahren werden soll.

Das Thal nimmt nun eine milde, liebliche und doch große Art an. Um die Dörfer lag noch immer der bläuliche Duft des Morgens, den der Rauch aus den Schornsteinen kräuselnd durchbrach. Ueberall ist Raum genug für Kornfelder und für Wiesen, und die dicken Vintschger Bauern, die des Weges kommen, sind an sich schon ein gutes Zeugniß für die Fruchtbarkeit des Bodens. Die Sonnenseite bietet zwar nicht viel zu schauen, aber die Schattenseite ist gerade hier am schönsten, denn oft führt der Blick an stürzenden Wassern, an weiten Almen und über unermeßliche Forsten hinauf in die glänzenden weißen Wildnisse der Ferner.

So gelangten wir allmählich in den Grund von Kortsch und Schlanders, wo auf einmal alle Reize südlicher Landschaft aufgehen, wo an der Straße Castanien und Nußbäume ihre dichten Schatten zu werfen anfangen, rechts und links goldene Korngefilde prangen, wo an den mürben Sonnenbergen die ersten Rebengelände sich zeigen und die alten Gemäuer mächtiger Burgen sich so häufen, daß kaum mehr Zeit übrig bleibt nach ihrem Namen zu fragen. Darunter ist vor Zeiten die angesehenste gewesen jene Veste auf hohem, jähem Bergstock über Schlanders, keck hingebaut an den schwindelnden Berghang und Schlandersberg genannt – ehedem der Stammsitz eines ritterlichen Geschlechts dieses Namens, aus welchem einer mit andern fünfunddreißig Herren vom Vintschgau in der Schlacht bei Sempach fiel. Später war Heinrich von Schlandersberg als ein streitbares Haupt bei dem großen Bunde der tirolischen Ritterschaft gegen Herzog Friedel, bei jenem Bunde, den der Fürst mit Hülfe seiner Bauern zu Boden schlug und dessen Vesten er eine nach der andern brach. Damals ging auch Reichthum, Gewalt und Ansehen der Schlandersberger unter und sie kamen so lange sie dauerten nicht mehr dazu, obgleich das alte Geschlecht erst im vorigen Jahrhunderte ausstarb.

Schlanders selbst ist ein großes Dorf mit steinernen, städtisch aneinander gebauten hohen Häusern. Auf dem andern Ufer der Etsch liegt das Dörflein Göflan, in dessen [287] Bergrevier die Brüche des schönen weißen Marmors sind, der als Schlanderser Marmor bis in die Werkstätten der Bildhauer zu München verführt wird.

Eine Stunde unter Schlanders liegt links von der Straße der noch wohl erhaltene Stammsitz der Edlen von Goldrain und darüber das Schloß Annenberg, ehemals den hochangesehenen Annenbergern zugehörig, die im vierzehnten Jahrhundert zur Zeit Margarethens eine große Hand im Lande hatten, und an Macht und Reichthum es den ersten Geschlechtern des Landes gleich thaten. Anton von Annenberg, der in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts lebte, ist im Vaterlande berühmt geworden durch den regen Fleiß mit dem er den Wissenschaften oblag und Minnegesänge und Heldenlieder aus der Zeit der Hohenstaufen wie die ersten Drucke der römischen Schriftsteller und der Kirchenväter auf seiner Burg zusammenbrachte. Die Annenberger sind jetzt auch ausgestorben; das Schloß selbst ist verkauft und sitzt jetzt ein Bauer in der alten Burg. Auf der andern Seite der Etsch liegen die Vesten Ober- und Untermontan, welche einst den Eppanern gehörten. Das erstere war auch einmal im Besitz der Annenberger, und vor mehreren Jahren hat man da zufällig noch etliche vergessene Nummern ihrer Bibliothek aufgefunden, darunter auch eine werthvolle Handschrift des Nibelungenliedes, welche nach Berlin verkauft worden ist.

Weiter zogen wir gen Latsch, aus dem die Trümmer der Burg Latsch aufragen, vor Zeiten ein Sitz der Annenberger. Heinrich von Annenberg hat auch das Spital zu Latsch gestiftet, wo ein schöner gothischer Altar und an den Wänden etliche alte Malerei. Latsch ist auch eines besondern Erzeugnisses wegen berühmt, nämlich der Vintschgerzelten wegen, die in Tirol großer Beliebtheit genießen, obgleich der Fremde allererst nicht recht absehen kann aus welchen Gründen. Es sind dünne Scheiben, braun wie Lebkuchen, oberhalb mit einer zarten weißen Lasur überzogen. Frisch werden sie selten gegessen; man hält sie erst für lecker, wenn sie ganz trocken geworden. Sie werden dann über dem Knie gebrochen oder mit dem Messer zerhauen und in kleinen Brocken aufgetragen. Uebrigens [288] sind die Zelten[WS 1] von Latsch nur gesuchter als das Gebäcke anderer Dörfer des Etschlandes, und das Verfahren ist überall ziemlich dasselbe. Die Landleute haben dabei den besondern Vortheil, daß sie des Jahres nur drei- oder viermal backen dürfen. Der Vorrath wird mittlerweile in langen Rahmen auf dem Speicher aufgestapelt.

Die Schnelligkeit unsers Ganges scheint uns übrigens verhindert zu haben den mongolischen Schädelbau zu bemerken, welcher dem Landvolke zwischen Laas und Latsch nach einem tirolischen Racenforscher eigen seyn soll. Es ist dieß Herr von Goldrainer, der ehemalige Besitzer von Schänna bei Meran, und die Bemerkung kömmt uns durch August Lewald, der sie auf Seite 280 seines Tirolerbuches mittheilt.

Eine halbe Stunde unter Latsch stehen auf einem großen Felsblock die Ruinen des Schlosses von Castelbell, vor nicht langer Zeit noch ein wohnlicher Rittersitz, dann durch einen Brand zu stolzen Trümmern geworden. Sie sind, obgleich ihnen die Weihe fehlt, die auf langvergangener Zerstörung ruht, doch ein schöner Schmuck der Straße, über der sie wie eine zackige Krone ruhen.

Nicht weit davon auf derselben Seite liegen schier ganz verkommen die Trümmer von Hochgalsaun, das auch einmal seinen Namen wehrhaft bekannt machte, einst ein Gut der Herren von Schlandersberg, deßwegen auch von Herzog Friedrich in Schutt gelegt. An den Fall dieser Burg knüpft die Sage dieselbe Begebenheit, welche die Lieder von Weinsberg in Schwaben singen. Es soll nämlich dazumal eine geborne von Freiberg, die Ehefrau des Herrn von Schlandersberg, den Herzog gebeten haben, daß sie mit dem, was sie selbst aus dem Schlosse tragen könnte, flüchten dürfe. Nachdem ihr dieß zugesagt worden, habe sie ihren Eheherrn auf den Rücken genommen und an dem lachenden Fürsten vorüber in die Freiheit getragen. Bekanntlich kömmt diese Sage noch an verschiedenen andern Orten vor.

Sofort erreichten wir auch das Dörflein Staben, über dem hoch oben die schöne Burg Jufal liegt, an welcher wir voriges Jahr aus dem Schnalserthale kommend vorübergingen. [289] Am Fuß des steilen Berges, der die Burg trägt, bricht durch die enge schwarze Felsenschlucht der Schnalserbach heraus. An den jähen Wänden oben geht auch, weit her aus dem Innern des Thales, eine hölzerne Wasserleitung, welche die Einwohner von Naturns, dem nächsten Dorfe, angelegt haben, um die dürren Aecker und Wiesen an der Sonnenseite zu wässern. Auf der andern Seite ist des Wassers dagegen wieder zu viel. Da befeuchtet die Etsch weites Sumpfland und erzeugt im Sommer schwierige Krankheiten. Ueber dem Dorfe wieder ein Schloß, Namens Hochnaturns; auf der andern Seite der Etsch, etwas abwärts, ein zweites in reicher Landschaft, Tarantsberg, jetzt Dornsberg, das seinen Namen von den Edlen von Tarant führt, welche schon im vierzehnten Jahrhundert ausgestorben sind. Später kam es als tirolisches Lehen an die Annenberger und jetzt ist es der Aufenthalt der Grafen von Mohr.

Die zahlreichen Burgen des Vintschgaus sind ein großer Reiz dieser Landschaft, aber es ist so viel leichter sie zu sehen und sich an ihnen zu erfreuen, als sie dem Leser durch Schilderung vor Augen zu bringen. Glücklicherweise sind sie schon alle mannichfach gezeichnet und in englischen Stahlstichen vervielfältigt worden. Auch mit ihrer Geschichte kann sich der Vorbeiziehende nicht ausgiebig beschäftigen, und wir haben es zunächst bei etlichen Namen- und Zeitangaben bewenden lassen. So viele ritterliche Liebes- und Heldenthaten ein romantisches Gemüth in die grauen Trümmer zu verlegen berechtiget ist, so sind doch die Summarien, welche mit Hülfe vergilbter Documente über ihre einstigen Schicksale hergestellt worden, sehr dürftig. Die Erbauung der meisten fällt in die graue Vorzeit, und es hindert nichts auch in ihnen etliche von denen zu sehen, welche Horatius die arces Alpibus impositas tremendis nannte. In der historischen Zeit dreht sich ihre Geschichte zumeist um aussenden, zu Lehen nehmen, um bestrittenes, erzwungenes, zugestandenes Oeffnungsrecht, um Verkauf, Abbruch, Wiederaufbau – um Nachrichten, die dem Provincialhistoriker höchst anziehend sind, die aber der unterhaltungssüchtige Leser schockweise herlassen würde für einen interessanten [290] Jahrgang aus dem Tagebuch eines mittelalterlichen Edelfräuleins. Eine belehrende und den trockenen Stoff kunstreich bewältigende Darstellung der ritterschaftlichen Verhältnisse, wie sie nicht allein im Vintschgau, sondern hinab bis gegen Trient, im dreizehnten Jahrhundert bestanden, hat Freiherr von Hormayr am Schlusse seiner Chronik der Grafen von Eppan gegeben. Als Herzog Friedrich mit der leeren Tasche lebte, waren aber fast alle diese Burgen wieder bei ganz andern Herren. Zumal hatten nun die Starkenberger, deren Stammburg nicht ferne von Imst steht, viele feste Schlösser, so im Vintschgau wie im Etschland; Schlandersberg, Naturns, Jufal, Vorst, Schänna, Eschenloh und Greifenstein waren in ihren Händen, wurden aber eben deßwegen von Herzog Friedrich gebrochen, wobei sein Büchsenmeister Abraham von Memmingen sich viel Verdienst erwarb. Auffallend ist es daß der Anblick dieser schönen Castelle, der herrlichen Landschaft und des eigenthümlichen Volks im Etschlande noch keine Walter Scott’schen Richtungen, sey’s nun unter den Tirolern oder unter fahrenden Belletristen hervorgerufen hat. Die Ufer der Etsch können was poetische Eindrücke betrifft gewiß mit denen des Rheins in Streit gehen.

Nunmehr öffnet sich auch ein Blick durch die Kluft der Töll hinunter auf die Höhen von Meran, und die schönen Hoffnungen, die bei dieser Ansicht aufgehen, müssen trösten für etwa anderthalb Stunden Wegs, die nach all dem Reichthum der Landschaft, wie sie sich von Mals herab Schritt für Schritt erschlossen hat, fast etwas Trübseliges haben. Die Straße zieht zwischen Weidenbaümen in langer Zeile hin, rechts sind bebuschte Sümpfe und unwegsame Erlenauen, zu beiden Seiten wenig bewohnte unliebliche Berge.

Und nun war’s auch nicht mehr weit bis zur Stelle, wo links im Thale, in das ein schöner Wasserfall stürzt, das kühle Partschins liegt, mancher wohlhabenden Meraner Familie Sommerfrische, rechts dagegen das neuhergerichtete vielbelobte Egart-Bad und gerade voran die Töll, die ehemalige Zollstätte, deren großes Gebäude noch jetzt an der Straße steht, hoch berühmt wegen der herrlichen Ansicht der Gefilde von [291] Meran, die da zum erstenmale in all ihrem paradiesischen Reichthum sich auseinander legen. Da sah ich sie mit Freuden wieder die Burg von Tirol und den hohen Thurm des Städtchens und alle die Schlösser und Dörfer und Höfe und Kirchen und Capellen, die auf den Bergen herum und hinauf liegen bis zu St. Katharina in der Schart und hinab bis an die Mendel, die den Boznern in die Gassen schaut, alles verbunden durch schöne Auen, durch die Bogengänge der Reben und die buschigen Obstbaumwälder, alles so feierlich angemeldet durch die Donner der Etsch, die hier weißschäumend in das tirolische Eden hinunterspringt. Und erst das laute Entzücken, in das der nordische Gefährte ausbrach, als er zum erstenmale im Leben dieser südlichen Schönheit in die Augen sah. Was war da zu sagen und zu deuten bis nur einmal das Schönste von all dem erklärt war, so wir auf Stunden hinaus im warmen Licht der Nähe, im blauen Duft der Ferne erblickten. So gingen wir heiter und frisch, plaudernd und schweigend, aber nachhaltig erstaunt und bewundernd auf der Heerstraße fort, die sich in sanfter Senkung abwärts zieht. Reichbelaubte Kastanienbäume säuselten leise ober unsern Häuptern. Allerlei malerische Häuser und Hütten stehen an dem Wege, halb verdeckt vom Laubwerke, grün umgürtet von den Weingeländen, die Herbergen schlanker Männer und schöner Mädchen, die jetzt von des Tages Arbeit heimwärts zur Ruhe zogen. Dann kamen wir auch wieder unter den Lauben durch, die mit dichten Schatten sich über die Straße wölben, von einem Rande zum andern und voll von Trauben hängen. Die höchste Ehre im niedlichen Aufputz der Landschaft muß man in der That der Rebe lassen – ihre bacchische Fruchtschnur geht überall hin, wo es etwas zu verzieren gibt, über Felsen und Bäume, an den Häusern hinauf und in die Stuben hinein und sogar um die Crucifixe schlingt sie sich und umwindet den Erlöser mit ihrem erfrischenden Laub und hängt dem leidenden Christus ihre blauen Trauben kühlend über die Brust.

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Veröffentlicht von josefauer.com

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