von Ludwig Steub
Anstrengender als nach Kaltern, vielleicht auch nicht so genußreich, doch immerhin nicht zu widerrathen ist ein Gang von Bozen ins Sarnthal. Da muß nun zuerst das Schloß Ravenstein erstiegen werden, auf einem rauh, verrenkten Pfade, dessen Steilheit oft zum Rasten nöthigt. Bei heißer Tageszeit wird der Steiger oft sehnsüchtig in die Höhe blicken zur alten Burg, die das Ziel der Anstrengung scheint, denn dahinter, denkt er, werde sich der Weg sanft und linde ins Thal hinunter senken. Unterdessen nützt er die kurzen Rastzeiten, um den Windungen der Etsch nach unendlich [396] weit hinunterzusehen, bis in die Gegend von Salurn, wo die Bergseiten verschwimmend in einander treten, ohne kennbaren Höhepunkt bis zu dem blauen, riesenhaften Monte Gazza, der in der Gegend von Trient steht. Unten an der Talfer liegt das Schloß Rungelstein, verfallen und dachlos, von hier aus mit seinen offenen Gemächern ein gar trauriges Trümmerwerk. Auch die Mauern von Ravenstein lassen durch die leeren Fenster in den offenen Burghof schauen. Selbst der bescheidene Baumann hat in dem Schlosse keine Stelle mehr gefunden, wo er sein Haupt in ärmlicher Gemächlichkeit zur Ruhe legen konnte, und baute sich sein Häuschen, außerhalb der ungastlichen Pforten. Die Stuben, wo Marx Sittich von Wolkenstein mit der Geschichte seines Landes beschäftigt war, sind längst eingefallen. Damals, in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts, wo Mathias Burglechner, Maximilian von Mohr, die Grafen von Brandis und andere mit neuerwachtem Eifer ihre historischen Studien pflogen, waren schöne Zeiten für literarische Bestrebungen in Tirol. Die traurigen Schicksale, die lebenslängliche Kümmerlichkeit, welche die Resch und die Roschmann auf ihren Wegen begleiteten, zeigen wie sehr Geschmack an den Wissenschaften und Achtung für ihre Pfleger innerhalb eines Jahrhunderts gesunken waren.
Aber die Höhe des Schlosses, das von unten auf anzusehen so erhaben, so stolz in den blauen Himmel eingezeichnet ist, die Höhe des Schlosses ist noch lange nicht das Ende der Mühsal. Der Weg geht noch immer auf Halden, die von der Ebene aus nicht zu erschauen sind, steil und rauh hinan, so daß man zuletzt Ravenstein tief zu seinen Füßen sieht. Die Schönheit der Aussicht ist dabei immer in steigendem Wachsthum und ferne Bergreihen im Fleimserthale und auf dem Nonsberg treten mächtig auf. Und endlich, nachdem aller Schmuck der Ebene, Weingärten, Kasianienbäume und alles was mit und unter ihnen blüht und wächst, längst abgestreift, wandelt man hoch oben in nordischer Vegetation unter Eichen und Fichten, an Kornfeldern vorbei, kühl angeweht von der Sarnerluft, die im Bozner Sommer den Stadtleuten ihrer Frische wegen so willkommen ist. Unten [397] in schauerlicher Oede über dem Bache hängt die verlassene Veste Langeck. Auf den Halden ferne Höfe, Kornfelder, Wiesen, auch ein paar Dörfer, Oberrinn und Wangen. Am Sarner Wege selbst liegt in dieser Gegend der Gruber, oder Gruebar, wie die Sarner sprechen, ein einsames Wirthshäuschen, zunächst auf die Träger eingerichtet, die da regelmäßig Nachtruhe halten. Da über diese steile Höhe kein Fuhrwerk zu bringen ist, so muß alles, was das große Dorf Sarnthein tagtäglich an städtischen Erzeugnissen bedarf, auf dem Rücken hereingebracht werden. Mir waren etwa ein halbes Duzend Träger begegnet, von allen Lebensaltern, vom weißhaarigen Siebenziger bis herunter zum achtzehnjährigen Jüngling, darunter auch ein starkes, wohlgeschlachtes Mädchen von neunzehn Jahren. Alle waren schwer beladen, alle mit zwei Stöcken versehen, und alle in Schweiß gebadet. Sie steigen einen Stock nach dem andern einsetzend, langsam aufwärts und müssen wegen der schweren Belastung wohl alle hundert Schritte rasten. Es ist im heißen Sommer ein jämmerliches qualvolles Tagwerk; nicht einmal der tröstliche Aufblick in den blauen Himmel ist ihnen gegönnt, denn die Krakse geht weit über den Kopf herein und der Träger zieht gesenkten Hauptes seufzend seinen rauhen Weg.
Die Gruberin hatte für mich nur etliche Eier und erträglichen Wein. Allmählich sammelten sich die Träger um den Wirthstisch und begannen ihr Abendessen zu halten, welches Jahr aus Jahr ein in Plentenknödeln besteht. Die Sarnerleute hatten diesesmal nicht viel Lust zu plaudern. Die Betten wurden zu guter Stunde aufgesucht. Meines war sehr hart, aber reinlich.
Der Eingang in das Sarnthal bis etwa auf eine Stunde von dem Hauptorte ist ein großartiger Tobel. Der Weg führt bis dahin wohl ein paar Tausend Fuß über dem Rinnsal des Baches an rothen Porphyrwänden entlang, und nur selten fällt ein Blick hinunter in die schäumende Fluth. Auf der andern Seite sieht man die Felsenwände mächtig aufgeschoben, in schmalen Thälchen eingerissen, bald steil abfallend, bald lang hingestreckt und wohlbebaut. Auf der Seite [398] des Pfades liegt das Dorf Afing, etliche weiße Häuser und ein weißes spitzthurmiges Kirchlein. Eine Stunde hinter Afing droht am Wege das Marterloch, ein rother Felsenriß, der ohne Widerspruch sehr schauerlich ist, da das verklüftete, zerspaltene und zerschnittene Porphyrgestein in grausen Ueberhängen zu Häupten des Wanderers steht. An derselben Stelle geht über den Weg ein hölzernes, auf dicken Balken stehendes Dach, über welches ein Bach herunter kömmt, der aber nur zur Regenzeit fließt. Es mag ein grausiges Gefühl seyn, unter dem Dach durchzugehen, während der von Wettergüssen geschwellte Wildbach, polternde Steine wälzend, darüber rast. Die Sarner nennen die Stelle scherzweise die größte Denkwürdigkeit des Thales, da der Mensch hier unter dem Wasser leben könne. Allmählich führt der Weg an den Wänden niederwärts und langt zuletzt in der Thalfläche an. Damit hat denn auch die großartige Wildheit der Landschaft ihr Ende erreicht und man findet sich in einer freundlichen wohlbewohnten Gegend. Die Nähe des Hauptortes Sarnthein verkündet das prangende Schloß Reineck, während die Häuser des Dorfes, das zu seinen Füßen liegt, noch verborgen sind. Zur rechten Seite steigt die Sarnerscharte auf, ein Gebirge, das gegen 8000 Fuß Höhe mißt, hier gegen das Thal zu in grausen Wänden abfällt, rückwärts aber, wo es sich gegen die Rittener Höhen hinzieht, auf breitem langsam sinkendem Rücken weite Wiesen und Almen trägt.
Sarnthein, der Hauptort der Sarner, ist ein großes Dorf mit ansehnlichen Häusern und einer schönen Kirche, die wie jene in der Gegend von Bozen eine massiv steinerne Thurmspitze hat. In diesem Orte war einmal Aeneas Sylvius Piccolomini, später Papst Pius II, wohlbestellter Landpfarrer. Ehedem muß es hier sehr ritterlich zugegangen seyn, denn noch stehen die drei Schlösser Reineck, Kränzenstein und Kellerburg in anstandvoller Haltung als Zeugen vergangener Herrlichkeit. Kränzenstein ist jetzt zur Frohnveste herabgewürdigt, Kellerburg, ein großes Haus mit nicht sehr verlässiger Ringmauer, bewohnt der gräflich Sarntheinische Verwalter, Reineck endlich, das ritterlichste von allen, sitzt über dem [399] Dorfe auf einem waldigen Bühel und kehrt ihm eine stolze Stirnseite zu. Die schöne tiefgelbe Farbe, die sein Gestirn durch das Alter angenommen, die maßlose Dicke seiner Mauern und die romanischen Doppelfenster mit den zierlichen Mittelsäulchen geben ihm ein tiefeindrückliches Ansehen – ja die Doppelfenster, welche, obgleich in Südtirol häufig und sogar jetzt noch in Bauübung, hier mit besondrer Schönheit auftreten, erinnern an die alten Palazzi, die am Canal grande zu Venedig stehen. Das Gebäude sieht so ganz lombardisch aus, was hier in dem abgelegenen stockdeutschen Seitenthal noch mehr auffällt, und mag wohl sehr alt seyn, doch fehlen die Nachrichten über die Zeit der Erbauung, welche wahrscheinlich ein wälscher Meister geleitet. Es ist das eigentliche Sarntheiner Schloß, der Sitz der alten Ritter von Sarnthein, die übrigens nicht die Ahnen der jetzigen zu Bozen seßhaften Grafen dieses Namens sind; die alten Sarentheiner, die zuerst im zwölften Jahrhundert vorkommen, sind 1646 zu Wien ausgestorben. Der berühmteste Sprosse des Gechlechts war Cyprian von Sarenthein, Hofkanzler von Tirol, Kaiser Maxens geheimer Rath, ein nüchterner, unermüdlicher, unbestechlicher, verschlossener Mann, mit den wichtigsten Geschäften betraut und den schwierigsten gewachsen, in den Händeln damaliger Zeit vielfach thätig († 1524). Ein hoher starker Thurm steht in dem Schlosse und wird für eine römische Warte gehalten. Er hat die Aussicht nach Wangen, dem hochgelegenen Dorfe gegenüber von Afing, wo vor langer Zeit die Burg der mächtigen Herren von Wangen stand und man meint, diese Castelle seyen auf gleiche Weise in absichtlich gewählter Schauverbindung gewesen, wie man solche z. B. zwischen Rungelstein und Hohen Eppan oder Jaufenburg und Löwenberg annimmt. Auch in ein Burgverließ und an das darüber befindliche Fallbrett wird man geführt und nicht minder in die Burgcapelle, wo ein schönes altes Schnitzwerk, St. Georg und der Lindwurm und ein noch älteres, aber nicht schönes Crucifix etliche Aufmerksamkeit verdienen.
Obgleich, der Mächtigkeit der Mauern nach zu urtheilen, das Schloß von Anfang an zu einem uneinnehmbaren Trutzhort [400] bestimmt gewesen, so hat man sich doch nie die Mühe genommen, es völlig auszubauen. Es ist viel leerer Raum da, leer vom Grund bis zum Dache ohne Zwischenböden und Gebälk, daher wohl nie bewohnt, wogegen der brauchbaren Gemächer nur sehr wenige sind. In ihnen hat sich jetzt der Baumann zu recht gesetzt.
St. Vigil, des Trientner Kirchenheiligen abgewürdigter Festtag, wurde mit einer Procession gefeiert, welche Gelegenheit bot, den Leibesschlag der Sarner zu mustern. Der Stamm gehört nach allgemeiner Anerkennung zu den rein deutschen oder mindestens zu den am wenigsten gemischten in Südtirol. Die Sarner sollen ja eine Sage haben, daß sie einst aus Schwabenland kommend über Passeyer und die Möltenerhöhe in ihr Thal gewandert. Daß sie es nicht unbewohnt getroffen, zeigt der rhätische Name Sarnthein, der in den Urkunden Sarentinum lautet. Wie übrigens so viele Sagen jetzt nur mehr in den Büchern leben, so wohl auch jene von der Wanderung der Sarner; wenigstens wollte sich unter einem Duzend bejahrter Männer, die ich darnach gefragt, auch nicht einer erinnern, je etwas derartiges gehört zu haben. Die Deutschheit des Volkes erweist indessen deutlich sein Aeußeres, das dem der Passeyrer zu vergleichen ist. Die Männer sind stark und kräftig gewachsen, ziemlich hoch, in den Gesichtern durchaus von deutschem Ausdrucke. Die hellen Haare tragen sie kurzgeschoren, ziehen aber am Rande herum kleine krause Löckchen, die einen niedlichen Kranz um das Haupt bilden. Die Weiber und Mädchen von Sarnthein, wenigstens jene, die bei der Procession erschienen, sahen gesund aus, aber meines Bedünkens war keine darunter, die der Schönheit wegen eine Ehrenerwähnung verdiente. Die Tracht sowohl der Männer als der Weiber gleicht in der Hauptsache jener am Lande, zunächst der bei Meran, doch fehlt bei jenen der rothe Aufschlag an der Jacke, bei den Weibern mangeln die rothen Strümpfe, statt deren man die innthalischen Beinhöslen findet. Ehemals trugen die Sarner weite rothe Röcke; wir haben aber dieses Zeug nur mehr an ein paar Knaben bemerkt, denen, wie es schien, die letzten [401] abgetragenen Reste dieser Tracht für ihr Werktagsgewand zugeschnitten worden. Auch die Sprache scheint, abgesehen von größerer Rauhheit, von der Bozner Mundart nicht verschieden. Ein kleines Mädchen das ich gefragt, ob sie in der Schule etwas gelernt habe, antwortete mit schwäbelnder Naivität: Ja, a Fetzele (ein Bischen). Denkungsart, Sitten und Lebensweise betreffend ist zu bemerken, daß Sarnthal in eifriger Kirchlichkeit mit der Stadt Bozen wetteifert, weßwegen die Thälerer auch je nach verschiedener Ansicht von den einen die frömmsten, von den andern die bigottesten in Deutschtirol genannt werden. Auch wirft man ihnen eine über ihren Stand hinausgehende Rohheit und schwer versöhnliche Rachsucht vor; wir bekennen aber gerne, daß wir auf derartigen obenhin und allgemein ausgesprochenen Tadel nicht viel Gewicht legen. Der Lebensunterhalt wird zumeist aus Viehzucht und Ackerbau geschöpft. Getraide wird mit großem Fleiße gebaut und um Sarnthein herum wogten dazumal alle Hügel von schweren Aehren. Doch reicht das Ergebniß nicht aus und es muß alle Jahre noch eine beträchtliche Menge Korn von Bozen hereingeschleppt werden. Einen guten Namen haben die Artischocken, die um Sarnthein ganze Felder bedecken und in den Küchen zu Bozen sehr gesucht sind, wohl eben so sehr, als die Sarntheiner Forellen, welche man mitunter für die besten des Landes hält.
Nachdem ich beim Schweizerwirth zu Sarnthein mit den freundlichen Herren vom Landgericht zu Mittag gegessen, alles in hohem Maße genießbar, denn die Wirthin ist in der Kochkunst ungemein bewandert, läugnet auch selbst nicht, etwas Tüchtiges leisten zu können „wenn sie’s nur hatt“ d. h. wenn nur immer das Zeug zu bekommen wäre – nach dem Mittagessen wurde der Gesundheit halber ein Spaziergang nach Nordheim unternommen, einem Dörfchen, das eine kleine halbe Stunde weiter oben an der Talfer liegt. Auch hier war einst ein ritterliches Geschlecht wohnhaft, obgleich keine Spuren mehr von seinem Schlosse vorhanden sind. Wie uns Freiherr von Hormayr belehrt, so war indeß die Burg zu Nordheim ein Sitz der Sarentheiner, von der sie sich im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert nannten, wie Heinrich von Nordheim [402] der Sarentheiner und Johannes von Nordheim, Erzherzog Sigemunds gehaimber Secretarj und sein Wortführer auf dem Landtage von 1474 zu Bozen, der, wie ein schöner Grabstein an der Kirche zu Sarnthein besagt, 1475 gestorben und dort begraben ist. In den Fenstern des gothischen Kirchleins zu Nordheim sind etliche verblichene Glasgemälde. Ueber der Kirchenpforte zur rechten Hand hängt – in allem Ernste – ein geistliches Kartenspiel. Es sind nämlich in einem unscheinbaren Säckchen alle sechsunddreißig deutsche Karten beisammen, Schell-Aß, Herz-Aß, Eichel-Aß, Gras-Aß u. s. w. Eine jede enthält außer der Figur auch noch einen frommen Spruch, z. B. Gedenk, o Mensch, an die letzten vier Dinge und du wirst in Ewigkeit nicht sündigen – und unten die Pön: z. B. Bet’ drei Vater Unser und drei Ave Maria, jedoch wechselnd, so daß etliche ganze Rosenkränze von Vater Unsern verhängen. Aus diesem Säckchen ziehen nun die Landleute, wenn sie eines Tages nicht mit sich einig sind, wie viel sie beten sollen eine Karte, und verrichten dann die Aufgabe. Wer da, um mit den Studenten zu reden, Pech hat, der kann sich arg hineinsetzen, ein glücklicher Spieler kommt aber auch hier leicht weg, wie in jedem Hazardspiel. In etlichen Kirchen zu Bozen sollen auch noch solche Spiele zur Hand seyn – die Leute fangen aber allmählich an, sich dieser Recreation zu schämen.
Der Weg von Sarnthein nach Meran führt über das Kreuzjoch in fünf bis sieben Stunden, also ungefähr in derselben Zeit als man aufwendet, um von Sarnthein nach Bozen zu kommen. Ich verließ um vier Uhr Früh den Schweizer, um mit einem der Sarntheiner Herren, der sich zuvorkommend als Führer angeboten, aufwärts zu steigen. Die Witterung schien günstig, doch lag eine dichte Wolkenschichte auf der Sarnerscharte. Wir wanderten ziemlich steil in die Höhe durch Wiesen und Felder, getröstet durch den Rückblick ins milde Thal und kamen dabei auch in Ansicht eines im Winter abgebrannten Hofes, den die Sarnthaler dem Besitzer durch unentgeltliche Lieferung des Bauholzes, des Weines für die Arbeiter u. dgl. in gutchristlicher Weise wieder haben [403] aufbauen helfen. Etwa nach anderthalb Stunden gemeinschaftlichen Steigens nahm der Begleiter Abschied. Ich setzte meinen Weg, der vor der Hand nicht zu verfehlen war, allein fort, ging in ein kleines, von zwei niedern Büheln gebildetes Thälchen ein und kam auf eine Galthütte zu, die zur Zeit verschlossen war. Den braunen Hirten sah man fern an des Hügels Rand seinen Ochsen nachgehen. Die Gegend war baumlos und traurig, die Aussicht genommen, die Wolken lagen tief und drohten zu regnen.
Nach kurzer Rast brach ich wieder auf und kam ans Joch, an die Schneide des Ueberganges, wo eine Rinderheerde weidete. Hier bot sich eine herrliche Umschau; nur schade, daß viele Nebel auf den Höhen lagen. Ein ungeheurer Bergkranz schlang sich um mich her. Ganz nahe zur Rechten standen düstergrau und unheimlich die Zacken des Ifingers, der sich über Meran erhebt. Vor allem anziehend war das große Dolomitenreich im Osten, seiner ganzen Länge nach übersehbar, in feuchter verklärender Beleuchtung einer durch Gewitterwolken brechenden Morgensonne. Der Schlern, das breite Meerthier, wird von seinen Hinternachbarn rückwärts mächtig überragt. Die Dolomiten stehen in langen Reihen drei und vier Mann hoch über einander und strecken ihre Haifischzähne in die Wette empor, um sich gegenseitig zu ergänzen. Nichts Prächtigeres als diese über einander liegenden, aus einander sich erhebenden und in einander sich verlierenden Ungethüme, die ersten blaugrün, dann blau, dann bleich und geisterhaft und fast verschwimmend in der Luft. Die Mendel, die rothe, im tiefen Etschland überall eine bedeutende Erscheinung, ist hier ein bescheidenes Bergbuckelchen, das sich neben den mächtigen Eisbergen, die die südlichen Hintermänner sind, nur für seine Freunde und Bekannten geltend machen kann. Diese italischen Ferner, die hinter dem Sulzberg (Val di Sole) in ewig weißem Mantel aufsteigen, wenig besucht und umgangen, kaum irgendwo genannt, vielleicht nie bestiegen, unbekannte Größen selbst für die menschlichen Nachbarn, erschienen mir jeweils, so oft sie an verschiedenen Orten vor meine Augen traten, in einem mystischen Schimmer. Es ist eine Spitze darunter, die von hier besehen, obgleich weiter [404] entlegen als der Ortles, gleichwohl höher erscheint, als dieser, und ich habe eine leise, vielleicht grundfalsche Ahnung, es könnte ihm einmal da drinnen bei genauer Messung selbst ein kleiner Nebenbuhler erstehen. Das bewohnte Land von Südtirol ist auf dem Kreuzjoche nur dürftig vertreten. Kollern, die kühle Sommerfrische mit ihren weißen Häuschen, die den Boznern so hoch über dem Scheitel leuchten, zeigt sich hier in beträchtlicher Tiefe. Darüber hinaus ist Deutschenofen und die weitgesehene Wallfahrtskirche von Weißenstein, und gegen Fleims hin sind etliche andre weiße Pünktchen wahrzunehmen; tief unten aber zur Linken ein grünes Stückchen Etschland mit dem schlängelnden Strom, ein weißer Streifen – Neumarkt – ein kleiner Abschnitt von Kaltern. Zur Rechten zeigt sich unten an der Töll neben der weißschäumenden Etsch in lieblicher Schönheit das frische Partschins – Meran aber ist noch verdeckt.
So schön die Aussicht hier oben, so wird sie doch, wie man in Meran versicherte, von jener auf dem Hirzer an Umfang und Großartigkeit noch weit übertroffen. Der Hirzer liegt nicht ferne vom Kreuzjoche, leider aber wußte ich damals noch nichts von seinen Vorzügen. Hier herum zeigten sich etliche von Wind und Wetter abgeschälte Fichtenbäume, mit zerknickten und gebrochenen Armen, durch Stürme und Alter gebückt – eine traurige Schau, wie sie fast auf allen Jöchern vorkömmt, um uns zu zeigen, daß der Holzwuchs von oben herunter absterbe und daß jetzt keine Bäume mehr aufkommen, wo ehedem noch stolze Fichten die Luft zu leben fanden.
Vom Joche weg erreichte ich bald wieder eine Almhütte, wo etliche betagte Weiber walteten in schlechter Vergnügtheit über das Sommerwetter, das ihnen in den letzten vier Wochen die Alm dreimal mit Schnee belegt hatte. Gleichwohl zeigten sich die Wiesen herum im schönsten Alpenschmucke. Gelb ist die Hauptfarbe solcher blühender Bergmähder und das machen die Ranunkeln, die die Laien Todtenblumen heißen; dazwischen aber mischt sich das Weiß der Dolden, das tiefe Himmelblau der Enzianen, das lebhafte Rosa des Speiks und so entsteht jener zauberhafte Blumenteppich, der den [405] Alpenbesucher so höchlich ergötzt. Von der Hütte an ging’s immer sachte abwärts durch lichten Wald, bis ich den Weg verloren hatte. Glücklicherweise hörte ich hier etliche ferne Schläge im Gehölz. Diesen ging ich nach und kam zu einem Haufen Holzarbeiter, die einen Fichtenstamm nach dem andern zur Erde brachten. Sie wiesen mich zurecht, aber es vergab nicht viel, denn es gelang mir immer nicht, einen getretenen Pfad herauszufinden. Nach längerem Umherirren zwischen Sumpf und Alpenrosenhecken, die eine jähe Felsenwand verdecken mußten, da aus fast senkrechter Tiefe eine grüne Wiese heraufschimmerte, nach manchem vergeblichen Versuche, einen nahen Ausweg zu erspähen, gewahrte ich endlich den Runst eines lärmenden Baches, in den ich mich hinunterließ. Ich verfolgte ihn von einem trockenen Stein auf den andern springend, bis ich unter seiner Leitung ans erste Haus von Hafling kam und damit aller Fährlichkeit und allem Bangen vor Verirrung entrissen war.
Stellung und Lage dieses Dörfchens sind ungemein lieblich, und so zu sagen elegant, gebirgisch elegant. Unten in der Schlucht, die hin und wieder Düsterheit gewährt, ein rauschender Bach, begrüßt von dicken Büschen, daneben ein Häuschen, eine Mühle, vor der Thüre eine Schützenscheibe, ein steinbelegtes Dach, ein silberner Wasserguß. Ueber diesen Bildchen ein ansehnlicher Stoß Felsen, nicht ohne Bäume, nicht ohne Wasserfall. Ueber den Felsen hin und wieder ein breites Kornfeld, anmuthig umgrünt, Häuser, Obstgärten, zwischen Lärchenbäumen ein Kirchenthurm, Strohdächer, die aus schmalen Thälchen hervorragen, da und dort eine Capelle, ein Bildstöckel. Weiter oben das Geschröff, auf dem ein dunkler Schopf von würdevollen Tannen, auf den Höhen Wälder, dick und licht; überall Wege und Stege, Geländer, Brückchen, Zäune, arbeitende Landleute, wandernde Pilger – kurz alles zusammen so niedlich, reich und bunt, daß ein Süddeutscher es nicht anders nennen kann, als eine Gegend wie in der „Krippe.“
Am andern Ende des Dörfchens steht die alte Kirche St. Katharina, zubenannt „in der Scharte,“ schon 1251 von [406] Bischof Egno von Brixen eingeweiht, dicht am Abgrunde, der sich in die Thalgegend von Meran hinabsenkt. Sie erscheint, von unten auf gesehen, frei und schlank, wie in einer Waldlücke stehend, den blauen Himmel hinter sich – davon ihr Name. Mir schien sie immer wie das Wahrzeichen der Meraner Gegend, in ihrer ausgezeichneten Lage auf der ragenden Höhe mit dem röthlichen Thurm, den die Abendsonne am letzten küßt, Sehnsüchtiges Schauen für den lungenschwachen Curgast, der des Abends zu Meran auf der Wassermauer sitzt, wie die Schatten an den rothen Felsen so leicht und sicher hinansteigen und an dem Thurm hinaufklettern, zu dessen Füßen die frischen Bauernjungen von Hafling lustig spielen. There are the young barbarians all at play – aber ihr fröhliches Rufen hallt nicht ins Thal herunter – das Kirchlein steht still in abendlicher Einsamkeit am hohen Horizont.
Hier oben in der Scharte ist eine herrliche Aussicht über das Thal von Meran, von Lana aufwärts bis nach Partschins, das so sommerfrischlich herauf winkt. Die tiefgrünen Matten an der weißen Etsch, die aus dem engen Rachen des Vintschgaues heraus stürzt, die Rebenhügel auf den Halden, die Dörfer, die Häuser und die Burgen, die Stadt mit ihrem hohen Thurm, alles liegt so schön gestickt, so reinlich abgemalt, so frisch und wonnig vor dem Auge, und die hohen kalten Jöcher stehen schützend um das kleine Paradies. Der Einblick in nahe, deutliche Gartengelände trifft den Beschauer oft viel freudiger als das Erspähen kolossaler Erhabenheiten, die in blauer Ferne verschwimmen.
Im übrigen ist das Dorf wenig besucht, vielleicht weil das Wirthshaus schlecht ist, vielleicht ist auch das Wirthshaus so schlecht, weil wenig Gäste kommen. In der Bozner Gegend sind auf gleicher Höhe die früher genannten Sommerfrischen; in Hafling dagegen ist ungemischte Bäuerlichkeit ohne städtische Zuthat. Die Meraner haben für ihren Bedarf Anstalten genug im Thale. Der Menschenschlag ist stark und wohlgebaut, gleich dem im Sarnthal und dem um Meran, zwischen welchen beiden er seine Wohnungen erbaut hat.
[407] Zu Thale steigt man auf einem Bergpfad, der im Walde steil herab führt. Ich ging auf Fragsburg zu das von Meran aus so schön sich darstellt. Ungeheure Kastanienbäume erheben sich ringsherum auf dem Bühel. Das Gebäude ist leer, seitdem es der vorige Besitzer an einen Bauern, verkauft, der die Burg nur betritt, wenn er sie einem Fremden zeigen soll, sonst aber außerhalb wohnt in seinem Bauernhause. Der frühere Besitzer war der mit einer Norddeutschen vermählte Sänger Cornet, bei welchem einst Lewald seine Sommerfrische hielt. Das Schloß hat ein malerisches Aussehen; übrigens ist des Merkwürdigen nicht viel. Etliche Familienporträte der Grafen und Gräfinnen von Manning sind noch vorhanden, an welchen Lewald jene gelungenen Wahrnehmungen über Veredlung der Race gewann, welche man ihm zu Meran noch immer übel nimmt. Auch das Zimmer wurde gezeigt, wo er, von unheimlichen Winden bedrängt, eine schlaflose Nacht zubrachte. Die Gnädige, sagte die Bäuerin, die Gnädige ist nie gerne hier gewesen; wenn Mais Braunschweig und Meran Hamburg wäre, hat sie oft gesagt, dann möchte sie’s wohl aushalten in dem alten Nest, aber so nicht. Darum hat sie auch schon lange wieder das stille Land um Meran mit dem lauten Hamburg vertauscht. Ueber das Burgleben zur selben Zeit, als diese gebildete Gesellschaft hier oben weilte, verweisen wir auf die freundliche Schilderung, die Lewald selbst davon gegeben hat.
Hinter der Fragsburg ist eine ziemlich geräumige Ebene, die hier an diesem Platze gar nicht vermuthet wird, zum Theil Wiese, zum Theile Kornfeld. Drüber hingehend erreicht man bald den Tobel, in welchen der Fragsburger Wasserfall herabstürzt – eine schöne wilde Landschaft mit wogenden Büschen und ragenden Felsen. Am Rande des Tobels fort führt der steile Steig jetzt schon wieder mit allen Reizen südlicher Vegetation verkleidet in das Thal hinab – zuerst noch an einem lieblichen Teich vorbei, der einer Muschel gleich, voll krystallklaren Wassers in kühlem Helldunkel verborgen liegt, regungslos, nur zuweilen von irrenden Sonnenstrahlen gestreift oder von einem verschlagenen Zephyr, ein [408] Platz, wie ein heidnisches Heiligthum oder wie die heimlichen Stellen, wo geschmackvolle Romanschreiber ihre Mädchen baden lassen. Von dem kleinen Teiche abwärts immer steil und schroff nach Katzenstein, einer Veste, verfallen wie die andern, dann in die Ebene und nach Mais, wo ich fast erdrückt von der Hitze, in der ich seit der Fragsburger Höhe gewandert, ins kühle Wirthshaus trat, um die trockene Kehle zu netzen und mir die Schuhe bürsten zu lassen zum anständigen Eintritt in die alte Landeshauptstadt Meran.