Drei Sommer in Tirol – Das Sellraintal

von Ludwig Steub

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Es bleibt uns jetzt noch übrig einen längern Gang durch Nordtirol zu machen, den wir in der Nähe von Innsbruck beginnen und zu Brunecken im Pusterthale beenden.

Aus dem schönen Dorfe Axams ziehen wir bei einbrechender Dämmerung davon, um im Bade zu Selrain über Nacht zu bleiben. So dunkel es wird, so ist gleichwohl zu bemerken, daß die Gegend sehr bevölkert, denn die Häuser am Wege gehen nie aus und unten vom Tobel herauf glänzen viele freundliche Lichter, ebensowohl als von den Halden herab, auf deren Höhe das St. Krein- (St. Quirini-) Kirchlein grau verschleiert winkt. Man konnte sich während des nächtlichen Ganges auf Selrain freuen, auf die Badegäste und die gute Unterhaltung. Allerlei Manns- und Weibsbilder, die unterwegs gefragt wurden, waren der Meinung, es gebe deren noch genug, „wolter viele“ und so schien es ganz billig, sich auf einen vergnügten Abend gefaßt zu machen. Unterdessen ging der Weg in einen Wald und es wurde immer dunkler. Bald erschien ein einsames Capellchen am Pfade, von wo abwärts zu sehen war auf das Bad und seine Lichter. In größerer Nähe zeigte sich freilich, daß dieß die ewige Ampel in der Dorfkirche sey und so mußten denn wohl die erleuchteten Badefenster nach der andern Seite hinausgehen. Ich langte endlich an und war der einzige Fremde im Hause – die Badegäste waren schon alle davon, wie es scheint, ohne daß es die Selrainer bemerkt hatten – und drum waren auch alle die zweiundzwanzig [480] Zimmer unerleuchtet. Die Selrainer Gegend hängt beständig voll Tisch- und Leintücher, Hemden und dergleichen Zierrath, da ein großer Theil der Innsbrucker Haushaltungen seine Wäsche hier besorgen läßt.

Andern Morgens kam ich ins einsame Dörfchen Gries, welches am Ufer der kiesreichen Melach liegt, rings umgeben von Gerstenfeldern und steilen Jöchern, an denen sich grüne Matten hinaufziehen. Gegen Mittag bricht der Fernerkogel in die Höhe, ernsten Anblicks, scharf gespitzt, mit einzelnen Feldern ewigen Schnees bedeckt. Es ist still und klein jenes Dörfchen und macht wieder den Eindruck als wäre man an der Welt Ende, aber doch liegt noch anderthalb Stunden tiefer im Gebirge, im Grieser Thal, ein anderes Kirchdorf, St. Sigmund genannt, von dem ein vielgepriesener Alpenweg auf die Bergwiesen zu Kühetai *)[1] und weiter am Stuibenbache fort über den Ochsengarten nach Au und Sautens am Eingange des Oetzthales führt. Er wird viel begangen, von Landleuten und Gebirgswanderern, ist aber fast eine kleine Tagreise.

Eine seltene Ueberraschung auf diesem Wege bietet oben in der Höhe von Kühetai 6347 Wiener Fuß über dem Meere ein altes landesfürstliches Jagd- und Lusthaus mitten in einem Kranze grüner Bergspitzen und nackter Schrofen. Es ist ein ächt gebirglerischer Gedanke der ehemaligen Herzoge, ihr Sanssouci, Fantaisie, Favorite, Hermitage oder wie man’s nennen will in die sammetnen Triften dieser Hochalpen zu verlegen. Einst, erzählt uns Jemand, einst zogen hier Schaaren von Jägern dahin auf schnaubenden Gäulen. Ihre farbigen Federbüsche wehten damals zwischen dichten Wäldern von Fichten, Tannen und Zirbeln, die jetzt ausgehauen sind, und der muntere Klang der Hörner wiederhallte von den grünen Halden. – In dem Bauhof, der noch erhalten ist, wohnen dermalen schlichte Hirten. Im ersten Stocke sind noch schön getäfelte Prunkzimmer. Jetzt stehen sie jedem Gaste offen, der bei den wirthlichen Aelplern zuspricht. „Das Haus bietet eine [481] angenehme Wohnung dar, die Luft ist erquickend frisch, das Wasser leicht und krystallhell; Kost und Wein über alle Erwartung gut und billig, die Betten rein gehalten, die Bedienung zuvorkommend freundlich.“ Für Bergsteiger ist’s ein herrliches Revier; der Jäger findet seine Gemsen, der Angler in zwei künstlich angelegten Seen die trefflichsten Forellen.

Ich ging indessen nicht nach Kühetai, sondern wandte mich gegen Mittag und zog an der Melach hin gegen Lisens, – einen schönen Alpenweg dem Bach entlang, der oft von hohen Wänden eingeengt in tosenden Fällen niederstürzt, oft wieder, wenn die Landschaft breiter wird, sanft und zahm durch die Wiesen läuft. Auf halbem Wege von Gries nach Lisens rieselt das Magdalenabrünnlein, von einer Bildsäule der Heiligen, die weihend daneben steht, so benannt, wo auf hölzerner Bank zu rasten und aus dem frischen Born der Durst zu löschen ist. Von da nach einer kleinen Stunde erreicht man eine sanfte Anhöhe und nun thut sich Lisens auf, eine schöne smaragdene Alm, weit und geräumig, feiner glatter Wiesboden, von dem glitzernden Bächlein durchirrt, an dessen anderm Ende, seltsam anzusehen in der stillen, menschenleeren Einöde, ein freundliches mit einem Thürmchen geziertes Haus steht, aus Steinen erbaut und reinlich geweißt, eine Sommerfrische der Herren im Stift zu Wilten. Die Landschaft hat in ihren Tiefen eine schmucke Reinlichkeit, die schmeichelnd ins Auge fällt; in den Höhen aber zeigt sie ein großartiges Wesen, das zu dem geleckten Wiesengrund und dem niedlichen Landsitz einen wundervollen Gegensatz bildet. Da steigt auch der Fernerkogel auf, der ungeschlachte Kogel, von seinem breiten Felsenfuße übersichtlich bis an die ragende Spitze, und daneben ist der Lisenser Ferner ausgebreitet und hängt kraus und wollig, wie ein Widdervließ zu Thale.

Das Sommerfrischhaus zu Lisens ist laut lateinischer Inschrift über der Thüre erbaut im Jahre 1780, nachdem der Wildbach das alte Gebäude zerrissen hatte. Nebendran ist in etlichen kleinen Gartenbeeten Gerste und Gemüse angebaut, wohl mehr zur Augenweide als zum ausgiebigen Ertrag. In dem untern Stockwerke hausen die Wirthschaftsleute, während [482] im obern einige Zimmer und eine Capelle hergerichtet sind für die Stiftsherren. Jetzt war von mehreren, die in frühern Monaten dagewesen, nur noch einer übergeblieben, Pater Lorenz, ein artiger, alter Priester, der mich gutherzig willkommen hieß und gegen billiges Entgelt an seinem Mittage Theil nehmen ließ.

Laßt uns aber auch etwas sagen von dem Fernerkogel und wie Professor Thurwieser, der Besteiger des Ortles, an ihm hinaufgeklettert ist. *)[2] In früher Jugend schon, als er noch zu Kramsach bei Rattenberg auf den Wiesen spielte, hatte der Knabe eine Freude an dem Kogel, der obwohl so ferne, doch an schönen Sommerabenden noch glühte, während die höchsten Felsenkuppen des untern Innthals bereits in düstere Nacht verschwammen. Als nun Thurwieser groß geworden und schon manchem erhabenen Berghaupte seinen kecken Fuß auf die Scheitel gedrückt hatte, gedachte er wieder seiner Knabensehnsucht nach dem rosig glühenden Kogel und machte sich auf, seine Zinnen zu erklimmen. Am 23 August im Jahre 1836 zog er zu Lisens ein; am andern Morgen um 3 Uhr las er die heilige Messe, und um 4 Uhr bei ziemlich heiterm Himmel brach er auf. Philipp Schöpf, Jäger, und Jacob Kofler, Bauer zu Praxmar oder um es kürzer zu sagen: Lipp und Jackl waren seine Begleiter. Der erstere hatte schon vorher einmal die Spitze erstiegen. Ein Stück weit am Eise hinauf, meinten die Leute zu Lisens, würde der Professor wohl kommen, aber die Höhe des Ferners könne kein Fremder ersteigen und den Kogel schon gar nicht.

In fünf Viertelstunden kamen die Gletscherfahrer zum ersten Schnee; eine halbe Stunde darnach erreichten sie das feste Eis. Im Anfange ging alles recht gut, aber bald traten den Verwegenen die Grausen der Ferner recht abschreckend gegenüber. Da kamen Eisstiegen von mehreren, zwei drei [483] Klafter hohen, durch lange Risse getrennten Staffeln, welche Ungethüme in weitem Kreise umgangen werden mußten, dann steile glatteisige Flächen, daß man einander mit den langen Bergstöcken schieben und ziehen mußte, große, überschneite Eisspalten, Schneeflecke, in die man bis zu den Knien einsank, wilde Durchbrüche, weitklaffende Risse, bis man endlich dem Gletscherkamme nahe gekommen, der aber mit Sprüngen und Runsten, Erkern und Thürmchen einer drohenden halbverfallenen Festung glich. Um diese Zeit war die Gefahr, in die überall aufgähnenden Schlünde und Vertiefungen zu fallen am höchsten. Lippl und Jackl, die kakophonen Begleiter, der eine voran, der andre hinten, stiegen spähend und vorsichtig einher, waren aber erst aufgelegt zu plaudern, als man nach dreieinviertelstündigem Klettern die Kante des Ferners erreicht hatte. Da fand sich’s, daß man 3684 Fuß über Lisens, 8668 über dem Meere stand und neben bei hatte man das Vergnügen, durch die schauerliche Eiswüste einen Schmetterling flattern zu sehen.

Von da an wurde das Weiterkommen durch Schluchten und Brüche so sehr gehindert, daß man in der nächsten halben Stunde nur einige hundert Schritte machen konnte. Bald darauf hörten zwar die Spalten auf, allein dafür kamen andre Plagen, nämlich Hitze und Tiefe des weichen Schnees, in den die Wanderer wieder tief einsanken, bis sie endlich die rothe Wand erreichten, die, rauh und fest wie sie war, zur angenehmen Abwechselung ohne Verzug erklettert wurde. Oben liegt ein kleiner See, zugefroren und leicht überschneit, welchen Jackl zu großer Freude der Gesellschaft entdeckte und sehr labend fand man dessen Wasser. Nicht weit davon begegnete man höchlich überrascht einem andern Thalbewohner, einer Biene nämlich, die aber der nähern Berührung entwich und dem nächsten Kogel zuflog. Bald darauf, was weniger erfreulich war, brach Jackl auf dem obern Ferner, den man jetzt betreten hatte, bis an die Hüften in den Schnee und durch die Oeffnung sah man in finstern Schlund hinab. Jetzt mehrte sich das Gewölk und es fing zu tröpfeln an. Das hätte jedem andern den Spaß verdorben, [484] aber Thurwieser machte sich nichts daraus; gerade jetzt nachdem man so viel von Hitze und Schweiß ausgestanden, that die Kühle wohl. Um 1 Uhr erreichte der verwegene Professor die Spitze, etwas früher als seine Gesellen, da er eine kleine Seitenscharte, in welche diese einlenkten, durch gerades Emporklimmen umgangen hatte. Nun fand sich’s, daß sie alle drei 10,121 Fuß über dem Meere standen. Dort sahen sie auch ungeheuer weit herum auf die silbernen Spitzen der Alpenkrone, vor allem auf die Oetzthaler Häupter, unter denen die Wildspitze und unser alter Freund, Similaun, sich als die stolzesten erhoben. Darüber hinaus ging der Blick tief hinein in die Gletscherwelt der Eidgenossenschaft. Gegen Aufgang zeigte sich auch der Duxerferner und die lange winterliche Bergreihe, die das Ahrenthal vom Zillerthale trennt und der Venediger, der stille Pinzgauer Fürst, leuchtete im weiten Eismantel. Kufstein, Rattenberg und Brixlegg im Unterinnthal sah der Professor in der Ferne schimmern und auch sein Kramsach[WS 1], wo er einst als Knabe so ahnungsvoll den Kogel betrachtete, den er jetzt als berühmter Bergsteiger mit dem messenden Barometer in der Tasche, mit Thermometer und Perspectiv erklommen hatte. Um 2 Uhr 37 Minuten nahm er von der lange schon werthen und jetzt noch theurer gewordenen Spitze Abschied.

Die Abfahrt wurde in anderer Richtung versucht und hatte wieder ihre andern Gefahren wegen der steilen Wände, an denen man sich, Hände und Füße in das Gestein einschlagend, hinunter lassen mußte. Um 7 Uhr kamen die Steiger endlich in der Längenthaler Alpenhütte an. Auf dem Wege von hier findet sich eine vorspringende Berghalde, Oberachsel mit Namen, deren Besuch den Reisenden empfohlen wird, welche den Lisenser Ferner und die argen Wände des ungeheuern Kogels näher betrachten wollen. Kurz vor 9 Uhr Abends erschien der Professor wieder wohlbewillkommt im Stifthause zu Lisens.

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Veröffentlicht von josefauer.com

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