Drei Sommer in Tirol – Das Stubaital

von Ludwig Steub

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Das Lisenser Jöchel, welches nach Stubei hinüberführt, scheint keines von denen zu seyn, die man gerne besteigt. In Innsbruck war nur wenige Kunde darüber einzuziehen, doch [485] lautete diese eher günstig. Ich wollte mir daher den Weg nur beschreiben lassen und keinen Führer mitnehmen, aber Hans Krapf, der Schaffner zu Lisens, hatte die Barmherzigkeit, hievon keine Notiz zu nehmen und mich fast wider meinen Willen zu begleiten, was mir später auch keineswegs leid war.

Der erste Aufweg ging über Wiesengrund. Schön war die Ansicht des Ferners, dessen Auslauf bald zu unsern Füßen lag. Als wir etwa anderthalb Stunden gestiegen waren, wurde die Landschaft öde, hochjochartig, tauernmäßig. Wir sahen auf den fernen Grat und auf die Schneefelder, die darum herlagen. Lange Zeit traten wir auf steilangelagertes rutschendes Gerölle, auf braune Platten, die nach Umständen übereinander fortschossen, unter den Tritten aber zusammen knackten.

Nachdem der lange mühsame Gang über diese knatternden Kacheln zurückgelegt, kamen wir auf körnigen Sand, der sich in jäher Halde zum Joche hinaufzog. Diese letzte Strecke erachtete ich für das unliebste Gehen, das mir bis dahin im Gebirge zur Aufgabe geworden. Der Sand gab bei jedem Schritte nach und wer einmal ins Gleiten kam, dem war wohl schwer zu helfen. Hans Krapf sah auch meine Noth und trat vorausgehend mit Behutsamkeit die Schritte in den Sand; manchmal reichte er mir auch die Hand, und wenn’s ihm dünkte, daß von unten besser zu wirken sey, so kehrte er um und schob mich aufwärts. In dieser Art kamen wir denn doch zuletzt glücklich auf das Joch, einen schmalen, zwischen wilde Höhen eingekerbten Sattel, der so schneidig ist, daß man sich darauf setzen und die Füße beiderseits rittlings zu Thale hängen kann. Die Aussicht ist nicht zu rühmen; sie geht nicht in die Tiefen von Stubei und von der Thalebene von Lisens ist gar nichts mehr sichtbar. Das Horn, das sich in nächster Nähe nördlich erhebt, ist die Villerspitze, die vor Zeiten, als man die Berge noch mit dem Auge und nicht mit dem Barometer maß, für eine der drei höchsten im Lande galt, wie der alte Reim besagt: [486]

Der Hager in Gschnitz
Und die Villerspitz
Und die Martinswand
Sind die höchsten im Land.

Auf der andern Seite des Joches hinabzugehen ist eine sehr einfache und ungewagte Sache. Es zeigt sich bald ein Bach, der zum Führer wird. Ueber sein Rinnsal fanden sich noch vom letzten Winter her etliche Schneebogen gespannt, blaue gothische Gewölbe, von denen die Tropfen mit hübschem Geläute herunter fielen. Nach einstündigem Gange, immer rasch zu Thale, war ich in Oberisse, einer kleinen Ansiedlung von Sennhütten. Eigentlich hatte ich den Weg verfehlt, da ich nach Alpein gewollt, um den Ferner zu sehen. Um dahin zu gelangen, wäre vom Joche aus rechts zu gehen gewesen; ich war gerade aus gegangen.

Die Sennhütten zu Oberisse sind meist gemauert und gut eingerichtet. Die Wasserkraft wird hier zum Butterrühren benutzt; ein Arm des Baches treibt kleine Räder, an welche das Butterfaß gelegt wird, so daß sich die Butter von selbsten „schlegelt.“ An andern Orten sieht man auch solche Rädchen mittelst einer Schnur die Wiege schaukeln, die drinnen in der Stube steht. Ein Wirthshaus ist nicht auf der Alm, doch findet sich eine Kaser, wo allenfalls Wein und Brod zu haben. In dieser traf ich vier Gäste, drei erwachsene Sennen und einen Knaben, dazu die Sennerin und ihren jüngern Bruder. Die Männer saßen auf der Bank, die sich um die Feuerstelle herzieht, halb im Rauch verhüllt und schmauchten plaudernd, die Sennerin ging ab und zu und redete wenig. Sie war ein sehr schönes Mädchen, fast zu schön für diese Einsamkeit. Um den Alpeiner Ferner zu erreichen und wieder bei Tage zurückzukommen, war’s zu spät, blieb also nichts übrig, als bis zum Morgen zu warten. Ich war etwas besorgt daß das Hirtenmädchen sich die Einlagerung verbitten würde, aber der eine der Gäste sprach mir Muth zu, sagte, das komme öfter vor, und die Sennerin sey überhaupt nicht so „schiech“ als sie thue. Dieß begleitete er mit einem ironischen Lächeln, was die Alpenmaid dadurch bestrafte, daß sie ohne ein Wort [487] zu sagen aufstand und floh. Bald hatten auch die Sennen ihren Branntwein ausgetrunken und gingen fort, so daß ich mit dem Mädchen und ihrem wenig sichtbaren Bruder allein blieb. Ich habe ohne Ruhm zu melden ihrem schönen Mund nicht zwanzig Worte zu entlocken gewußt, von allem andern, was die scherzhaften Reden des Sennen andeuteten, ganz zu geschweigen.

So saß ich also zumeist allein im leichten Rauch des Herdes auf der hohen Bank, trank ein paar Gläser Wein und nährte mich von Brod und Käse. Meine Augen beschäftigten sich mit Kübeln, Pfannen, Milchschüsseln, Butterfässern und einer Menge unbeschreiblichen Plunders, der ringsumher stand, lag und hing. Die Luft war kühl und das Herdfeuer daher sehr erquickend.

Die Nacht war noch nicht ganz hereingebrochen, als das Mädchen kam und mir bemerkte, es sey Zeit zur Ruhe zu gehen; sie seyen schläfrig, die Nacht vorher habe eine Kuh gekälbert und sie um allen Schlaf gebracht. Ich überließ mich ihr mit völliger Hingebung, wohin sie mich auch führen würde. Sie aber leitete mich aus der Hütte und hinten an den Heustadel hin, zu dessen Dachraum eine Leiter emporging. Hier solle ich hinaufsteigen, oben werde ich warmes Heu und eine Decke finden. Gute Nacht!

Oben unterm Dach fand ich wirklich warmes Heu genug und nach einigem Tappen auch eine wollene Decke. Ich grub mir mein Lager in das weiche Bett und nahm die Decke über mich, recht eigentlich bis an die Ohren herauf. Es war nämlich kalt im Speicher, da zwischen Dach und Seitenwand ein handbreiter offener Raum für den nöthigen Luftzug gelassen war. Obgleich es noch früh an der Zeit, so kam doch bald ein süßer Schlummer über den müden Wanderer.

Mitten in der Nacht erwachte ich. Ein langer gleißender Lichtstreif stoß über mich hin und im ersten Taumel glaubte ich, die Decke brenne. Ich fuhr auf und sah durch eine Dachspalte in den lieben Mond, der da herein seinen harmlosen Glanz ergoß. Ich öffnete die Thüre und trat hinaus an die Leiter. Unendliche, tiefe Bergeinsamkeit im verklärenden [488] Mondenschimmer! Die stillen Alpenweiden, die starren Schrofen, die hohen Jöcher mit den glänzenden Schneefeldern, alles so lautlos und feierlich! Nur der Bach, der tosende, sprach sein Wort in dieser Stille und zwar zehnmal wilder, als am hellen Tage.

Als ich in der Frühe die Decke abgeschüttelt und die Thüre geöffnet hatte, war alles neblig, um und um, die Bergspitzen sämmtlich verhüllt, selbst die niedern Weiden nicht frei. Gleichwohl hoffte ich, die Luft würde ihren Trübsinn noch zeitig lassen und machte mich auf, dem Bach entlang gegen Alpein zu gehen, da ich denn, einmal in solcher Nähe, nicht gerne wieder abziehen wollte, ohne den Ferner gesehen zu haben. Ich kam bis an den hohen Bergvorhang, wo der Steig steil aufwärts geht. Dort ist ein brüllender Wasserfall, der stäubend in ein Felsengrab springt, um sich in grauenvollen Wirbeln wieder daraus loszureißen. Als ich mit wonnevollem Grausen das Bild beschaute, begann es zu regnen. So kehrte ich zurück zu meiner lieben Sennerin.

Des Mädchens Trutzlichkeit war noch wie am Abende vorher. Ich dachte wir würden uns jetzt bei dem trüben Regen durch Gespräch die Zeit vertreiben und unsre Ideen friedfertig austauschen, allein sie hatte genug an den ihren und wollte nichts von den meinigen. Drum setzte ich mich allein ins Kämmerlein, zog meinen Bleistift heraus und schrieb an meinem Tagebuche, während der Regen draußen plätschernd von den Schindeln lief.

So wartete ich bis 10 Uhr, und da hörte zwar der Regen auf, aber die Nebel saßen noch immer fest im Thale und thaten nicht, als wenn sie sich verziehen wollten. Deßwegen schien’s mir gut, mich mit den bereits gesehenen Fernern zu trösten und den schönen von Alpein sich selbst zu überlassen. Also ging ich – und Niemand gab mir das Geleite, nicht einmal bis zur Thüre – bergabwärts, einen sehr, gangbaren Weg, kam noch durch ein Dorf von Sennhütten und dann wieder in perennirend bewohnte Gegenden, wo hübsche Häuser, steinerne und hölzerne, eines über dem andern an den Halden hinauf standen, umgeben von Gerstenfeldern, die eben gemäht [489] waren, bis herab nach Neustift, das in einem milden Thale liegt, im grünen Laub der Bäume, die sich an dem Fernerbach hinziehen, wie die Weiden an den Lechcanälen bei Augsburg.

Da man nicht gerne einen Zug verschweigt, der irgend einen mißfälligen Schatten mildern kann, so erwähne ich auch mit Vergnügen, daß mir der Wirth von Neustift anvertraut, das Mädchen auf der Alm zu Isse sey eine besonders brave und rechtschaffene Person. Aber gar so viel wenig reden thut sie – meinte ich. Ach, sagte der Andre, sie würde schon freundlicher seyn, wenn sie besser mit Ihnen bekannt wäre. Ich dankte ihm herzlich für diese Beruhigung.

Im vorigen Jahrhundert lebte zu Neustift Franz Penz, ein Priester, der aber nicht allein die Seelen auferbaute, sondern auch Kirchen und Pfarrhäuser. Er war ein Bauernsohn aus dem kleinen Thale Navis, das bei Steinach in das Wippthal ausmündet. Kaum hatte ihn der Bischof zum Priester geweiht, als er so verläßliche Zeichen seines inwohnenden Meisterthums an den Tag legte, daß ihn seine geistliche Obrigkeit immer an solche Orte als Seelsorger stellte, wo zugleich auch Bauten zu führen waren. Er löste alle diese Aufgaben zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten wie der betheiligten Gemeinden und erlangte so allmählich große Anerkennung. Man weiß von vierzehn Kirchen und acht Pfarrhäusern, deren Bau er geleitet. Die Kirchen, die ich von ihm gesehen, und so auch die große Kirche zu Neustift, sind helle reinliche Säle in mildem Zopfstyle gehalten, sehr aufgeklärte Räume, ohne alle Mystik der Andacht, ohne alles Helldunkel, das der deutsche Beter braucht, um mit unserm Herrgott reden zu können. Es ist landesüblich sie zu bewundern, sie werden indessen nicht jeden überraschen. Ueberdieß liegt die Vermuthung nahe, der Pfarrer Franz Penz sey auch einer von denen gewesen, welche die alten ehrwürdigen gothischen Kirchlein, statt sie zu stützen und zu erhalten, niedergerissen, um ihre eigenen Kunststücke an die Stelle zu setzen. Ihm, als Mann des vorigen Jahrhunderts, wird man das noch lieber verzeihen, als den traurigen Baumeistern, die zu dieser Zeit in den [490] Alpen handthieren und neuen Inventionen obliegen. Ich für meinen Theil, meine wähnen zu dürfen, daß den grünen Alpen nichts besser steht, als die Gothik des deutschen Mittelalters. Es ragt nichts schöner auf dem Felsenschopfe, es lockt nichts heimlicher im engen Thal, als die spitzbogigen, spitzthurmigen Kirchlein, die unsre Väter auferbaut. Bis einmal der Genius neue Bahnen gebrochen hat, möchte es drum viel gerathener seyn, dieses Alte bescheiden nachzuahmen, als erbärmliche Originale zu geben.

Vulpmes ist das größte Dorf in Stubei und das Herz des Thales. Hier sind nämlich die weltberühmten Eisenschmieden, und die ganze Ortschaft hat ein vulcanisches Gepräge. Ueber diese Industrie der Stubeier hat sich ein Aufsatz im ersten Band der Zeitschrift für Tirol und Vorarlberg sehr belehrend verbreitet. Wir entnehmen daraus vorerst, daß es nicht mehr auszumachen, in welchem Jahrhunderte zu Vulpmes jenes Gewerbe angefangen. Gewiß gaben die Eisengruben, die in der Nähe betrieben wurden, die erste Veranlassung dazu. Jetzt sind diese längst eingegangen, und nur mehr Spuren alter Betriebsgebäude vorhanden, nebst vielen verschollenen Erzanbrüchen in dem Gebirge und etlichen Urkunden aus dem fünfzehnten Jahrhundert, die sogar von Goldbergwerken in der Vulpmer Alpe sprechen. Aber die hephästische[WS 2] Kunst hat sich bei den Vulpmern erhalten, obgleich sie nunmehr ihr Eisen weit herauf aus Kärnthen und Steiermark beziehen müssen, da das tirolische für sie theils zu theuer, theils zu schlecht ist. Die Handelschaft der Stubeier nahm übrigens ganz denselben Verlauf, wie die der Grödner. Allererst trugen etliche Schmiede, die in der Nähe keinen Absatz fanden, ihr Geschmeide auf dem Rücken von Ort zu Ort in den heimathlichen Bergen und in der benachbarten Fremde. Dieses hausirende Geschlecht ist nach der Volkssage von fabelhafter Leibesstärke gewesen. Am Ende des siebenzehnten Jahrhunderts leuchteten darunter besonders drei Brüder, Thomas, Martin und Georg, die Tanzer von Neustift hervor. Georg Tanzer soll einmal vor dem Mauthhause zu Schaffhausen mit acht Centnern Eisen angekommen seyn, die [491] er so eben allein aus Stubei herausgetragen hatte. Der Rath zu Schaffhausen ehrte seine Tugend durch Verleihung lebenslänglicher Zollfreiheit und ließ ihn auf dem dortigen Mauthhause abmalen. Thomas, der andre Tanzer, trug acht Centner Salz von Hall nach Neustift; Martin, der Dritte, übertraf aber seine beiden Brüder noch an Stärke und konnte einen beladenen Frachtwagen heben und von einer Seite auf die andre schieben. Da er mitunter ein Viehdieb war, so nahm er ein schlechtes Ende, indem er eines Tages auf der Gallwiese bei Innsbruck von vielen Menschen und Hunden gefangen und nach gefälltem Urtheil gehängt wurde. In frühere Zeiten hinauf geht die Sage von dem Unholdshof, der zwischen Greut und Telfes liegt. Dort soll ehemals eine Familie gelebt haben, die wegen ihrer ungeheuern Leibesstärke unter dem Namen der Unholden von Stubei bekannt war.

Anfangs also gingen die Stubeier mit dem Tragkorbe, mit der Krakse, in die Welt. Aus der Krakse entstand mit der Zeit ein Wagen, dessen erste Erscheinung man ins Jahr 1680 setzt. Nach diesem fanden es einige vortheilhafter, das Schmiedehandwerk in der Heimath ganz aufzugeben und sich bloß der Handelschaft zu widmen, was dann wieder zur Errichtung von Handelsgesellschaften führte, die ihre Unternehmungen mit zusammengeschossenen Capitalien betrieben. Man hat Nachrichten, daß diese Gesellschaften in der Zeit des siebenjährigen Kriegs sich besonders vermehrten und hervorthaten.

Endlich im Anfange dieses Jahrhunderts fand man, daß der Aufwand, den die wandernden Bevollmächtigten auf ihren Reisen zu machen hatten, wegen wachsender Theurung der Lebensmittel und abnehmender Sparsamkeit von Jahr zu Jahr steige, und um diesem Nachtheil zu steuern löste man die Gesellschaften auf und errichtete in Vulpmes Waarenlager, aus denen die Abnehmer des In- und Auslandes, zumal die zahlreichen Stubeier Handlungen, die sich in Süddeutschland niedergelassen, ihren Bedarf erheben konnten. Das ganze Eisengewerbe beschäftigte im Jahr 1825 dreiundneunzig Meister mit etwa hundertunddreißig Gesellen und hundert Hülfsarbeitern aus dem Bauernstande; damals wurden jährlich ungefähr 2200 [492] Centner rohes Material verarbeitet; der Ankaufspreis desselben wurde auf 45,000 fl. geschätzt, der Bedarf an Kohlen u. s. w. auf 6000 fl., sohin die Vorauslage auf 51,000 fl., der Erlös auf 115,000 fl. Diese Ziffern sind aber seitdem um ein Gutes herabgegangen, denn der Flor von Stubei war in den letzten zwanzig Jahren in fortwährendem Sinken, wie auch die Volkszahl im ganzen Thale seit dem vorigen Jahrhundert abgenommen hat, so daß sie, die im Jahre 1763 4968 Seelen betragen, im Jahre 1840 nur mehr auf 3800 sich belief. Staffler zählt in Vulpmes noch siebenundsechzig Werkstätten und zweihundert Arbeiter. Die Eisenwaaren, welche jährlich in den Handel kommen, schätzt er dagegen auf 3500 bis 3800 Centner.

So sind denn die Stubeier Schmiede jetzt in denselben Zuständen, wie die Grödner Schnitzler und sind auch von den gleichen Anfängen ausgegangen. Ehemals zogen jährlich bei dritthalbhundert Menschen ins Ausland, die dann nach kurzer Abwesenheit wieder in die Heimath zurückkehrten. Der Gewinn, den der Handel abgeworfen, wurde auf den Ackerbau und auf Erweiterung der angestammten Feldungen verwendet; daher dann im höhern Alter ein otium cum dignitate, Ruhe und Wohlstand, daher übrigens auch wie in Gröden, ein paar Menschenalter lang ungeheuer hoher Preis des Bodens. Heirathen mit Ausländerinnen gestattete die Sitte nicht, gänzliches Aufgeben der Heimath verbot die Sehnsucht nach dem Thale. So kehrten sie von ihren Wanderungen immer sicher wieder, legten das feinere Gewand, das sie im Ausland getragen, wieder ab, und waren Thälerer wie vorher. Daher auch zu jenen Zeiten, wie in Gröden, wie im Lechthale, wie im Engadein Bauersleute genug, die mit französisch und italienisch renommiren konnten und am Sonntag nach dem Essen das Tarockspiel betrieben. Jetzt da sich die auswärtigen Eisenhandlungen alle von dem Mutterländchen abgelöst, sind diese großweltischen Züge in der Physiognomie des kleinen Thales wieder lange verwischt, wie denn auch jene Händler, die sich in der Fremde niedergelassen, alle Spuren ihrer Herkunft abgestreift haben, so daß die „halbbürgerliche [493] Kleidung, die sie im Auslande tragen, bestehend aus langem blauem Rocke, Hosen von schwarzem Manchester, grünem Hosenträger, weißen Strümpfen und grünem Hut“ wenigstens bei den Münchner Stubeiern, bei den HH. Hofer und Triendl, Pittl und Ralling schon vor langen Jahren bei Seite gelegt worden ist. Die jetzigen Verleger sind übrigens feine artige Leute, die Reisen gemacht haben und Sprachen sprechen, aber dafür auch ganz als Städter leben. Im Pfurtscheller’schen Verlage wurde ich mit vieler Freundlichkeit herumgeführt. Er enthält übrigens nur rohere Waare für den Bedarf des Kleinbürgers und des Landmannes, wie sich denn überhaupt die Stubeier auf die feinern Stahlarbeiten nicht verlegen.

Fügen wir hier noch bei, was der Verfasser jenes Aufsatzes über den Bauern in diesem Thale berichtet. Es möchte zwar bedenklich scheinen, daß diese Schilderung des Stubeier Lebens gar zu sichtlich nach dem gearbeitet ist, was Walcher in seinem Büchlein von 1773 über die Oetzthaler Bauern sagt, aber es paßt das Bild auf beide Thäler, die an Bequemlichkeit des Anbaues nichts vor einander voraus haben, ja mehr oder weniger wohl auf alle Hochthäler des Landes. Der Stubeier also ist unermüdlich und seinen Fleiß überwindet weder Schwierigkeit noch Gefahr. Jedes Plätzchen, das eine Pflege zuläßt, ist benützt; um eine Handvoll Heu klettern die Männer den Ziegen nach auf die steilsten Schrofen, nicht abgeschreckt durch Verstümmelung oder Tod, was die Stürzenden so oft erleiden. Die Mähder, die auf den jähen Bergwiesen arbeiten, binden sich mit Stricken zusammen, um sich vor dem Fall zu schützen und die Holzhauer fällen ihre Bäume unbekümmert um den tiefsten Abgrund, von dem ihren Fuß nur unsicheres Gestrüppe trennt. Um eine Spanne Raum zum Ackerbau zu gewinnen, trägt der Bauer die Erde auf dem Rücken an den steilen Anhängen hinauf; spült der Regen die Erde herab oder verführt sie der Wind, so beginnt er im Frühjahre seine Arbeit von neuem, wenn er auch weiß, daß sie der Herbst wieder zerstört. So kämpft er auch ewig mit dem Wildbache. Wenn ihm dieser seine Felder wegreißt, so hat er zwar nur das traurige Nachschauen, wenn er sie aber bloß [494] mit Sand und Felsblöcken überschüttet, so geht er ruhig an die mühevolle Arbeit des Abräumens der Gries- und Schotterlage. Diese schichtet er in Haufen, gräbt dann die darunterliegende gute Erde aus und wirft sie ebenfalls auf Haufen. In das Loch, das so entsteht, wird der Schotter versenkt und dann die Erde darauf gelegt – eine Mühewaltung, die man das Wenden heißt. Selbst Felder, die das Wasser davon getragen, sind zuweilen wieder hergestellt worden. So hatten die Hofbauern zu Auten schon vor vielen Jahren einmal ihre Aecker alle und einen guten Theil ihrer Wiesen durch eine Überschwemmung eingebüßt; nur dürrer Kiesboden war zurückgeblieben. Um diesen wieder ergrünen zu lassen, suchten die Leute an den Bergen herum so viel fruchtbare Erde zusammen, um die öde Fläche zu überdecken. Und wo der Gräuel der Verwüstung Mitleid und Trauer erregt hatte, da sproßten bald nachher wieder schöne Saaten. Die Verheerungen die der Rutzbach anstiftet, sind übrigens erschrecklich. Was er in den Jahren 1772, 1776 und 1789 gethan, steht noch in düsterm Angedenken. Der Schaden wurde damals auf 400,000 fl. berechnet. Im Jahr 1807 brach ein Unglück herein, welches zwar nur Vulpmes bedrohte, aber dieß auch mit völligem Untergang. Ein Ungewitter mit Wolkenbruch, das am 30 August vorüberzog, schmolz nämlich die Schneelawinen, die sich seit mehreren Jahren in der Schlicker Alm ober dem Dorfe angelagert hatten. So wurde das Schlicker Bächlein, sonst ein friedliches Mühlwasser, zum tobenden Strom, wüthete zwölf Tage, zerriß dreizehn Brücken und einundzwanzig Gebäude, beschädigte etliche vierzig durch die Felsenstücke, die er an ihre Mauern schleuderte und ließ einen Schaden zurück, der sich auf mehr als 100,000 fl. belief.

Vieles wird am angeführten Orte auch von der Viehzucht der Stubeier erzählt; weniger vom Ackerbau, der auch hier für den Bedarf des Thales nicht zureicht. Es kommen alle Feldfrüchte vor, wie sie in Nordtirol gebaut werden, außer Mais und Weizen. Aepfel und Birnen gibt’s nur zu Telfes am Eingange des Thales, Kirschen noch zu Neustift. Ein andres Erzeugniß des Thales ist die Stubeier Sulze, [495] welche wenigstens zu des Verfassers Zeit von Joseph Schmied zu Vulpmes aus Bergkräutern verfertiget wurde, die er selbst noch in einem Alter von fünfundachtzig Jahren auf den höchsten Alpen suchte. Sie wurde durch die prüfenden Aerzte als ein treffliches Heilmittel für Brustkrankheiten erkannt. Sonst nennt der Verfasser die Stubeier ehrlich, offen, religiös und folgsam gegen die Befehle der Obrigkeit. Schade, daß er, der so gut mit den Thälerern vertraut war, nicht auch etliche Sagen, etliche weitere Einzelnheiten über ihre Sitten und ihr Leben mitgetheilt hat.

Von Vulpmes steigt man nach Mieders hinauf, das hoch über dem Rutzbache und seinem walddunkeln Rinnsal liegt. Es ist der Sitz des Landgerichts und hat eine Badeanstalt, die von den Innsbruckern etwa eben so für die ihrige angesehen wird, wie die Bozener Ratzes als ihr Leibbad betrachten. Man findet da gemächliche und reinliche Sommerwohnung und im Wirthshaus zur Traube einen guten Tisch. Es ist in den schönen Monaten des Jahres ein sehr heitrer Aufenthalt, denn die Innsbrucker führen keinen Trübsinn aus. „Es findet selbst, sagt der Verfasser der Beschreibung von Stubei, der weichliche Städter Behagen, die Zeit seiner Ergötzung in einem Thale zu verleben, wo ihn gemilderte Sitten umgeben und mäßige Bedürfnisse die zureichende Befriedigung erhalten.“ Am 1 September 1842, als ich in der Traube zu Mieders anlangte, war die Saison freilich schon vorüber. Man wußte indeß viel zu erzählen von dem vergnügten Leben, das die Badgäste geführt, noch mehr aber von dem Feste, das Tags zuvor in der Nähe stattgefunden hatte, als Erzherzog Stephan, damals in Tirol reisend, den Grundstein legte zur Hauptbrücke an der neuen Straße, welche in den letzten Jahren erbaut worden ist, um den schlimmen Steig am Schönberg zu umgehen. Alle Ohren waren noch voll von dem schmetternden Lauffeuer, das die wälschen Arbeiter, die dabei beschäftigt, durch Verbindung einer Unzahl von Böllern zu Stande gebracht hatten.

Zu Mieders in der Kirche steht auch, so zu sagen, im Exil ein Muttergottesbild, das ehedem auf der Waldrast [496] verehrt wurde. Die Waldrast ist am Serles in der Höhe zwischen Mieders und Matrei gelegen, eine prächtige Berggegend. Den Ort hat Balde durch eine Ode gefeiert, welche von Herder übersetzt wurde. Auf dieser Stelle erhob sich vor Jahrhunderten eine Wallfahrt. Es kam nämlich vom „großen Weib im Himmel“ gesandt ein Engel auf die Waldrast, der einen hohlen Lärchenstock im Namen der Muttergottes ansprach: du stockh sollest der frauen im himmel bild fruchten, dan balt wird do ein kirchfart aufkommen. – Das Bild wuchs nun im Stocke und ward zuerst am Ostersamstag 1407 von zwei frommen Hirtenjungen erblickt, und sofort in die Kirche zu Matrei versetzt. Wie nun die Capelle auf der Waldrast gegründet worden, dieß erzählt das gleichzeitige U. L. Frauen- Protokoll in sehr naiver Weise. Der Anfang besagt, daß ainer tzü Matray ist gesessen mit Namen Christan Lusch saliger, tzü dem ist kommen ain stymm an ainer pfintztag nacht, als er an seinem pett lag, dye redt mit ihm tzü dreyn maln und sprach: slaffestu, da antwurt er und fragt: wer pistu oder was wildu? da sprach die stymm: ich bin ein stymm. – In dieser muntern Art geht es fort und wir erfahren weiter, daß dem guten Christian die Aufforderung ward, eine Kirche zu bauen und daß ihm, als er in den Wald gegangen und entschlafen war, eine hohe Frau in weißem Kleide mit einem Kinde im Arme erschien und die Stätte anzeigte, wo das Gotteshaus erbaut werden sollte. Es erschwang sich bald zu ungemeinem Ansehen, denn die Muttergottes bewies sich außerordentlich wunderthätig. Von Herzog Sigmund an begannen auch die Landesfürsten und die Glieder des Kaiserhauses sich mit besonderm Vertrauen der Wallfahrt zuzuwenden und ihr Spenden aller Art zu verehren. Drum entstand auch mit der Zeit ein Servitenkloster dort. Noch Maria Theresia hat das Bild auf der Waldrast mit Geschenken begabt, ihr Sohn dagegen 1785 das Kloster aufgehoben. Im Herbste jenes Jahrs ward das Gnadenbild nach Mieders übersetzt, aber durch seine Entfernung aus dem Orte, wo es fast vier Jahrhunderte gewirkt hatte, ging das Vertrauen des Volkes und so auch viel von dem Rufe seiner Wunderkraft [497] verloren. Fromme Gemüther zogen noch immer lieber der Waldrast zu, und beteten dort vor einer Copie des alten Gnadenbildes, ja die Opfer flossen so reichlich, daß mit Anfang dieses Jahrhunderts schon wieder an die Wiederherstellung der Wallfahrt gedacht wurde. Indessen war aber das Bild zu Absam bei Hall aufgekommen und jenes hielt die Concurrenz nicht aus; auch die Regierung war nicht zu gewinnen. So steht denn die Waldraster Muttergottes nunmehr verlassen und wenig besucht in der Kirche zu Mieders.

Von Mieders aus erreicht man die Brennerstraße bei dem Dorfe Schönberg, wo ein Posthaus ist. Hier geht der böse Weg über den Schönberg hinunter gegen Innsbruck zu, der ehemals so viel Schweiß und Mühe kostete. Hier wurden, wenn es aufwärts ging, an die schweren Frachtwagen acht und zehn Pferde vorgelegt, und wenn sie abwärts fuhren, so war es ein grausliches Ansehen, wie trotz der zwei und drei Radschuhe der Wagen so dämonisch dahinrollte, kaum aufzuhalten durch die stärksten Rosse, die, die Gefahr im Rücken ahnend, mit leuchtenden Augen und schäumendem Rachen zu zögern strebten, so viel sie vermochten, während der beängstigte Fuhrmann sie mit Drohungen und Flüchen unaufhörlich besprach. Jetzt ist die neue Straße fertig und vom 1 October 1844 an steht sie dem Verkehre offen. Sie hat die alte Richtung, die gerade über die Höhe des Schönbergs ging, ganz aufgegeben und läuft nunmehr dicht über der brausenden Sill an einer Böschung hin, in langem Zuge die „Ellenbögen“ abzeichnend, welche die Seitenwand des Berges hier bildet. Sie ist zierlich und fein gearbeitet und von italienischen Werkleuten ausgeführt worden. An der Entfernung hat man nichts gewonnen, vielmehr ist der neue Straßenzug um ein Gutes länger als der alte; doch wird dieß wieder hereingebracht durch die sanfte Senkung, welche abwärts ohne Radschuh im Trabe zu fahren erlaubt. Eine Einbuße für den Reisenden der das Land im Eilwagen durchfliegt, ist es immerhin, daß er die herrliche Schau verloren hat, welche sich von der Schönberger Höhe gegen die Stubeier Ferner öffnet. Sie war für [498] Jeden eine Augenweide und ist eine der schönsten Ferneransichten, die von einer Heerstraße aus offen stehen.

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Veröffentlicht von josefauer.com

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