von Ludwig Steub
Die Landschaft von Kaltern, deren Thürme, Ansitze und Schlösser überall verschönernd in die Gegend von Bozen hereinblicken, wird trotz ihrer Reize wenig besucht. Sie ist zu warm, um als Sommerfrische zu dienen, zu ländlich, um viel Zeitvertreib aufzubringen. Gleichwohl war sie im letzten Jahrzehnt mehrere Monden lang durchwallt von vielen Tausenden, die zu Fuß und zu Wagen, allein und in Processionen mit Kreuz und Fahnen daherkamen, um ein altes Herrenhaus aufzusuchen und eine kleine Kammer, in welcher eine lebendige Heilige lag, nämlich Fräulein Maria von Mörl. Wir werden sie auch noch sehen, aber vorher schlendern wir gemächlich aus Bozen heraus und zwischen langen Mauern durch auf der Straße nach Eppan, wie man mit einen Namen die beiden nachbarlichen Dörfer St. Paul und St. Michel nennt. So gelangen wir zur Etsch, die in rauschendem Bogen um den Felsstock herumzieht, auf dem die Veste Sigmundskron erbaut ist. Diese, das alte Schloß Formianum, Formicaria, von Erzherzog Sigmund neu hergerichtet und in wehrlichen Stand gesetzt, ist zwar jetzt abermals verfallen, aber gleichwohl noch eine sehenswerthe Ruine. Sie liegt in üppigem Buschwerk von jungen Eichen, durch welches ein angenehmer Pfad vor die Burgpforte führt. Darüber sind die Wappen von Oesterreich und Tirol ausgehauen, ersteres mit dem vielberühmten Schmuck der Pfauenfedern auf dem Helm. Im untern Theile der Veste steht an der Ringmauer ein hoher Wartthurm, jetzt als Pulverkammer benützt, im obern Theile sind die verfallenen Gebäude, die ehemals von dem Burghauptmann bewohnt waren, allenthalben zerrissen und zerspalten, voll Schutt und Mauergebröckel; gegen die Etsch hin stehen noch dicke Thürme mit Schießscharten. Es liegen jetzt ein paar Invaliden in der stillen Veste.
Weiter gegen Eppan ziehend, gelangt der Wanderer ins Paulser-Loch, eine tiefe Schlucht durch Sandhügel gebrochen, an zwei kleinen Vesten hinziehend, Wart und Altenburg, beide halb verfallen, die eine fast ganz von Epheu überwachsen. [388] Zur Rechten auf einem Bergerker sitzt die Burg von Hohen Eppan, die schon Paul Diaconus als Appianum kennt, die jetzt noch weidlich prangt auf ihrer Höhe, obgleich längst von allem ritterbürtigem Geschlecht verlassen und nur mehr der unheimliche Aufenthalt einer Baumannsfamilie. Es ist der Mühe wohl werth, den alten Horst zu erklimmen und sich der Wartenaussicht zu erfreuen, die einst die alten Eppaner dort genossen. „Ergriffen von allen Schönheiten des Geländes, sagt Freiherr von Hormayr, und dem Ehrwürdigen des Alterthums dünkt dem Wanderer, er sehe hier auf dem Luginsland einen der Burgherrn spähen und die mächtigen Vorwerke rings um das Hauptschloß gelegener Vesten seiner Lehensritter zählen: Boimond, das Stammhaus des alten Geschlechtes dieses Namens; Altenburg, Wart, Korb, Festenstein, Payrsberg, dann jenseits der Etsch, an der Stirne eines wolkennahen, frei vorragenden Felsens gleich einem Adlerneste klebend, das trotzige Greifenstein, Altenberg, Oberglanig, des Bischofs von Trident und des Grafen von Tirol seines Vogtes Mannen und Söldnern in Bozen ein gewaltiger Kappzaum. Aber zur Linken sah er auch seines Gegners nie bezwungene Veste Tirol in ungeschwächter Kraft, vor sich zur Rechten seines Erbfeindes, des Trienter Bischofs, Lieblingsburg, das gewaltige Formigar, Neuhaus und Maultasch, von dem sich hernach Margaretha benannt, Siebeneich, die Heimath treuer Dienstmannen von Tirol, aus welchen Hartmann 1168 Friedrich den Rothbart zu Susa von Meuchelmördern errettet, und von neuerm Bau die Edelsitze Freudenberg, Fuchsberg, Gandeck, Gleif, Haslach; Bozen, die emsige handelsbelebte Stadt, aus der die Kirche von Trient die Grafen nach Eppan vertrieben; im Hintergrunde das vielbestiegene Rittengebirge, Vels, Steineck, Karneid; – die Etsch hinab das fruchtbare Thal bis Salurn, eingeschlossen von den waldigen[WS 2] Bergen von Buchholz, Deutschenofen, Aldein; die Etsch hinauf die Bergfirsten von Passeyer, Algund, Lana, Mölten.“
Nach Freiherrn von Hormayr sind die alten Eppaner welsischen Geschlechts gewesen. Ursprünglich zu Bozen seßhaft wurden sie im eilften Jahrhundert durch den Bischof Gebhard [389] von Trient daraus vertrieben und nahmen ihren Sitz auf Hohen Eppan. Ihre nächsten Nachbarn, die Grafen von Tirol und die Bischöfe von Trient, waren ihre ärgsten Feinde. Dazu weckten sie auch noch den Grimm Heinrichs des Löwen, als sie einst zwei Cardinäle, die jener nach Deutschland berufen, überfielen und auf ihrem Schlosse ins Verließ warfen. Heinrich überzog sie dafür und brach ihnen eine Burg nach der andern. Die Eppaner unterlagen und nahmen ihre Schlösser von der Kirche zu Trient zu Lehen. Dieß geschah im Jahre 1158, und damit hatte Ruhm, Größe und Ansehen der Eppaner ihre Endschaft erreicht. Einer der letzten war Bischof Egeno von Trier, der nach unruhiger Vorsteherschaft im Jahre 1273 auf der Flucht zu Padua verschied. Bald darauf, nämlich 1300, starb das Geschlecht aus.
Die Dörfer, die wir nun durchwandern, sind voll städtischer Häuser mit großen Portalen, mit Erkern und Thürmen, mit romanischen Doppelfenstern und grünen Jalousieläden, zumeist von lachenden Gärten umgeben, aus denen dunkle Cypressen aufspitzen. Die Landschaft gehört zu den schönsten in ganz Tirol – eine Höhe, die sich nur wenig über die Fläche des Etschthales erhebt, lange nicht so, daß ein merklicher Unterschied des Klima’s, eine mindere Vortrefflichkeit der Trauben und der andern Früchte zu gewahren wäre. Ehemals war der Weinhandel der Eppaner, zumal derer von Kaltern, die an ihrem See eine der beliebtesten Sorten ziehen, sehr beträchtlich, und die Menge und Ansehnlichkeit der Ansitze und der Landhäuser mag zum Theil auf die süße Frucht der Rebe gegründet seyn. Die Eppaner Flur und die sonnige Berghalde von Obermais waren von Alters her die liebsten Siedelstätten für den Adel, der sich zahlreich aus den oberdeutschen Ländern an die Etsch zog. Aus allem diesem, aus der grünen, rebenreichen Hochebene, aus den stattlichen, stadtmäßigen Dörfern, aus den unzähligen neuern Ansitzen, aus den grauen verfallenen Burgen und den hohen Porphyrfelsen, die auf einer Seite steil emporsteigen, während auf der andern dunkler Wald, aus diesem allem soll sich der Leser, den schönen blauen Himmel dazu gerechnet, das reizvolle Bild zusammenstellen, das [390] dem Pilger, der da zwischen den Dörfern von Eppan hinzieht, beständig vor Augen liegt.
In Kaltern lebte also Fräulein Maria von Mörl, das fromme, kranke Mädchen, das in den Jahren 1833 und 1834 in ihrem Vaterlande und weit darüber hinaus so viel zu sprechen machte. Da ihre Lebensverhältnisse schon mehreremale ausführlich in Druck gegeben worden sind, so wäre es überflüssig, hier weitläufiges davon zu melden. J. Görres hat ferner ihren Zustand in seiner christlichen Mystik vom übernatürlichen, Professor Ennemoser in dem Buche über den Magnetismus vom natürlichen Standpunkte aus besprochen. Görres hat dazu die Mittheilungen von Personen benützt, die dem Fräulein von Jugend auf nahe gestanden. Es sind davon mehrere in der Gegend, die in ihren Angaben wenig abweichen. Auch eine geschriebene Erzählung ihrer Lebens- und Leidensgeschichte von vertrauter Hand haben wir durchgesehen. Fräulein Maria, die im Jahre 1812 geboren ist, war ein frommes, liebenswürdiges Kind, immer mehr leidend als gesund. Schon im fünften Lebensjahre stießen ihr bedenkliche Hämorrhagien zu und bis in ihr zwanzigstes hatte sie mehr als eine lebensgefährliche Krankheit überstanden. In diesem Alter traten jene innerlichen Plagen bei ihr ein, die man die tentatio diabolica nennt. Sie wurde ohne Unterlaß durch scheußliche Gestalten gequält, die sie bei Tag und Nacht durch das Zimmer schreiten sah, arme Seelen schleppend, die sie anschrien und ihr zuriefen: du bist verworfen und verdammt. Von denselben Phantomen, schwarzen, wilden Männern, meinte sie auch körperlich geplagt, geschlagen und gemartert zu werden. Diese Gesichte verschwanden indessen, als man im Jahre 1833 ganz in der Stille den kirchlichen Exorcismus angewendet hatte. Im nämlichen Jahre zeigte sich bei ihr auch die erste Ecstase, ein Zustand psychischer und physischer Abgezogenheit von äußern Einwirkungen. Damals blieb sie sechsunddreißig Stunden lang in solcher Verzückung. Der Ruf dieser wunderhaften Erscheinung verbreitete sich schnell über Nachbarschaft und Ferne, und im Jahre darauf schon war der Zulauf ungeheuer. Von Ende Julius bis zum 15 September sollen über 40,000 Menschen [391] in dem Dorfe gewesen seyn und an manchen Tagen zogen über 3000 Gäste durch das enge Zimmer der Kranken; ja, wie wir schon gesagt, manche Gemeinden kamen in Processionen mit ihren Priestern mit Kreuz und Fahnen. Zu damaliger Zeit trat auch eine geistliche Untersuchung ihres Zustandes und ein strenges Verhör aller nahestehenden Personen ein. Der Fürstbischof Luschin von Trient, ein geistreicher und aufgeklärter Mann, war selbst gekommen, um diesen Augenschein einzunehmen. Er soll nach reiflicher Prüfung seine Meinung dahin abgegeben haben: Ihre Krankheit ist kein Wunder, aber ihre Frömmigkeit ist keine Krankheit.
Im folgenden Jahre erschienen auch jene Blutmale an den Händen, an den Füßen und an der Seite, welche man die Stigmata nennt; seit dieser Zeit aber dauert ihr Zustand, getheilt zwischen Ecstase und Wachen, ohne neue Phänomene fort.
Seit längern Jahren ist der freie Besuch nicht ohne Schmerz der Kälterer aufgehoben und der Zutritt findet nur mit großer Beschränkung statt. Nachdem die Erlaubniß erwirkt war, fand ich mich – im Mai 1844 – mit einem Bozner Freunde und einem Franciscaner-Pater vor den Pforten des Nonnenklosters, welches sich Fräulein Maria seit mehreren Jahren zum Aufenthalte ausersehen. Beim Eingange wurde uns bemerkt, daß der kleine Anbau, den wir betraten, von der Kranken auf eigene Kosten zu ihrer Wohnung aufgeführt worden sey. An der Pforte hatte sich auch eine reisende Französin zu uns gesellt, eine ältliche Dame, die so eben einschicht von Rom und Loreto kam, in einer Kreuzfahrt auf Mirakel begriffen, wie sie denn auch von Kaltern gleich wieder nach Capriana zog, um die dortige noch merkwürdigere Heilige zu besehen. Wir standen also an der Thüre, die in ein halbdunkles Zimmer führte, aus dem uns Pater Capistran, der Beichtvater, einzutreten winkte. Die Französin hatte als Dame den Vortritt, lehnte ihn aber ab, weil sie sich auf ihre Nerven nicht verlassen könne. Ging also unser einer zuerst hinein und fand sich in einem kleinen schlichten Gemach, in das durch zugezogene Jalousien nur dämmerndes [392] Licht fiel. Einfaches Hausgeräthe, etliche Bilder an den Wänden, links am Fenster ein kleiner Altar, diesem gegenüber das Bett, auf diesem und zwar auf dem untern, dem Altare zugewendeten Rande das Fräulein in weißem Gewande, selbst weiß wie Marmor, lange, schwarze Haare über den Nacken, kniend, die Hände gefaltet zum Kinn emporgehoben, die großen Augen regungslos aufwärts gerichtet, sie selbst ohne Regung und scheinbar ohne Leben. Eine stille Feierlichkeit lag über der jungfräulichen Gestalt und hielt uns Mannsbilder in bescheidener Entfernung, bis uns der Pater an das Lager führte. Wir sollten nur strenge Hinsehen, es rühre sich kein Augenlid, was wir auch richtig so befanden. Nach allen den Leiden, dem Brustweh und Halsübel, die sie in letzterer Zeit wieder dem Tode nahe gebracht, war die Verzückte eine überraschende Erscheinung, denn sie war zwar bleich, aber im Gesichte voll, was Ennemoser freilich aufgedunsen nennt. Von ihrer Stellung wird behauptet, sie berühre die Unterlage nur mit den Zehen, zwischen jener aber und den Knien könne man ein Kartenblatt leichtlich durchschieben. Nach einer Weile rief sie Pater Capistran leise beim Namen, um die Ecstase zu enden, und augenblicklich sank sie rückwärts und lag auf dem Kopfkissen, milde lächelnd, mit einem kindlichen Ausdrucke in den muntern Zügen. „Sie mag es nicht gerne leiden, sagt Görres, wenn der Ernst des Eindruckes, den die Scenen, von denen die Anwesenden Zeugen gewesen, hervorgebracht, in ihrem Ausdruck noch allzu sichtbar ist, oder wenn man ihr mit einer Art von Feierlichkeit und Verehrung naht und sucht dann durch ein ungesuchtes, fröhliches Benehmen diesen Eindruck zu verwischen.“ Seit dem Jahre, wo die erste Ecstase eingetreten, spricht das Fräulein mit Niemand mehr als mit ihrem Beichtiger und auch mit diesem nur, wenn dritte Personen nicht zugegen sind. Doch nimmt die Kranke wohl Antheil an dem was man ihr sagt. Die Fremden werden ihr vorgestellt und sie lächelt ihnen dann bewillkommnend entgegen. Wir Herren, wie es von unsrer Wohlgezogenheit nicht anders zu erwarten, hielten uns unaufdringlich, rückten nur so nahe heran, als uns die beiden Patres führten, und betrachteten mit [393] schweigender Theilnahme das kranke Mädchen – recht unbequem dagegen machte sich die wallfahrende Dame aus Frankreich. Nachdem sie einmal ihrer Nerven sicher war, trat sie keck voran, begehrte mit Ungestüm die Wundmale zu schauen und suchte die Hände des Fräuleins auseinander zu zwängen, weil sie auf der innern Fläche deutlicher sind als auf der äußern. Nach diesem zog sie kleine Bildchen heraus, wie man sie in Rom und Loreto kauft, und schenkte etliche der Kranken, worauf diese den Pater Capistran durch ein Zeichen bat, er möge ihr auch ihre Bilderschachtel geben. Darauf tauschten sie beide ihre Kupferstiche und Maria mußte alle diejenigen küssen, die die Französin behielt; auch an die Wundmalen wollte diese sie drücken, weiß aber nicht, ob es gelang. Endlich machte sie mit den beiden Fingern der rechten Hand gegen die Mönche, die kein Französisch verstanden, die Bewegung einer Scheere, um anzudeuten, daß sie etliche Haare von dem schönen Reichthum des Fräuleins abschneiden wollte. Mein Gott, sagte dagegen Pater Capistran, wenn wir dieß erlaubten, hätte sie schon lange kein Härchen mehr im Schopfe. Während wir nun allesammt etwas ärgerlich über diese Begehrlichkeiten am Bette standen, war das Fräulein wieder ecstatisch geworden und lag theilnahmslos mit starren Augen vor uns. Als die reisende Dame den Zustand bemerkte, bat sie um Erlaubniß die Verzückte küssen zu dürfen, und als ihr dieß ungern gestattet worden, drückte sie etliche schnalzende Küsse auf die bleichen Lippen, war auch nur durch entschiedenes Zurückziehen von der Fortsetzung dieser frommen Uebung abzubringen. Ich meinte, das müßte dem Fräulein lästig fallen, allein man entgegnete, sie fühle jetzt nichts und die Frau werde sie sogleich nicht wieder zu sich selber bringen. Es gelang ihr aber dennoch; auf einmal drehte sich Marie herüber, und lächelte ihr wieder anmuthig zu. Endlich als man sich zu gehen anschickte, begehrte jene noch zu bleiben und zwar allein bei ihr, so daß man zuletzt fast sanfte Gewalt anwenden mußte, um sie weiter zu treiben. Uns andern kam diese andächtige Neugier etwas roh vor, die Franciscaner aber versicherten, derlei Leute seyen schon oft dagewesen.
[394] Wenn man sich nun erkundigt, wie das innere Leben Mariens während ihrer Verzückungen beschaffen sey, erfährt man „daß sie sich, nach Görres’ Worten, mit einer fortlaufenden innern Anschauung des Lebens und Leidens Christi, mit Anbetung des heiligen Altarsacraments und mit einem wohlgeregelten, betrachtenden Gebete nach der Ordnung des Kirchenjahres beschäftige.“ Am Donnerstage und Freitage folgt sie der Leidensgeschichte und am letztern Tage um drei Uhr tritt der ecstatische Todeskampf ein, der in der christlichen Mystik beschrieben ist. Ein fröhliches Begängniß wird der heiligen Zeit um Weihnachten zu Theil, wo Marie laut jubelt über die Geburt des Herrn und das Kindlein mit den Armen freudig wiegt; auch geht es lustig zu, wenn die Hochzeit zu Cana gefeiert wird. Dann jubilirt sie mit den Hochzeitgästen und gibt durch freudenvolle Gebärden ihre mystische Theilnahme an dem biblischen Vorgange zu erkennen.
Auffallend war, daß der Zustand des Fräuleins bald nach seiner Epiphanie endemisch zu werden drohte. Ueberall in der Runde standen Mädchen auf, die von der tentatio diabolica zu leiden haben wollten und daraus als Heilige hervorzugehen gedachten. Von den Frommen zu Bozen wurde die hysterische Legion besonders gehätschelt, als eine Gnade des Himmels, der das gottselige Etschland vor allen andern Ländern auszeichnen wolle. Man muß der Geistlichkeit die Anerkennung zollen, daß ihr diese Ehre zu groß schien. Sie trat zweifelnd dazwischen und verwies die Aspirantinnen an die Aerzte. Manche gaben dann die Sache wieder auf; andre siechen noch jetzt ohne Nimbus fort. Die bedeutendste dieser unächten Nebensonnen war die Heilige von Tscherms, einem Dörfchen bei Löwenberg. Sie war die Pflegetochter eines wohlhabenden Bauern und fühlte die Gnade zuerst im Jahre 1836. In ihrem Beichtvater, dem Curaten, fand sie endlich den Gönner, der ihren Zustand zur Kenntniß der Christenheit brachte. Im Jahre darauf zeigte sich die Gabe der Weissagung; damit wuchs auch die Berühmtheit und der Besuch. Der Geistlichkeit der Nachbarschaft mißfiel jedoch das Verhältniß der heiligen Jungfrau zu ihrem Gewissensrath. [395] Verlässige Zeugen wollten gesehen haben, wie der junge Mystagog die junge Sibylle „gebußt.“ Man entsandte daher das Mädchen zu den Klosterfrauen in Zams. Sie konnte es aber dort nicht aushalten, weil sie vom Teufel in ihrer Zelle allzuheftig bedrängt wurde. Im Sommer 1838 ging man damit um, die Prophetin zur Aufsicht in den Pfarrhof von Marling zu bringen, denn der damalige Pfarrer, der jetzige Decan zu Meran, ist ein Gegner der Wunder wie der Weltlust, und man hoffte daher viel von der geistigen Diät, die ihr bevorstand. Als der Pflegvater vorgerufen wurde, um sie zu schaffen, war indeß die Heilige fort und er wußte nicht wohin. Bald darauf wurde auch der Tschermser Curat versetzt. Man sagt, die Jungfrau lebe jetzt in der Verborgenheit in Wälschtirol. Böse Zungen sprechen auch von einem kleinen Kinde, mit dem die Prophetin niedergekommen und lassen sich’s nicht ausreden, obwohl die Unterrichteten nichts davon wissen wollen. Das verdächtige Auftreten der Tschermserin hat den Glauben an die Uebernatürlichkeit solcher Erscheinungen sehr erschüttert. Die Weltkinder zu Bozen glaubten nie daran, schon aus Pique gegen ihre frommen Mitbürger, welche darüber jubelten. Sie halten auch die Heilige von Kaltern für ein Blendwerk der Mönche, lassen diesen aber die Ehre, daß sie es verständig angegangen. Ja, sagte ein kaustischer Bozner, als davon die Rede war, ja die Heilige von Kaltern, das ist eine solide Unternehmung, aber bei der zu Tscherms ist die Dividende großer geworden, als die Aktionäre gewünscht haben.