Drei Sommer in Tirol – Das Paznauntal

von Ludwig Steub

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Die Trisanna fließt nach Galtür, dem ersten Dorfe von Paznaun, hinaus durch ein ödes Thal, das ganz spitz zulaüft und in seiner Tiefe nur für den Bach und den schmalen Fußpfad Raum läßt. Zweimal jedoch dehnt sich der Bach in einen weiten Wasserspiegel und bildet so zwei seichte Seen. [130] In einem derselben liegen mehrere Inseln; alle kahl, bis auf eine, die mit einem krausen Schopfe von Alpenrosen überwachsen ist. Einsame Landschaft – keine Menschen und keine Thiere, kein Laut, als das Fluthen des Sees. Auf dem Wege kamen wir auch wieder an dem Zeinis vorüber, dessen Ansteigung hier sehr mählig ist, während es von der Montavoner Seite so steil in die Höhe geht; oben wandert man lange Zeit eben fort. Die Montavoner und Paznauner schmeicheln sich, seitdem vor zwei Jahren der Landesgouverneur durch ihre Thäler und über den Zeinis gepilgert, es werde seinen Spuren bald die Verbindungsstraße zwischen Tirol und Vorarlberg nachfolgen, der Arlberg aufgegeben und der Heerweg über den Zeinis gelegt werden – einmal, meinen sie, schon wegen der Nähe, von der sie nicht ablassen, obgleich sie, wie oben behauptet, Unrecht haben, und dann sey Zeinis weit niedrer als der Arlberg, viel früher „aber“ als dieser und ein viel milderes Bergjoch, daher auch eine Straße wohlfeiler zu pflegen.

Galtür, das 5039 Wiener Fuß über dem Meere liegt, und Vent im Oetzthale, wohin wir auch noch kommen, sollen die beiden höchstgelegenen Dörfer in Tirol seyn. Ersteres steht in einsamer Gegend, die noch kein Getreide, ja kaum einen Baum aufkommen läßt, aber schöne Wiesen darbietet. Die Häuser sind zum Theil von Stein, an der Wetterseite und auf dem Dache mit Brettern bekleidet. Die Gegend haben wir einsam genannt und sie ist’s auch – einsam und voll tiefer Ruhe. Die Berggestalten sind fast mild und freundlich, wenigstens nicht drohend, weil man nur den ersten Anlauf der Höhen gewahrt und nicht die gewaltigen Fernerjöcher, die dahinter liegen, nicht den Lareiner, den Fetschiel, den Fimba und den Jamthaler, über welche die bösen Wege in Graubünden führen. So sieht die kleine Thalfläche mit den zerstreuten Häuschen und den grünen Halbhöhen recht idyllisch aus; wenn zwischen den Wiesen mehr Bäume stünden, könnte man glauben, man sey schon draußen in den Vorbergen, im Allgäu, in der Gegend von Tegernsee oder Miesbach. Gegenüber der Landkarte ist diese Einfachheit fast [131] eine Enttäuschung. Schon um Innsbruck stehen ja die erhabensten Bergfirsten, im Oberinnthal bei Imst, bei Landeck fließt der Strom immer in gigantischem Gebirge; gegen das Stanserthal hin steigern sich die Eindrücke, und doch ist’s noch eine Tagreise bis in den innersten Winkel von Paznaun, um welchen die Mappierer einen blauen Reif von Eisbergen gemalt haben. Geht nun das Wesen in zunehmender Progression so fort, so müssen dahinten, wie man sich leichtlich einbildet, die rhätischen Chimborassos stehen mit ihren nickenden Kuppen, und Niagarafälle stürzen durch den Urwald und die Gletscher steigen unaufhaltsam hernieder und schauen bis in die Kellerlöcher der Alpenhäuser. Es hat aber hier und auch gar häufig anderswo gerade das umgekehrte Aussehen. In den Tiefen des Hochgebirges liegen nicht selten ganz prunklose Alpenthäler und die kolossalste Landschaft, die prächtigsten Staffeleibilder finden sich dafür an der Poststraße. Wo die Krone schauerlicher Erhabenheit, das Letzte und Unübertrefflichste wilder Schönheit erwartet wird, da thut sich ein grüner Wiesenplan auf mit einem stillen Alpendörfchen in der scheinbar mildesten Umgebung. Etwas anderes ist’s freilich, wenn man in dieser abgelegenen Welt auf die Höhen klimmt. Dann kommt allerdings bald der Gletscherkranz zum Auftauchen, und wenn man unten in der geräumigen Wiese, das Dörfchen vor Augen, sich denkt: das ist die Gegend von Galtür und weiter gehört nichts dazu, so sieht man oben erst die breiten Berghänge, die weiten Almen, die langen Wälder, die schrecklichen Schrofen, die ungeheuern Schneefelder und die meilenlangen Ferner. Blickt man dann hinunter in die Au, auf die farbigen Häuserpünktchen und den dünnen Wasserfaden, dann scheint das ganze Thälchen nicht viel mehr als ein bemooster Spalt im Gestein oder ein grünbewachsener Riß im Felsen.

Von Galtür bis Ischgl, dem Hauptorte des Thales, ist nicht viel zu sehen. Die Landschaft behält die gleiche Einfalt und Schmucklosigkeit, die sehr auffallend absticht von der bunten, wechselreichen Fülle des Montavons. Die Trisanna fließt fast schnurgerade dahin, und so sieht man weit entlang an den Bergen, wie an einer pfeilrechten Zierallee. Die [132] Halden fallen alle in gleicher rascher Senkung ins Thal herab und lassen wenig oder keine Fläche. Bis zur halben Höhe sind Wiesen, oben ist Wald. Hie und da reicht der Forst auch an den Steig herab. Etwas unterhalb Galtür beginnen wieder die Gerstenfelder. Der Pfad klettert links vom Bache auf und nieder und führt durch einige arme schmutzige Dörfchen. Endlich steigt Ischgl, die Paznauner Capitale, über den Fichten auf, stolz an die Halde hingebaut, mit mächtigen steinernen Häusern und ansehnlichem Dachwerk, aus dem ein gothischer grüner Kirchthurm spitzig in die Luft schießt. Hier habe ich meine leibliche Tröstung beim „Wälschen“ gefunden.

In Ischgl erlebte ich auch wieder das Vergnügen eine Chronik aufzutreiben. Wer weiß, an wie vielen andern ich seit dem Fund im Mittelberger Bade vorübergegangen war. Daß ich in Galtür eine überlaufen hatte, erhellte mir schon aus der ersten Seite des Ischgler Buches, wo es mit deutlichen Worten zu lesen, daß Thomas Praun, ehedem Richter zu Galtür, auch eine Chronik verfaßt, welche in selbigem Orte bei Joseph Feuerstein zu finden. Es gibt solcher Thalgeschichtsbücher eine ziemliche Anzahl, nur sind sie nicht alle gleich zugänglich; manche bei abgelegenen Leuten verwahrt, manche selbst abgelegen und vergessen. Große Schätze für ältere Geschichte dürften nicht darin zu finden seyn – für diese Epoche beziehen sich die Chronisten gewöhnlich auf gedruckte Bücher – aber aus dem Leben der letzten Jahrhunderte enthalten sie meistentheils viele erquickende Einzelheiten, und was sie gar schätzbar macht, sie berücksichtigen auch die jetzt übel angesehenen Sagen, die alten Mähren, die Niemand mehr erzählen darf, die tausendjährige Volkspoesie, über deren Vernachlässigung wir an einem andern Orte klagen werden.

Das Ischgler Manuscript heißt: „Geschichtliche Sammlung“ und ist in den Jahren 1840 und 1841 von Johann Christian Zangerl, einem bejahrten Einwohner des Dorfes, der lange Zeit Gemeinderichter gewesen war, zusammengestellt worden. Am Eingange gibt der jetzt dahingegangene Verfasser einen allgemeinen Ueberblick der Geschichte des Paznauner Thales mit Beziehungen auf Tschudi und andre ältere und neuere Historiker, [133] dann folgen einzelne zerstreute Notizen unter verschiedenen Aufschriften, als: von Kirchen, Capellen, Bruderschaften und frommen Stiftungen, von starken, von alten Leuten, von solchen, welche die fünfzigjährige Hochzeit gehalten; von wohlfeilen und theuren Jahren, von Geistergeschichten, von Feuersbrünsten, Wasser- und Lawinenschäden u. s. w. Von diesen Nachrichten haben wir uns manche ausgezogen und lassen hier nun einige folgen. Da indessen die Chronik, seit wir sie in Händen gehabt, mit Zusätzen von Dr. Joseph Zangerl, k. k. Hofarzte in Wien, dem Sohne des Chronisten, gedruckt worden ist und zwar im zehnten Bändchen der neuen Zeitschrift des Ferdinandeums, so werden wir uns mitunter auch an den so vermehrten Text halten.

„Ischgl und Galtür und was dazwischen liegt und sonst dazu gehört, waren vor Jahrhunderten in Engadeinische Pfarren eingethan.“ Das Gedächtniß dieser kirchlichen Verbindung ist noch unter den Leuten lebendig. In Galtür erzählte mir ein weißhaariger Greis, sein Dorf, dessen Kirche die älteste im Thale, sey ehedem nach Steinsberg „pfärrig“ gewesen, was die Romanschen Ardez heißen, und bei Ischgl sagte mir ein andrer Alter, die Ischgler hätten ehemals nach Sins gehört. Galtür wurde im 14ten, Ischgl erst im 15ten Jahrhundert mit eigenem Seelsorger versehen, da der sonntägliche Kirchgang über die Gletscherwildnisse, die das Thal umschließen, in das Gotteshaus der Pfarre, das eine Tagreise entfernt war, den Leuten zu beschwerlich wurde. Ehe da eigene Kirchhöfe geweiht worden, mußten sogar die Leichen über die Gletscher getragen werden, um in heiliger Erde zur Ruhe zu kommen. Im Winter ließ man sie lediglich gefrieren und harrte bis der Paß sich wieder geöffnet – ein Verfahren, das nicht allein im Paznaun, sondern ebenso Jahrhunderte hindurch in einer großen Anzahl von Gemeinden des rhätischen Hochgebirgs üblich war. Das alte Band, das die Innerpaznauner an die Engadeiner knüpfte, war übrigens trotz der Kirchenspaltung und des Sprachwechsels noch bis ins letzte Jahrhundert zu gewahren. Noch bis dahin ging, wie wir schon gehört, ein viel betretener Handelsweg aus dem ladinischen Lande nach dem Innthale durch [134] Paznaun, und Ischgl war der Stapelplatz für die Waaren, die auf den Saumrossen über die Eisberge gekommen und deßwegen ein Ort voll lauten Verkehrs. Es steht ja noch heutigen Tages hinter Galtür in der kahlen Wildniß von Vermunt am Fuß der Gletscher jenes altergraue steinerne Gebäude, vor dessen Thoren einst die Paznauner, die Montavoner und die Engadeiner, denen aber nunmehr die Ferner den Weg verlegt haben, zusammenkamen, um in der tiefen Bergesstille die lautesten Viehmärkte zu halten. Der untere Theil des Thales war früher ein See und dort heißt noch jetzt ein Dorf „am See“, obgleich seine letzten Fluthen längst abgelaufen sind. Jene uralte Verbindung des innern Thales mit dem Engadein deutet übrigens für sich schon an, daß die ersten Einwohner über die Gletscherpässe herüberwanderten, um mit ihren Heerden von der fetten Alpenlandschaft Besitz zu nehmen, ehe die Ansiedler, die im Hauptthale des Inns saßen, es der Mühe werth erachteten, auf dem einsamen Bergsee Schiffe zu zimmern und die stillen Weiden von Ischgl und Galtür zu entdecken. Andrerseits zeigt sich aber auch daß der ehemalige Seeboden erst urbar gemacht wurde, als die Deutschen schon im Lande waren, denn alle Höfe und Fluren in dieser untern Gegend führen deutsche Namen, während oberhalb deren Mehrzahl undeutsch ist. Selbst in der Sprache der Innerpaznauner finden sich noch viele romanische Wörter erhalten. Abgesehen davon zerfällt nach der Bemerkung Dr. J. Zangerl’s die Sprache des Thales in drei verschiedene Dialekte, so daß die Galtürer die vorarlbergische, die Einwohner von Kappl und See die Oberinnthalische, die Ischgler und Mathoner aber eine besondere Mundart führen, was in einem nur acht Stunden langen Thale allerdings bemerkenswerth ist.

Heutzutage gehört Paznaun, wenigstens der obere Theil desselben, nicht zu den wohlhabenden Thälern. Viele junge Männer, die in der Heimath keinen Verdienst finden, begeben sich in die Fremde als Maurer. Ehemals fanden die Paznauner sogar ihren Weg bis nach Westphalen, wo sie als geschätzte Arbeiter galten, wenn es Teiche zu reinigen und zu graben gab. Andere gingen nach Savoyen und Frankreich um [135] in den dortigen Bergwerken zu arbeiten, und wieder andre suchten im heiligen römischen Reich Verdienst als Holzarbeiter. Arme Eltern schicken noch jetzt ihre Knaben vielfach „ins sogenannte Schwabenland“ zum Viehhüten. Da gehen sie wohl, wie die Montavoner, auf die großen Knabenmärkte zu Ravensburg und Leutkirch. Von dem alten reichen Verkehr zu Ischgl soll, nach der Behauptung des Chronisten, der aber unverkennbar ein laudator temporis acti ist, zum Andenken nichts übergeblieben seyn als schöne Häuser, Hoffart und anderer Luxus, wogegen der Sohn die guten Folgen des früheren Wohlstandes gerne darin anerkennt, daß viele junge Leute zu den Studien gesandt wurden und mit verfeinerter Gesittung wieder zurückkehrten, daher auch in Ischgl einnehmende Bildung verbreiteten, welche im Bunde mit der angebornen Gutmüthigkeit die Einwohner noch immer merklich auszeichnet.

Unter den starken Leuten wird Christian Bernhard erwähnt, welcher einstens eine Kuh, die in den Bach gefallen, herausgezogen und wieder auf den Weg getragen habe. Davon soll er mit dem Namen Kuhhautchristel beehrt worden seyn. Herzog Sigismund, der an solchen Leuten seine Freude hatte, ließ ihn, als sein Ruhm nach Innsbruck gedrungen, an den Hof berufen, wo er versuchsweise den stärksten der herzoglichen Trabanten niederschlug. Dieß Zeugniß nahm aber der Herzog übel und ließ ihn wieder ziehen.

Als ein alter, jetzt abgekommener Gebrauch wird das Blockziehen erwähnt. Ehedem war’s nämlich Herkommen, daß die Burschen zu Ischgl jedes Frühjahr einen großen Lärchenstamm fällten und mit Büschen und Kränzen festlich aufzierten. Dann ward der älteste Junggeselle in phantastischem Verputz darauf gesetzt als ihr Abgott und mit Musik in das Dorf gezogen; Büchsen und Böller krachten feierlich darein. Nachdem der Festzug im Dorfe angekommen und sattsam bewundert war, wurde der Stamm verkauft und aus dem Erlöse Mahl gehalten. Dr. J. Zangerl bemerkt dazu, diese Festlichkeit sey im Jahre 1834 das letztemal gehalten worden und könne daher noch nicht als veraltet gelten, werde übrigens nur dann geübt, wenn während einer Fastnacht kein lediger Mann [136] im Dorfe geheirathet. Ohne Zweifel ist sie aus einer alten heidnischen Frühlingsfeier hervorgegangen. Dr. Zangerl hat von solchen Sitten und Gebräuchen noch Mehreres gesammelt, worüber wir jedoch auf seinen Aufsatz verweisen. Oeffentliche Belustigungen in Wirthshäusern, sagt er ebenda, mit Gesang, Musik und Tanz kommen nur zuweilen bei Hochzeiten vor und manchmal an Kirchweihen oder sonstigen außergewöhnlichen Festen. Der fromme Klerus, die Armuth und Frugalität des Volkes ließen sie nie emporkommen; daher auch die Paznauner in jenen Künsten ihren übrigen Landsleuten weit nachstehen.

Geistergeschichten werden auch behandelt, aber mit wenig Ausführlichkeit. Ehemals soll bei der Pardatscher Capelle jede Nacht ein gesatteltes Pferd gestanden seyn, auf welchem die Junggesellen durch Wind und Wetter zu ihren Liebhaberinnen, den Senninnen auf den Almen reiten konnten. Ob der Gaul viel benützt worden, sagt die Chronik nicht. Bei dem Ritt ging wohl die Seele verloren, – doch schweigt die Sammlung auch hierüber.

Bei Galtür zieht sich das Jamerthal, bei Ischgl das Fimbathal rechter Hand, weit hinein in die Berge, um oben an den Gletschern zu enden. Beide, zumal letzteres, sind mit üppigen Wiesen gesegnet, mit vielen Almhütten geschmückt. Dort in der abgeschlossenen weiten Alpenwelt muß wohl manche Sage leben, mancher Alpgeist spuken. Eine Geschichte wenigstens erzählt auch die Sammlung. In Fimba ließ sich einst bei der Hirtenhütte zu Nachts Jemand mit lautem Anklopfen vernehmen, aber als man Herein gerufen, war Niemand zu sehen. Da sagte der Großhirt zu seinem jüngern Gehülfen: der Alpbutz hat sich angemeldet und will jetzt sein Quartier beziehen. Frühmorgen fahren wir nach Hause, es kommt der Schnee. Am Morgen fuhren sie nach Hause, am Abend waren alle Höhen beschneit. – Also auch hier derselbe pochende klopfende Hausgeist mit demselben Namen, unter dem er bis an die Eider hinab bekannt ist. *)[1]

[137] Hiemit sollen unsre Mittheilungen aus der Ischgler Handschrift geschlossen seyn. Die jetzige Kirche von Ischgl ist mit Ausnahme des alten Thurms in neuerm Style erbaut und davon nichts Sonderliches zu erwähnen. Dagegen gibt das Beinhaus wenigstens Anlaß zu der Bemerkung, daß hier die Schädel der Hingegangenen einer besondern Pflege und Acht gewürdigt werden. Den meisten ist nämlich ein schwarzes Schildchen auf die Stirnplatte gemalt und darin steht mit goldnen Buchstaben der Name des ehemaligen Besitzers und das Jahr seines Auszugs. Eine junge Dame aus der Hauptstadt, die mit mir den Gang um den Kirchhof machte, äußerte sich sehr rühmend über diesen Gebrauch, und auch von uns sey es ferne ihn zu tadeln.

Die Gegend von Ischgl abwärts hat noch auf eine gute Strecke jene einfache Gestalt, die wir an dem obern Theil des Thales hervorgehoben. Mehr und mehr zeigen sich Hanffelder und Pflanzungen von Mohn, dessen Samenkörner zum Backwerk verwendet werden. Viel schönes Vieh weidet auf den Matten und gibt sein Klingklang freigebig ab zur Ermunterung des Wanderers. Bei Kappl aber wird die Landschaft bunt, belebt, reich. Dörfer, Weiler, einzelne Höfe, Kirchen und Capellen stehen da zu Hauf. Die Halden dachen sich wechselnder ab, springen vor, treten zurück, zeigen mehr Gewürfel. Kornfelder wogen weit und breit auf den Höhen, Kirschbäume biegen sich über die Häuser und selbst der Pfad geht jetzt zwischen Hecken, oft auch unter schattigen Lauben durch und das Wachsthum vermißt sich sogar recht wuchernd zu werden. Alles zeugt von wärmerer Lage und milderen Jahreszeiten.

Ehe ich nach Kappl kam, traf es sich übrigens, daß ich einer schönen Heiligen noch einen Dienst erweisen sollte. Es stand da nämlich an grünem Abhange ein großes Kreuz, aber nicht von jenen, die ihre Arme frei in die Luft strecken, sondern eines von der andern Gattung, von den eingefaßten, wo ein offener Kasten das Bild des Heilands vor den Unbilden der Witterung schützt. Unten waren Kränze von Glockenblumen, Rosen und Vergißmeinnicht eingelegt, oben lief ein [138] Brettchen quer über dem Haupte des Gekreuzigten hin. Auf dem Brettchen standen mehrere fromme Täfelchen, vor dem Feldkreuze aber stand eine fromme Bauersfrau und neben ihr zwei Jungen. Als ich herangekommen, deutete die Bäuerin wehmüthig hinauf zu jener Leiste und machte mich aufmerksam, daß eines von den Bildchen umgefallen sey und auf dem Gesichte liege; ich möchte doch um Gotteswillen das Gemälde wieder aufstellen; die Knaben hättens schon versucht, aber sie seyen nicht groß genug und reichten nicht hinauf. Freundlich angesprochen von ihrem Zutrauen legt’ ich Stock und Wanderbündel ab und stieg in das Gehäuse empor, streckte meine Hand nach dem umgefallenen Bildniß aus und richtete es wieder geziemend auf. Und siehe da, als ich näher zusah, war es Filumena, die neue Heilige, deren Ruf vor nicht langen Jahren aufkam und die sich in kurzer Zeit so allgemein beliebt gemacht hat. Keine Capelle, kaum eine Stube, kaum ein Feldkreuz, die nicht mit Filumenen’s Bildniß geschmückt wären, ja selbst die Mädchen wenden häufig schon nach ihr getauft. Ich habe nicht versäumt mich zu gelegener Stunde genauer um diese Heilige zu erkundigen und man hat mir zur Aufklärung zwei Druckschriften mitgetheilt, von denen die eine, kleinere Anton Passy, Priester der Versammlung des heiligsten Erlösers, 1334 zu Wien herausgegeben hat, wogegen die größere, aus dem Französischen übersetzte 1836 zu Innsbruck erschienen ist. Beide beruhen auf einem Werke, das einen Priester zu Mugnano im Königreich Neapel, Don Francesco de Lucia, zum Verfasser hat und bereits verschiedene Auflagen erlebte. Wir entnehmen aus diesen Quellen, daß Don Francesco im Jahre 1805 eine Reise nach Rom machte und dort in die Schatzkammer der heiligen Reliquien Eintritt erhielt, weil er den Wunsch ausgesprochen hatte, einen heiligen Leib zu erwerben. Er wählte sich die Gebeine einer Heiligen, die ein Jahr zuvor in den Katakomben ausgegraben worden. Man hatte dabei einen Leichenstein aus den Zeiten des Kaisers Diocletian gefunden mit den Worten: Lumena Pax Te Cum Fi. aus welchen der gelehrte Partenius entnahm, daß der Name der Seligen Filumena seyn müsse, indem [139] nämlich diese Inschrift nach der damals gebräuchlichen Art βουστροφηδόν geschrieben sey. Ferner waren auf dem Steine ein Anker, mehrere Pfeile, eine Geißel und Lilien eingehauen. Don Francesco erhielt nach manchen Schwierigkeiten die sehnlichst gewünschten Gebeine und begab sich damit nach Neapel. Dort wurde das Gerippe mit einer aus gepreßtem Papier gebildeten weiblichen Gestalt überkleidet und letztere wieder in ein weißes jungfräuliches Gewand gelegt und ein purpurner Mantel unterbreitet. Jener sinnenfreundliche Gebrauch Italiens, die modernden Reste Dahingegangener in die blühende Form leiblicher Jugend zu hüllen, scheint uns der ernsten deutschen Art, welche die nackten Knochen zur Verehrung ausstellt, bei weitem vorzuziehen und erhielt auch unverzüglich Filumenens volle Billigung. Sie bediente sich nämlich gleich von Anfang an des Lärvchens, das sie ihr zu Neapel umgelegt, als ihres eigenen Gesichts, indem sie mit lieblichem Fürwitz die Augen aufschlug, bald das eine, bald das andere, bald alle beide, bald erröthete, bald lächelte oder die Stirne in düstre Falten zog. Sofort wurde die Heilige mit großer Feierlichkeit nach Mugnano gebracht und am 10 August 1805 daselbst unter Glas und Rahmen aufgestellt. Alsbald ereigneten sich auch viele Wunder und der Ruhm der „neuen Heiligen“ – unter dieser Bezeichnung gilt sie auch jetzt noch – verbreitete sich über weite Nachbarschaft. Noch geraume Zeit wußte man indessen zum allgemeinen Bedauerniß nichts von ihr, als ihren durch den gelehrten Partenius festgestellten Namen, bis sie endlich selbst der frommen Wißbegierde entgegenkam. Sie eröffnete während des Jahres 1832 in erwünschter Ausführlichkeit einer frommen Nonne zu Neapel das Wissenswürdigste aus ihrem irdischen Leben. Nach dieser Offenbarung ist ihr Name Fi-lumina, was auf lateinisch Tochter des Lichts bedeute – weßwegen es ganz irrig wäre mit griechischer Sinneinlegung Philumena zu schreiben – und sie war die Tochter eines Königs in Griechenland, der sich einst, weil ihn der römische Kaiser Diocletian mit Krieg bedrohte, nach Rom begeben hat, um den übermächtigen Gegner zu versöhnen. Diocletian versprach Frieden zu halten, wenn ihm der König [140] seine schöne Tochter zur Ehe gäbe. Der Vater war solcher Worte über alle Maßen froh und freute sich der Ehre, die seinem Hause widerfahren sollte, allein Filumena widerstand und sagte, es thue ihr zwar leid, aber sie habe bereits im eilften Jahre ihres Lebens das Gelübde der Jungfrauschaft abgelegt und ihr Bräutigam sey Jesus Christus. Darauf wurde sie gemartert, wobei der Anker, die Pfeile und die Geißel, wie sie auf dem Leichensteine abgebildet, zur Verwendung kamen und zuletzt am 10 August irgend eines Jahres, das sie nicht angab, enthauptet, gerade an dem Tage, wo man sie später nach Mugnano übertragen hat. – Der Wunder, die das Innsbrucker Buch erzählt, sind unzählige und manche von der wunderlichsten Art. Hin und wieder gewinnt es den Anschein, als wolle der Herausgeber dem hohlen Aufkläricht unsrer Tage durch garstige Zweifel selbst eine Libation bringen, aber schnell sind diese Einwürfe wieder angegriffen und ihre ganze Blöße dargelegt, zumal mit dem schlagenden Grunde, daß die Wunder Gott ja keine Anstrengung kosten. Eines nur unter hunderten wollen wir herausheben, weil es so gut hierher paßt, nämlich zu unsrer Begebenheit mit dem Feldkreuz. Ein Knabe, scheinbar zu Ancona, denn genau ist’s nicht zu entnehmen, sollte ein Bild der Heiligen, das er eben gekauft, einem Ordensgeistlichen übergeben, ließ es aber in seiner Unachtsamkeit auf den Boden fallen. Der Mönch gab ihm einen Verweis, der Knabe dagegen sah auf das Bild, das er fallen lassen, und rief: O Wunder! seht, wie die Heilige aufrecht steht. Und in der That – der Mönch sah das Bild im Gleichgewicht auf dem Boden stehen, und nachdem er es lange Zeit betrachtet, nahm er es in die Hand und ließ es, um sich besser von dem Mirakel zu überzeugen, vorsätzlich wieder mehrmal fallen, wobei sich denn zeigte, daß es nicht eine Wirkung des Zufalls, sondern ein wunderbares Spiel der göttlichen Allmacht war. Dieses nun mit dem Phänomen im Feldkreuze zusammen gehalten, ergibt sich die Moral, daß die heilige Filumena, wenn sie zu Ancona auf den Boden fällt, von selbst aufsteht, bei Kappl im Paznaun aber gerne liegen bleibt, bis sie etwa ein vorüberschlendernder [141] Pilger wieder aufrichtet. Wie dem auch sey, die Hülfe wurde ihr mit frohem Herzen geleistet, und in Anbetracht der Freudigkeit meines Diensteifers wird mir’s die Heilige auch nicht zu hoch aufnehmen, wenn ich in meinem Glauben, der talentvolle Don Francesco habe ihr mehr Gutes nachgesagt als ihr selbst lieb sey, etwa Unrecht hätte.

Nun sind wir bald am Ende oder besser am Anfang des Paznauns. Die bunten Halden von Kappl verlieren sich wieder, die Schönheit schrumpft mählich ein, die Schrofen zeigen sich immer kecker, rücken immer näher heran und zuletzt, etwa eine halbe Stunde vor dem Schloß auf Wiesberg, geht das Thal in eine enge wilde Schlucht zusammen, wo tief unten die Trisanna braust und ober dem Haupte die Felsen sich spukhaft herauslehnen. Das Sträßchen ist aus dem rothen Gestein geräumt, das darüber wie eine Wand in die Höhe läuft. Ersteres ist ziemlich verschrien und nach langen Regengüssen auch nicht ohne Gefahr zu begehen, indem sich zu solchen Zeiten bald hoch, bald nieder, Trümmer ablösen und den Steig unsicher machen. Die zwei Regentage, welche ich in Bludenz versessen, waren auch hier nicht spurlos vorüber gegangen und an manchen Stellen lagen große und kleine Felsblöcke auf dem Weg, die erst ganz vor kurzem herabgefallen. Auch hatt’ ich ein paarmale selbst die Freude, ein bißchen vor mir solche Stückchen herunter kommen zu sehen, die sich neckisch über das Sträßchen trollten und mit tändelnder Leichtigkeit in den Schlund stürzten – ein niedlicher Anblick, so lange man nicht in den Wurf kommt. Im Winter ist’s indessen noch ärger, denn da der Weg an manchen Strecken nur auf Geschiebe ruht, so mag der Bach leicht die Unterlage wegfressen und dann kollert stellenweise der ganze Bau hinunter. So kann’s kommen, daß die Verbindung mit dem Thale oft tage- und wochenlang abgeschnitten ist.

Endlich geht’s hinab zum Wasser und über eine hölzerne Brücke. Die Schrofen weichen zurück und der Weg führt tröstlich in tiefem Thale an dem Schlosse Wiesberg vorbei, dann über die Sanna und endlich hoch hinauf zur Heerstraße, die vom Arlberge herunter kömmt, aber hier noch thurmhoch [142] an der Halde hinläuft, und erst gegen Landeck hin sich zum Fluß herunterläßt.

Das Schloß Wiesberg steht also da als Warte am Eingang von Paznaun, auf steil emporragendem Kegel; der Weg führt im Tannendickicht hinauf. Unten an seinem Fuße stürzen Trisanna und Rosanna zusammen, um mit einander als Sanna dem Inn zuzulaufen. Im grauen Schlosse oben sollen nach Etlicher Behauptung verschiedene ritterliche Alterthümer gezeigt werden; ein Bauer von Fließ aber, der mit mir ging, sagte, es sey jetzt Alles verschleppt. Ich glaubt’ es ihm um so lieber, als es Abend war und gerade noch so weit nach Landeck, um mit einfallender Nacht dort anzukommen.

Wenn man oben auf der Arlberger Straße steht, sieht man das halbverfallene Gemäuer der alten Burg gerade gegenüber auf gleicher Höhe. Tief darunter aber in der schattigen Schlucht kommt das gefährliche Sträßchen, anscheinend ganz harmlos und unschuldig aus dem Felsen herausgeschlichen. Ein Jahr zuvor, als ich vom Arlberg herabfuhr, blickte ich sehr neugierig hinunter und dachte: wie muß es dort aussehen, wo der dunkle Weg da hinführt, dort hinter den Schrofen, dort drinnen am Bach, im hirtlichen Paznaun? Jetzt war die Neugier befriedigt und meine Wünsche gingen zur Zeit nicht weiter, als auf Ruhe und Labsal zu Landeck.

Von nun an führt die prächtige Landstraße bequem hinab nach diesem Dorfe. Es ist immer noch das Stanserthal, das vom Arlberg herunterläuft, aber schon mit der herrlichen Aussicht ins Innthal. Da ist alles riesig und groß in der Höhe und dabei doch alles lachend und freundlich in der Niederung. Da ziehen oben die langen himmelhohen Wände hin und unten liegen schöne Dörfer in grünen Auen, in gelben Feldern, überall Häuser und Höfe. Gleich wenn man vom Paznauner Weg heraufsteigt, stellt sich hoch oben auf einem laubreichen Bergrücken der spitze Thurm von Tobadill dar, links über dem Wege liegt die große Kirche von Grins, einem alten Orte mit gothischen Bauernhäusern; dann kömmt man ins malerische Dorf Pians, das mit zwei- und dreistöckigen schmalen Häusern, die alle an der Straße [143] stehen, fast an Italien mahnt. Mitten durchgerissen ist eine Schlucht, aus der ein Wildbach heraustost. Oberhalb des Dorfes steht das alterthümliche Kirchlein St. Margrethen und so zwischen lauter Schönheiten hindurch erreicht man kurzweilig Landeck.

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Veröffentlicht von josefauer.com

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