Drei Sommer in Tirol und Vorarlberg – Walgau und Montafon

von Ludwig Steub

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Nicht weit von Ludesch gegen Morgen auf dem letzten Absenker des Gebirgs liegt die uralte Kirche von St. Martin, jetzt abgeschafft und verschlossen, einst Pfarrkirche und die älteste der Gegend, welche die ganze Schattenseite des Walserthales zu ihrem Sprengel zählte, während die Sonnenseite nach St. Anna zu Thüringen gehört. Der Wirth sorgte für die Schlüssel und führte uns durch die Weingärten zum Gotteshaus. Es liegt auf einem Rebenhügel, in weiter Runde umzogen von einer verfallenen Mauer, die den ehemaligen Kirchhof umschloß, dessen Gräber jetzt spurlos eingesunken sind. Unten liegen verloren in den Obstbäumen und umlaubt von Weinranken die letzten Häuser von Ludesch am Rande einer schönen Fläche, wo Wiesen und Kornfelder und Baumgruppen abwechseln. Rechts zeigt sich das Dorf das wir verlassen hatten und darüber die Mauern von Blumenegg; links eine waldige Bergnase. In der Ferne fließt die Ill und darüber ragen die Berge des Rhätico auf, die hinunter ziehen bis an den Rhein, auf dessen anderm Ufer die Berge von St. Gallen sich erheben. Wir standen mit dem Wirthe auf dem Bühel vor St. Martins Kirche und schauten in die schöne Landschaft hinein, die jetzt so völlig deutsch ist, daß unter dem Volke selbst die Erinnerung an die frühere Sprache verloren gegangen, obgleich der Bauer seine Felder wie seine Dörfer nicht in deutscher, sondern theils in romanischer, theils in rhätischer Sprache und mit Namen benennt, die zur Hälfte wohl älter sind als Augusta Vindelicorum, und Köln am Rhein [105] und Trier. So that uns auch der Wirth zu wissen, daß die Wiesen von St. Martin abwärts bis zum Ziegelstadel auf Parsenn, die Fläche daneben Quadra, die Aecker westlich vom Ziegelstadel Capetsch, andere Aecker jenseits von Capetsch Cadin, von da gegen Abend die Wiesen Parveusla, Prauentin und Taleus, das Ackerfeld in der Ebene daneben Gravis heiße, u. s. w. Er behauptete, er sey vollkommen an diese Namen gewöhnt und wunderte sich höchlich, daß wir sie auffallend fanden und zuletzt gar in unsere Brieftaschen schrieben.

Eben deßwegen weil hier die Landessprache ehemals ein Romansch war, hieß die Gegend bei den benachbarten Deutschen das Wallgau – ein Name, der ihr auch später blieb, als jene Sprache verklungen, der aber jetzt allmählich außer Uebung kommt. Im bayerischen Gebirge am Walchensee findet sich auch ein Ort des Namens Wallgau, und ist diese Benennung dort aus dem gleichen Grunde entstanden, obgleich die walsche Sprache daselbst schon vor viel längerer Zeit untergegangen als hier. Im vorarlbergischen Wallgau erstarb sie nämlich erst im sechzehnten Jahrhundert, denn Guler von Wineck, der Landammann zu Davos, sagt noch in seiner Rhätia, welche 1616 erschien: „Ich hab noch alte Leuthe im Walgöuw gekannt, die grob Rhätisch reden kunten, Sonsten ist anjetzo allein die Deutsche sprach bei ihnen breuchlich.” Die jetzt gebrochene Burg Ramschwag bei Nenzing hieß ehemals wälschen Ramschwag, zum Unterschied von dem andern Schlosse dieses Namens, welches in der Schweiz liegt. Vordem nannte man auch die Gegend um Feldkirch „das vordere Wallgau”, und im Jahre 1363 heißt es von einer alten jetzt verfallenen Veste bei Gözis im Rheinthale, von Neuenburg nämlich, welches die Herzoge von Oesterreich dazumal als erstes Besitzthum vor dem Arlberg erwarben, nicht anders als: Newenburg, gelegen im Rinthal ze Churwalhen.

Es soll übrigens in diesen wallgauischen Lagen von Blu- menegg abwärts über Feldkirch gegen Hohenems vor Zeiten sehr guter Wein gewachsen seyn. Man hegte vorzüglich Trauben mit kleinen, weitstehenden, rothen Beeren und die Weingärten gehörten zumeist nur edlen Familien oder reichen Bürgern, [106] die nicht auf das Maß sahen, sondern auf die Güte. Alte langhergebrachte Rebordnungen machten solche ehrenhafte Nutzung fast gesetzlich, und so kam es, daß der Wein aus den besten Lagen in Flaschen abgezogen kistenweise nach Augsburg gesandt wurde, wo man ihn dem Burgunder gleich hielt. Allmählich sind ergiebigere, aber weniger edle Trauben an die Stelle gesetzt worden, und daher hat die Menge des Erzeugnisses sehr zugenommen, aber der Ruf ist verloren gegangen, wenigstens der Ruf der Trefflichkeit, denn der der Gesundheit ist ihm geblieben. „Er macht heiter, sagt Weizenegger, und verursacht keine Kopfbeschwerden.” Die Bodenweine, die in der Ebene wachsen, stehen den Bergweinen weit nach.

Endlich knarrten die rostigen Angel an der Thüre von St. Martin und wir traten aus der grünen Landschaft in die uralte Kirche mit altdeutschen Altären und Wandgemälden, fast ergriffen durch den alterthümlichen Eindruck. Alle Wände sind bis oben hinauf voll Malereien, darunter freilich auch manche, wie die des Gewölbes, aus neuerer Zeit und von schlechter Ausführung. Zur linken Seite des Hochaltars ist eine Tafel mit dem Heiland und den zwölf Aposteln, lauter Porträten, zum Theil sehr derben Gesichtern. Daneben steht ein altes Sacramenthäuschen. Auch die Kirchenstühle in ihrer ärmlichen Einfachheit verrathen eine weit zurückliegende Zeit.

Von da zogen wir auf die waldige Felsenecke zu, die in steilen Wänden an der Landstraße endet und zum hangenden Stein genannt wird, einem tafelförmigen Felsblock zu Ehren, der überhängend auf einem Schafte liegt, welcher durch Zerklüftung des Gesteins, das ihn ehemals mit dem Hauptstocke verband, zum freistehenden Pfeiler geworden ist. Wenn man diese Enge durchschritten hat, so öffnet sich das Thal von Bludenz, dessen Thürme über einem Hügelvorhang aufragen. Zur Linken liegt das große Dorf Nüziders und ober diesem sind aus Weinbergen auftauchend die braunen, grünbewachsenen Mauerreste der Burg Sonnenberg zu gewahren. Im Dorfe selbst ist die Kirche in griechischem Styl neuhergestellt worden, wie mir bedünkt, nicht zu ihrem Vortheile. [107] Bludenz, die kleinste der drei vorarlbergischen Städte, hat an der engen Hauptstraße hübsche Häuser, unter denen Bogengänge hinlaufen. Die Kirche steht über dem Städtchen auf einem Hügel mit angenehmer Aussicht in das grüne, fruchtbare und fleißig bebaute Thal der Ill, welches freilich in naher Ferne von hohen waldigen Bergen umschlossen wird. Auf dem Friedhofe sind Arkaden, wie zu Feldkirch mit Grabsteinen ausgelegt. Auf der äußern Wand des Beinhauses ist ein anziehendes Bild aus dem Anfang des sechzehnten Jahrhunderts zu sehen. An die Kirche stößt das Schloß der Freiherren von Sternbach, welches Gayenhofen heißt.

Die Geschichte weiß nicht viel Erhebliches von der Stadt Bludenz zu erzählen. Sie wird im zehnten Jahrhundert zum erstenmale genannt und gehörte später den Montforten von Werdenberg. Graf Albrecht von Werdenberg, der keinen Sohn hatte, verkaufte sie und die Herrschaft mit Vorbehalt lebenslänglichen Besitzes im Jahre 1394 an Herzog Albrecht von Oesterreich. Zwei und zwanzig Jahre später begab sich folgende Geschichte, die man in neuerer Zeit wieder in einer alten Handschrift aufgefunden hat: Herzog Friedrich, der Graf zu Tirol, kam einst in finstrer Nacht, der Haft zu Constanz entflohen, vor die Thore dieses Städtchens, welches ihm erst wenige Jahre vorher zugeschworen hatte. Der Wächter verweigerte den Einlaß, wollte ihn auch dann nicht gestatten, als sich Friedrich genannt hatte, und meinte: es seien schwer seltsame Lauf’ vorhanden; man lat jetzt nit ein jeglichen gleich in. Der Herzog berief sich auf einen Bludenzer Bürger Namens Schedler, der denn auch herbeikam und ihn erkannte. Als der Wächter sah was vorging, fiel er dem Herzog zu Füßen; dieser aber setzte sich mit den getreuen Bürgern von Bludenz zum Mahle, lud auch jenen als Gast und schenkte ihm für seine treue Burghut eine Gabe.

Bludenz ist der letzte Ort vor dem Arlberg wo Wein gebaut wird. Die Straße über diese Höhe bringt viel Leben in das kleine Städtchen, und im Posthause fehlt es zu allen Tagzeiten nicht an fremden fahrenden Leuten.

[108] An einem Sonntage des vorletzten Sommers ging ich allein von Bludenz fort um mir Montavon und Paznaun zu besehen, zwei selten besuchte Thäler. Es hatte den ganzen Vormittag geregnet und die Nebel lagen dick und grau auf den Bergen. Das melancholische Vesperläuten aus der Pfarrkirche hallte mir noch eine Weile nach als ich auf der schmutzigen Straße dahinschritt. Ernste Montavoner gingen Bludenz zu und grüßten leise. Die Luft war kühl und feucht, die Wiesen naß, die Bäume von Regentropfen schwer – im Ganzen ein trauriger Nachmittag. Auch das alte Nonnenkloster von Sanct Peter, das eine halbe Stunde vor der Stadt liegt und seine fensterreiche Vorderseite ansehnlich entgegenhält, stand in tiefem Schweigen da und scheinbar alles Lebens ledig – nicht eine einzige Dominicanerin am Fenster zur Aufheiterung der Ansicht.

Bei St. Peter geht der Seitenweg der Ill entlang und ins Montavon hinein, während die Heerstraße dem Alfenzbache folgt. Ehe aber jener Seitenweg in die Schlucht einführt, welche sich die Ill gerissen hat, stößt man auf etliche Wirthshäuser, die den Weiler Brunnenfeld bilden. Dahinter säuselt ein schöner Hain von Nußbäumen, unter dessen Schatten im Herbste fünf Märkte gehalten werden, wo eine zahllose Menge von Vieh zum Verkaufe kömmt.

Unter dem Nußbaumhain kam ein Wirthssohn von Brunnenfeld zu mir, und mit diesem ging ich also thaleinwärts, vorerst durch die Schlucht, die von fichtendunkeln Felsen eingeschlossen wird, so enge, daß kaum der Weg daneben Raum hat. Die Berge verschieben sich dergestalt, daß von den schönen, weiten und baumreichen Thalgründen die dahinter liegen keine Ahnung aufkommen kann. Die Gegend ist starr und einförmig, nur die brausende Ill verleiht ihr etwas Leben.

Nicht weit von dem Weiler Lorüns geht aus dem Gebirge hoch herab in sanfter gleichmäßiger Senkung eine grüne mit kurzem Gebüsch bewachsene Halde bis an die Ill, die in krummer Strömung um diesen Vorschub herzieht. Oben in den Bergen, wo der lange Abhang ansetzt, steigen kahle Schroffen in die Höhe, die in Vergleich mit ihren bewaldeten Nachbarn [109] zur rechten und zur linken Hand leicht ahnen lassen, daß ihr dem Thale zugekehrtes Vordertheil eines Tages eingebrochen seyn möchte. Unten auf dem jetzt überwachsenen Schutte steht die Pfarrkirche von St. Antoni. Der Wirthssohn sagte, hier sey vor langen Jahren ein Bergsturz herabgekommen und habe die große und volkreiche Stadt Prazalanza überdeckt. Die wunderliche Mähre erhält etwas Aufklärung durch eine andre Sage, welche behauptet, daß die Kirche von St. Antoni in uralten Zeiten von Herrn Otto von Zalanz gestiftet worden. Diese Burg Zalanz ist jetzt nirgends mehr zu finden. Wahrscheinlich liegt sie verborgen und vergessen gerade unter dem Schutte und dieser heißt daher Pra de Zalanza, Prazalanza die Wiese von Zalanz. Daß aus dem Schlosse des frommen Ritters Otto in der Sage eine große Stadt geworden, ist nicht zu verwundern, aber seltsam ist was mein Gewährsmann noch beisetzte, nämlich das Andenken an die untergegangene Stadt sey im Montavonerthale gänzlich verkommen und habe kein Mensch mehr etwas davon gewußt, bis einmal – auch schon vor geraumer Zeit – wandernde Leute aus dem Thale nach Frankreich und in diesem Lande in eine Kirche gerathen seyen, wo der Priester eben zur Buße gepredigt und seinen Zuhörern in Christo als warnendes Exempel den Untergang der großen und reichen, aber in Sünden verfallenen Stadt Prazalanza im Montavon vor Augen gehalten habe. Erst aus Frankreich und aus dieser Predigt sey wieder die Wissenschaft ins Thal gekommen, daß hier eine Stadt verschüttet liege. Weizenegger erwähnt dieser Sage auch, sagt aber die gedachte Predigt sey eines Tages im Wallis gehalten worden und beziehe sich auf den Flecken Plurs bei Chiavenna, der bekanntlich im Jahre 1618 von den Trümmern des Contoberges bedeckt wurde.

Allmählich erreichte ich nun jene Gegend, wo in einer Weitung des Thales zu beiden Seiten der Ill, die hier in mehrere Arme auseinanderläuft, die zwei Hauptdörfer des Montavons, Schruns und Tschagguns liegen, Schruns, zwischen zwei Halden eingeklemmt, ein zum Theil aus Steinen gebauter, reinlich geweißter, aber eng zusammengedrängter, unebener [110] Flecken, Tschagguns ein zerstreutes Dorf, aus dessen Mitte sich eine große Kirche erhebt.

Diese liebliche Thalfläche habe ich zu zwei verschiedenenmalen betreten – das einemal zog ich aber von Tschagguns das Thal entlang, um ins Paznaun zu gehen, das andremal stieg ich von Schruns auf den Christberg, um von dort ins Klosterthal hinab und auf den Arlberg zu gelangen. Dieser Weg führt von dem Flecken gleich in die Höhe auf steilem Fußpfade, der viel Schönes zu bewundern gibt. Es zeigt sich da, daß der Flecken Schruns in einer feinen Berglandschaft liegt, deren Höhen weit hinauf mit Gebüsch und Laubwald, mit Häusern, mit Kornfeldern, Weidenschaften und Obstbäumen mit rieselnden Bächen, Brombeerhecken, Gartenmauern und Feldzäunen geziert sind, während unten an der Niederung, die reich bevölkert und fleißig bebaut ist, wie die Halden, der Fluß des Thales in geräumiger Weite silbern daherzieht. Ueber dem Flecken selbst ragt ein treffliches Horn von schönster Bergform empor. Rückwärts drohen die beschneiten Zacken des Rhätico, vor dem Wanderer steht die einsame Höhe des Christberges, der aus dem schwarzwaldigen Silberthale, so benannt von ehemaligen Bergwerken, jäh aufsteigt und ein Kirchlein trägt, das weiß und klein aus der Ferne winkt. Der ganze Zug des Hochlandes, das links ober Schruns liegt, heißt der Bartholomäusberg. Derselbe erfreut sich zweier Kirchen, von denen die eine oberhalb Schruns, die andere eine gute Stunde weiter drinnen steht, etwa auf dem halben Wege nach der Höhe des Christberges.

Spät war es ohnedem schon gewesen, als ich von Schruns emporstieg, die Landschaft hatte ich auch etwas zu lange betrachtet, und so wurd’ es eine schwierige Frage, wo das Nachtquartier zu nehmen, denn nach der Post zu Talaas, welches im Klosterthale unten am andern Fuße der Höhe liegt, schien’s zu weit, und auf dem Berge ist kein Wirthshaus. Die Leute, die in den Wiesen mähten, begrüßten mich in meiner Verspätung mit theilnehmenden Bedenklichkeiten und meinten es wäre am besten, im innern Bartholomäusberg beim Curaten zuzusprechen, der ein gastfreundlicher Herr sey und schon manchmal [111] verspätete Fremde über Nacht behalten habe. Dem Rathe folgend, ging ich, als die Kirche des innern Berges erreicht war, auf das hölzerne Haus zu, das daneben stand und trat ein. Ein Frauenzimmer in der Tracht des Thales kam mir entgegen, und fragte was ich begehre. Darauf gab ich zur Antwort: eine Nachtherberge. Sie maß mich von Fuß zu Kopf und umgekehrt, schaute mir wiederholt ins Gesicht und sagte: der Herr ist nicht daheim und hier ist auch kein Wirthshaus. Ich erwiederte darauf: es wäre nicht das erstemal, daß ich von menschenfreundlichen Geistlichen über Nacht behalten worden, wogegen sie den Bescheid gab: das ist hier nicht der Brauch; geht nur wieder eurer Wege.

Damit also ging ich auch wieder meiner Wege und zwar so rüstig als ich konnte und als es der Pfad, der immer mehr in die Höhe stieg, erlaubte. Das Kirchlein auf dem Christberg lag noch weit oben an dem Kamm in einer grünen Matte, auf welche die letzten Strahlen der Abendsonne fielen. Diesen blickte ich von jetzt an mit Besorgniß nach wie sie allmählich von der grünen Halde wegzogen und den rothen Schrofen hinauf glitten, der zur Rechten stand, bis nur mehr die oberste Spitze des Felsens feurig erglänzte, dann auch diese verglomm und zu gleicher Zeit die Abendglocke vom Christberg hernieder tönte. Jetzt kam auch die Dämmerung ungerufen aus dem Thal herauf, und als ich endlich das kleine Kirchlein, das mir so lange als Richtziel vor Augen gestanden, und das hölzerne Häuschen dabei, erreicht hatte, war es hier auf der Höhe schon mehr Zwielicht als Tag, im Thale unten aber völlige Nacht. Der Grat des Berges schien nur mehr wenige Schritte entfernt, aber jenseits mußte es bodenlos tief hinuntergehen in das Thal von Talaas – so viel war noch aus der Landkarte zu entnehmen. In finsterer Nacht da durch den Wald auf jähem Steige mutterseelenallein abwärts zu trippeln, das dünkte mir nun allerwege nicht geheuer, und so meinte ich, es wäre wohl sicherer bei dem Meßner zu bleiben. Ging also auf das Häuschen zu, schob das Fensterchen zurück und rief hinein, worauf aber Niemand antwortete, als ein schreiendes Kind. Als ich nun in die Hütte selber trat und die Thüre der [112] schon ganz finstern Kammer aufthat, kam mir aus dem schwarzen Gemach der übelriechende Qualm einer geheizten Kinderstube warnend entgegen. Die „Goben“ fingen noch heftiger zu schreien an, eine kreischende Altweiberstimme klang abwehrend dazwischen und ein schwarzer Spitz, der eine Katze verfolgte, fuhr mir ahnungsreich durch die Füße. Das war zu viel auf einmal – auf nach Talaas!

In meiner Eile und bei so später Tageszeit konnte ich auch die kleine Kirche zu St. Agatha nicht mehr besehen, die beim Volke als die älteste des Montavons gilt, im Aeußern der von St. Martin bei Ludesch ähnlich ist, und im Innern noch sehr alterthümliches Aussehen bewahrt hat. Auch der heilige Theodul ist darin aufgestellt, weil im Silberthale unten einst Walser seßhaft waren. Bald war ich oben auf dem Grate und dort erlaubte ich mir noch einmal umzublicken auf das nachtende Thal und stand staunend da, als ich mir gegenüber die blendend weißen Hörner des Rhätico erblickte, die auf der goldnen Glorie des letzten Abendlichtes in wunderbarer Herrlichkeit emporstiegen, hoch erhaben über alle Berge die man sah. Vor mir aber, und dieß war das Schauerliche, gähnte gerade hinunter ein höllenschwarzer Schlund und drüben ganz nahe drohten breitschultrige finstre Bergwände, viel höher als der Christberg. Aus der Schlucht blinzelte kein Licht herauf, kein weißer Punkt bedeutete ein Häuschen, die Waldvögel hatten ausgesungen und die Abendglocken waren auch schon lange verklungen – es war Alles stille und schwarz wie eine ungeheure Gruft, in der die Lampe ausgelöscht. Ich kam mir sehr einsam vor in meiner Höhe und dachte ziemlich übel von der spröden Montavonerin, die mich mit so schnöden Worten in die größte Gefahr gejagt, gegen Talaas hinunterstürzend, das Genick zu brechen.

In solchen Gedanken setzte ich an und verfolgte sorgsam den jähen Steig, der in unaufhörlichem Zigzag, holperig, schmal und abschüssig zu Thal führte. Je tiefer hinunter, desto finsterer, und als ich schon übersatt der Mühsal, bald „am Land“ zu seyn vermeinte, kam ich auf ein frei vortretendes Wiesplätzchen, und genoß da das wenig tröstende Vergnügen, [113] ins Thal hinab zu sehen, wo die Lichter blitzten und einige weiße Häuser flimmerten, aber noch so tief unten, als hätte ich noch gar nichts gethan und gelitten. Um diese Weile war’s auch gänzliche Nacht geworden und der Pfad kaum mehr zu sehen – und nicht allein daß schier alles Licht vergangen, sondern nun zeigten sich auch Stellen, wo die Wege wirr durcheinander liefen und zusammenkamen und sich zerstreuten, so daß ich auch ein paarmal die Fährte verlor, und es erst gewahrte, als ich an schroffen Klippen stand, wo alle Spur verschwand. Dann galt es den Weg wieder mühsam zurück zu suchen und wieder einen andern zu finden, wobei ich zu wiederholtenmalen an die Montavonerin dachte und zwar immer boshafter. Nun war’s aber bald gewonnen; ich kam aus dem Wald ins enge Thal und hörte wieder Hundebellen und sah nicht mehr ferne erleuchtete Fenster. Der Weg, noch immer steil abwärts führend, wurde etwas leidlicher; aus dem Dunkel stieg ein Bauernhaus, vor dem die Mädchen singend auf der Sommerbank saßen, dann noch ein paar Häuser, und endlich trat ich ganz durchschüttert, mit gebrochenen Knieen, schweißtriefend auf die Landstraße. Das war in der That eine Behaglichkeit des angenehmsten Eindruckes, diese halbe Viertelstunde noch auf ebenem Boden zu gehen, der mir jetzt weicher und bequemer vorkam als indische Teppiche.

In Talaas ist ein Posthaus, das dem wandernden Dulder leckere Forellen und trefflichen Wein bot. Dem Postmeister erzählte ich meine Fahrt vom Christberge herunter, lebhaft wie sie mir noch in allen Gliedern lag, und meinem guten Glauben an die Waglichkeit derselben that es keinen Eintrag, als er mir entgegenhielt, daß der Steig so ärgerlich nicht sey, sintemalen auf demselben auch Vieh getrieben werde, denn ein eingebornes Rindchen kann da am hellen Tage leicht seinen Weg finden, wo ein fremder Mensch in finsterer Nacht den Hals bricht. Doch war er so gefällig zu gestehen, er sey auf diesem Gange bei Nachtzeit auch schon ein paarmal in den Tobel gerathen und nur mit Angst und Noth wieder herausgekommen. Dabei verbot er mir übrigens von dem Priesterhause im innern Berge übel zu denken. Der Curat sey ein besonders lieber Herr, [114] und wenn er daheim gewesen, wäre gewiß Alles anders gegangen. Davon bin ich jetzt auch überzeugt, und später hat sich’s aufgeklärt, daß ich selbst von dem Frauenzimmer sicherlich andern Bescheid erhalten, wenn sie nicht Ein Umstand in Unruhe gesetzt und ihr Gemüth gewaltsam aufgeregt hätte. Damals nämlich hatte ich den Bart vier Wochen lang nicht mehr geschoren und so ein Aeußeres gewonnen, wie es im Montavon nicht gerne gesehen wird. Das Unheimliche und Verdächtige des Bartes allein hatte die Abweisung veranlaßt, was andern zur Lehre dienen mag, diesen unsocialen Zierrath im Gebirge möglichst kurz zu halten.

Von Talaas kommt man im Klosterthale fortgehend nach zwei Stunden ins Klösterle, ein Dörfchen, das diesen Namen angeblich einem geistlichen Hause zu verdanken hat, welches die Johanniter vor alten Zeiten hier gegründet, zunächst zum Besten der Knappen, die da Bergbau trieben, der jetzt ganz aufgegeben ist. Im vorigen Jahrhunderte war dieses Dörfchen manche Jahre lang das Ziel siecher Wallfahrer, die bei dem Pfarrer Johann Joseph Gassner Heil suchten. Dieser war zu Pratz zwischen Talaas und Bludenz geboren und in den Jahren 1758 bis 1774 Pfarrer im Klösterle, wo er die Wundercuren anstellte, die zu damaliger Zeit seinen Namen durch ganz Deutschland trugen. Es ist noch ein achtzigjähriger Greis im Dorfe, der ihm als Knabe ministrirte und sich erinnern will, wie in jenen Tagen oft stundenweit thalein und thalaus ein Wagen am andern stand, alle voll Fremden, die mit dem Mann der Wunder sprechen, sich von ihm heilen lassen, ihn predigen oder seine Messe hören wollten. Die Altäre in der Kirche wurden gestiftet durch die Opfer der Genesenen, der geistliche Arzt selbst nahm nie ein Entgelt. Er war sehr beliebt in seiner Pfarre, und als er endlich vom Regensburger Bischof gerufen, davon zog, boten sie, wiewohl vergeblich, Alles auf um ihn bei sich zu behalten. Er starb 1779 als Decan zu Bondorf in Niederbayern.

Zwei Stunden hinter Talaas liegt Stuben in einer wilden Schlucht am Fuße des Arlberges, der Landmarke zwischen Vorarlberg und Tirol. Die Berge sind unbewaldet, hoch, öde [115] – die Landschaft still und todt. Der Arlberg steigt gählings auf, zu kalter winterlicher Höhe, auf der St. Christoph, das ehemalige Pilgerspital steht, das in frommen Zeiten Heinrich Findelkind gründete, und zwar im Jahre 1386, nachdem am Anfang desselben Jahrhunderts der Weg durch die Grafen von Werdenberg fahrbar gemacht worden war. Die anziehende Urkunde über die Stiftung jenes Spitals ist schon öfter abgedruckt und auch die Statuten und die Geschichte der Bruderschaft sind schon mehreremale, zuletzt in Hormayr’s Chronik von Hohen Schwangau besprochen worden, weßwegen wir hier nicht darauf zurückkommen wollen. Die gegenwärtige Straße besteht seit dem Jahr 1823, breit, sanft ansteigend, kunstvoll gebahnt. Es kostet aber ungemein viel Aufwand sie im Winter schneefrei zu halten, und die anliegenden Dörfchen, sonst arm und dürftig, ziehen daraus zur schlechten Jahreszeit ein gutes Einkommen. Mehr Reiz als der Aufgang von der vorarlbergischen Seite bietet der Absteig nach Tirol durch das wildschöne Stanserthal, der Rosanna entlang, welche bei Landeck in den Inn fällt.

Kehren wir indessen von der traurigen Höhe des Arlberges wieder zurück in die freundliche, lebendige Gegend von Schruns und Tschagguns im Montavon, aus der ich eines Abends fortzog, ein Jahr nach jener Fahrt über den Christberg, die mir deutlich in die Erinnerung trat, als ich jetzt vom Thale aus den äußern Bartholomäusberg mit seiner Kirche auf kornreicher Halde und dann weiter drinnen das bescheidene Gotteshaus des innern Berges und zu fernest hinten und ganz oben die uralte Capelle wieder gewahrte, von deren Höhe aus ich voriges Jahr mit andächtigem Schauer in die Gletscher des Rhätico und hinab in die schwarze Schlucht von Talaas geblickt. Jetzt aber ging ich auf ebenem Weg, über Wiesen und durch lichte Wäldchen, an Aeckern und an Höfen vorbei, die von Kirschbäumen beschattet und von mächtigen Hanffeldern umgeben waren, bis ich lange nach dem Abendglockengeläute St. Gallenkirchen erreichte, an dessen Zugang der Suggedinbach, der aus dem Gargellenthale herab mit fürchterlicher Eile in die Ill fällt, unter den schwanken Brücken durch, übertäubend tost und wüthet, damals besonders, [116] als in dunkler Nacht, seines milchweißen Stromes wegen ein seltsamer Anblick.

Ins Mantavon gerathen wenig Reisende, nur hie und da ein Landmann, der von Landeck nach Bludenz oder umgekehrt den Weg durch Paznaun und über den Zeinis gewählt hat, eine Linie, die wunderlicherweise ziemlich allgemein für kürzer gilt als jene über den Arlberg, obgleich diese Behauptung ein Blick auf die Landkarte siegreich niederschlägt. So fand sich auch im Wirthshause zu St. Gallenkirchen kein andrer Gast außer mir, und selbst die Sonntagstrinker, die den Nachmittag da gewesen seyn mußten, waren alle schon wieder zu Hause. Am Tische saß die Mutter mit dem schwarzen Modius auf dem Haupte und las im Evangelium, die Tochter spann; – Sohn und Knecht lagen im Halbdunkel auf der Ofenbank. Der Vater war noch nicht daheim, kam aber bald darauf von einer Hochzeit zurück, fröhlichen Muthes und eines leichten Räuschchens habhaft. Er hatte sein Vergnügen an dem fremden Gaste und kam gleich mit aufgeweckten Reden zu mir heran, zur großen Beklommenheit seines Hauswesens, das diese Zutraulichkeit als respectwidrig erachtete und den aufgeräumten Hausherrn jetzt wie später durch ein allseitiges Pst, Pst in die rechte Bahn zu lenken bestrebt war. Mein Wirth aber zeigte sich als eine tüchtige Persönlichkeit, die nicht außer Fassung zu bringen war, um so weniger, da ich schnurstracks zu erkennen gab, daß ich nicht so verletzbar sey, als die andern meinten. Uebrigens war er ein hochgewachsener Mann in seinen besten Jahren und hatte ein kluges Gesicht mit einer römischen Nase. Auch sprach er gut und richtig über alles was er behandelte, und dieß war gerade nicht wenig, denn wir hatten bis gegen Mitternacht Zeit genug eine Menge wichtiger Fragen zu erörtern. Wir bewegten uns zunächst in unsrer Zeit und besprachen unbefangen und mit Liebe den Zollverein, die türkischen Zustände, die spanischen Wirren, die drohende Macht der Moskowiter und die Zukunft Deutschlands. In letzterer Beziehung war auch unsre Meinung, es sey das Beste zusammenzuhalten gegen Franzosen und Russen, und ich glaube sogar, wir haben zuletzt der deutschen [117] Einigkeit eine Gesundheit getrunken. Wie dem auch sey, wir schliefen gut und erwachten des andern Tages in angenehmer Laune, nur der Wirth mit einem leichten Kopfweh, worüber er lächelnd bemerkte: das kommt von dem zu vielen Politisiren.

In der Frühe, als ich freundlich beschienen von der Morgensonne auf dem Montavoner Sträßchen dahinwandelte, fand ich eine Jungfrau, desselben Weges, die mir nach der Landessitte ein Gelobt sey Jesus Christus zum Gruße bot, worauf ich ihr: in Ewigkeit Amen zurückgab. Uebrigens schenkte mir das Mädchen auch sonst einige Ansprache und wir kamen von jenem frommen Beginn bald in weltliches Geplauder. Sie erzählte, daß sie in ungeheurer Ferne einen Bruder habe, wollte mir aber zuerst den Namen seines Aufenthaltortes nicht mittheilen, weil ich doch nicht wissen werde wo der sey; endlich aber nannte sie Astrachan in Rußland. Dort lebe und wirke er als Zuckerbäckermeister, schreibe alle Jahre einmal nach Hause und schicke auch zuweilen etwas Geld, da es ihm daselbst sehr gut ergehe.

An dieß Mädchen läßt sich die Bemerkung knüpfen, daß die Montavonerinnen im Schnitt des Gewandes von den Frauen der beiden Walserthäler wenig abweichen und daß sie gerne rothe Röcke und rothe Strümpfe tragen, wie die Weiber im innern Walserthale und bei den Sylviern, wie ehemals die Frauen in ganz Bünden, wo diese Farbe zuletzt im Unterengadein noch gesehen wurde – eine Farbe, die vielleicht mit der Nationalität selbst zusammenhängt und den romanschen Weibern insgesammt, diesseits wie jenseits des Rhätico, eigen war und welche dann wohl erst von ihnen auf die Frauen der Walliser überging. Auf dem Kopfe trägt das andere Geschlecht im Montavon einen Hut von Filz, der aussieht wie ein Männerhut ohne Krempe oder noch besser, wie die Mütze eines griechischen Pappas. Diese Dinger heißen Mäßlen und können den ganzen Haarwuchs aufnehmen und verbergen, wenn das Weibsen nicht vorzieht die langen Zöpfe hinten hinunter hängen zu lassen, was ziemlich oft zu sehen ist. Diese Mäßlen scheinen zu ihrer Zeit über ganz Vorarlberg, Paznaun und Lechthal verbreitet gewesen zu seyn, denn früher wurden auch, [118] wie wir an seinem Orte bereits erwähnt, die Mädchen von Pfafflar im Gebirge zwischen dem Lech- und Innthal auf Trachtenbildern mit demselben Modius auf dem Haupte dargestellt.

Ferner mahnt uns der Bruder des Mädchens, der jetzt in Astrachan Pasteten bäckt, an die Wanderlust der Montavoner, die im Sommer fast ein Drittel der Thalbewohner in die Fremde führt, worunter aber nicht allein solche sind die die Armuth forttreibt, sondern auch ganz wohlhabende Leute, die es eben daheim nicht verleiden, wenn die andern im Frühling thalauswärts ziehen. Die Männer gehen in mehrerlei Gestalten ins Ausland, nämlich als Sensenhändler, als Krautschneider, als Maurer. Wer da noch ledig ist, dem tragt sein Lieb das Ränzel geleitend bis an die Gränze und er selbst trägt auf dem Hut einen künstlichen Blumenstrauß, den es ihm verehrt und den er heimkehrend wieder aufsteckt. Die Jungen ziehen, wenn sie noch zarten Alters sind, unter dem Schutze eines der Väter, wenn sie älter geworden, allein auf die großen Verdingstätten nach Ravensburg und Leutkirch in Württemberg oder nach andern Orten jener Gegenden, wo von Lichtmeß an von den Bauern weitumher die Hirtenbuben eingedungen werden und zwar je für eine Sommerszeit, so daß sie im Spätherbst mit ihrer Errungenschaft wieder ins Heimaththal zurückpilgern können. Heutzutage sind diese Kinderkarawanen im Abnehmen, weil der Verdienst in den Fabriken näher liegt, aber vor vierzig Jahren wanderten die Oberländer Buben alljährlich in zahlreichen Haufen mit ihren Vätern, z. B. nach Ravensburg, in die freie Reichsstadt, und zwar alsbald nachdem der Schnee geschmolzen. Jeder Knabe war mit einem Kühhorn und einem Bündel behängt, in welchem er grünen Käse und Haberbrod, seine Reisezehrung, trug. Die Reichsstädtler hatten sie lieb als ihre Frühlingsboten, und wenn einmal die Oberländer zum Thore hereinzogen, so wollten die Mädchen schon die Winterjacken nicht mehr anziehen. Dann stellten sich die Knaben vor dem Löwen und der Krone, den zwei Wirthshäusern, welchen das Oberland von uralten Zeiten her sein Zutrauen geschenkt hatte, jede Genossenschaft in einen Kreis, der Dinge gewärtig. Nun schlenderten auch die Unterländer [119] Bauern daher und betrachteten sich den Markt. Hatte einer der Landwirthe einen der Alpenjungen ins Auge gefaßt, so musterte er ihn von Kopf zu Füßen und that etliche Fragen an ihn, um seinen Verstand und seinen Humor zu prüfen. Konnte sich der Knabe durch seine Antworten über beides genügend ausweisen, so fragte der Bauer: was kostet der Bue? Wurde man Handels eins, so ging man nach unverbrüchlichem Herkommen in eines der genannten Wirthshäuser, wo der jetzige Dienstherr den neuen Knecht mit Stockfisch und Sauerkraut tractiren mußte. Es soll überraschend gewesen seyn, wie das Oberland dazumal im Unterland Bescheid wußte. Die Knaben waren alle schon vorher genau unterrichtet, welches ein guter Hof und welches ein schlechter Dienst sey, und einem quälerischen Bauern, der einmal im Oberlande verschrieen war, soll es oft trotz aller Mühe nicht geglückt seyn, sich einen Jungen einzustellen. Auch die Mädchen haben sich für ihre zarten Hände einen geeigneten Erwerb ausersehen, nämlich das Aehrenlesen. Da gehen sie zur Zeit der Ernte nach Schwaben hinaus, bringen den Tag auf den Feldern, die Nacht in den Heustädeln zu, lassen die gesammelten Aehren bei den Müllern mahlen und füllen das Mehl in Säcke, die sie zu diesem Zwecke mit sich bringen. Ist die Erntezeit vorüber, so sammeln sich die Jungfrauen wieder alle zu Leutkirch, miethen mehrere große Leiterwagen und fahren singend zurück ins Montavon, welches daher zu dieser Zeit um manchen Sack weißen Mehls sich reicher befindet, vielleicht aber auch um manche Jungfräulichkeit die dafür draußen geblieben, ärmer.

Etwas mühseliger macht sich den Verdienst eine andere Mädchenschaar, die zum Kornschneiden ausgeht. Auch diese nehmen ihren Lohn in Korn und fahren dann mit den Aehrenleserinnen heim. Eine gute Anzahl bleibt indeß den Winter über weg und sitzt in den stillen Bauernhöfen des Allgaus am Spinnrad. Dieses nehmen sie ebenfalls schon aus dem Montavon mit sich, um gleich überall mit vollem Werkzeug einstehen zu können. So ist denn der Montavoner unter den wanderlustigen Vorarlbergern der wanderlustigste, und von [120] den 9000 Einwohnern des Thales gehen alle Jahre durchschnittlich 2500 in die Fremde.

Und so ging es denn in der kühlen Morgensonne das Montavon entlang von St. Gallenkirchen nach Gurtibohl, von Gurtibohl nach Gaschura, von Gaschura nach Partenna, immer durch Getreidefelder, durch fette Wiesen, durch Haine von Obstbäumen, welche sich süßen Most und Kirschenbranntwein abgewinnen lassen. Das Thal bleibt allenthalben freundlich, fruchtbar, voll Abwechslung in kleinen Bildern. Rauschende Bergwässer hallen durch die stille Gegend, die von vielen Menschen bewohnt scheint. Die hölzernen Häuser stehen in kleinen Zwischenräumen an einander am Wege, auf den Wiesen zerstreut, an den Halden hinauf. Darunter möchte zwar bei näherem Einsehen manche unbewohnte Scheune zu finden seyn – allein auch so tragen sie bei dem ganzen Gelände das Ansehen eines fortlaufenden Dorfes zu geben. Von Zeit zu Zeit taucht ein Kirchthurm über den Kirschbäumen auf; die Berge sind unten mit Laubholz besäumt und steigen nicht sehr weit in Höhe, kaum bis zum Aufhören des Baumwuchses. Schrofen sind auch wenige zu sehen und die Schauer der Bergwelt treten nirgends nahe heran. Mit einem Worte, das Montavon ist ein schönes, mildes Alpenthal, wohl das mildeste und wärmste im Vorarlberg; Hanf, Gerste und Erdäpfel ist der meiste Feldwachs.

Sonstiger Merkwürdigkeiten schien uns der Weg von Tschagguns bis Partenna ganz baar und ledig zu seyn und wir finden auch in andern Büchern nichts darüber aufgezeichnet. In dieser Noth und Armuth ist vielleicht der Leser, gleich dem Pilger, den auf dürrer Haide auch ein Gänseblümchen erquickt, eher geneigt die unerhebliche Nachricht zu genehmigen, daß wir in Gaschura in die Kirche traten und dort unter der Kanzel, gewißermaßen als Träger derselben, den Wallfisch, das silberschuppige weit rachige Meerungeheuer, erblickten, das so eben den Propheten Jonas zu Tage fördert. Der Prophet scheint ein lebensfrohes Gesicht zu machen, was nicht überraschen kann, hält aber in der Hand hoch empor einen rothgesiegelten Brief, und gerade dieser Brief kam mir sehr [121] räthselhaft vor. Ist darin das Tagebuch des hebräischen Touristen, das der Vielgeprüpfte im Bauche des Haien zusammengestellt und das er nun sich freut der Oeffentlichkeit übergeben zu können – ist er also hier in derselben Lage, wie Camoens, als er schwimmend seine Lusiaden rettete? oder was hat die Depesche zu besagen? Immerhin scheint der Brief in der Symbolik der bäuerlichen Kirchenmaler seine tiefere Bedeutung zu haben. Auch in der Capelle unter der Westeck zu Riezlern sieht man auf einer Votivtafel einen Herrn aus dem vorigen Jahrhundert mit einem ehrwürdigen Haarbeutel und sorgenvollen Angesichte, der auf einem Betstuhle kniet und der heiligen Jungfrau Maria, die ober ihm in den Wolken schwebt, ein versiegeltes Schreiben hinaufreicht, und es scheint als strecke sie die Hand aus, um dasselbe gnädig entgegenzunehmen. Derlei Darstellungen findet man auch noch hie und da an andern Orten, aber sie sind alle aus älteren Zeiten, und in unsern Tagen scheint selbst die Tradition verloren zu seyn, was die gestorbenen Leute mit dem Briefe gewollt. Eine Aeußerung hörten wir zwar, die uns als verbürgte Erklärung mitgetheilt wurde, und die darauf hinausging, der Brief bedeute einen Proceß und die Insinuation desselben an die Himmelskönigin geschehe, um sie gewißermassen ad litem zu citiren. Diese Deutung mag, abgesehen von dem Briefe des Propheten Jonas in Gaschura, das Richtige seyn, aber warum werden jetzt keine solchen Briefe mehr gemalt und keine Männer dazu, die sie in den Himmel hinaufreichen? Die Verbesserung der Rechtspflege mag hierin allerdings nicht ohne Einfluß seyn, aber das gänzliche Verschwinden solcher Votivtafeln ist eine übertriebene Schmeichelei für die Gerichte; denn gibt es nicht auch jetzt noch allenthalben Rechtsspender so barsch und grob, daß der arme Bauer viel besser thut der lieben Jungfrau Maria in der Kirche mit einem Hundert Vaterunser beschwerlich zu fallen, als dem Herrn Actuar in der Kanzlei mit zehn Worten! Nur von einer ähnlichen Verlobung aus diesem Jahrhundert hab’ ich noch gehört, nämlich von einem Bauern, der 1817 auf dem Schmuggel von den Gendarmen ertappt wurde, aber durch Anrufung der Mutter Gottes beim Gerichte [122] gnädig davon kam und sich nachher ebenfalls in einer Kirche des Walserthales mit dem verhängnißvollen Packe auf dem Rücken darstellen ließ.

Partenna ist das letzte Dörfchen im Montavon und auch das armseligste. Das Sträßchen, das bis hierher geleitet, versiegt in den Wiesen, das Thal ist hier zu Ende, zu Ende auch die milde Anmuth, die Gerstenfelder und die Obstbäume. Der zackige Zeinis steigt grün und schwarz empor und blickt sehr ernst herab – rechts steht Trumenier, links Tafamont, beides ansehnliche Höhen. Alle drei zusammen bilden die Sackgasse, in welche die Thalsohle ausläuft – Trumenier, tru de miniera, zu Deutsch der Weg des Bergwerks, erinnert aber auch noch an den ehemaligen, nun versiegten Bergsegen im Montavon, das vordem außer den Silbergruben im Silberthale auch noch acht Schmelzöfen zur Verarbeitung des hier gegrabenen Eisenerzes zählte. Die Ill, die von Partenna bis Bludenz fast in gerader Linie läuft, kommt etwas hinter dem Dorfe aus einem schrägen Seitenthale heraus, ein schreiender Bach, der jetzt erst anfängt seine Zuflüsse zu sammeln und sich zu stärken. Die Luft ist kälter, reiner, alpenmäßiger – sie mahnt an die Gletscher, die nun auf keinen Fall mehr ferne seyn können, wenn auch auf den Häuptern des Zeinis nur etliche schmale Schneestreifen liegen.

Als ich nun so enthalb Partenna auf dem Wiesenpfade stand und den Zeinis betrachtete, an dem ich jetzt hinaufklettern sollte, daher auch ganz scharf an seinen Halden hinlugte, um mir den Weg von unten auf vorzuzeichnen – er schien dabei allerwege ein beträchtliches Joch und die Freude an seinem Rücken hinanzuklimmen war nicht halb so groß, als die Sehnsucht nach dem Alpenwirthshaus, das auf seinem Haupte zu finden seyn sollte – als ich so meinen Betrachtungen nachhing, nahte sich ein Bäuerlein, fragte freundlich, woher ich sey, und als wir mit Red’ und Antwort immer tiefer ins Gespräch gerathen, meinte er, für solch einen Herrn, wie ich einer – ich hatte nämlich seine Frage, ob ich die Berge zeichne, mit Ja beantwortet – für einen solchen Menschen wär’ es ganz unerläßlich, in Vermunt hineinzugehen und nicht über Zeinis. Vermunt [123] heißt aber das gabelförmige Hochthal, aus dessen einer Zinke, wie bemerkt, die Ill herausströmt, während die andere, die das Felsenbett der jungen Trisanna bildet, gegen Paznaun sich öffnet. Aeltere Landkarten und Geographen versetzen in dieses Höhenrevier, wie uns die zu St. Gallen und Bern 1838 erschienene Schilderung des Kantons Graubünden belehrt (S. 140) die „nie bestiegene oder gemessene“ Pyramide des Vermunt, dessen krystallinisches Gestein und eisenartiges Aussehen dem Centralstock den Namen Fermont (mons ferreus) sollen erworben haben. „Sonderbar, sagt die Schilderung, daß uns überall der Name Fermunt und Vermond in jener Gebirgsregion entgegentritt, ohne sich an ein Gebirgsindividuum anzuschließen, das von jeher unter dem Eigennamen Fermunt daselbst gesucht wurde.“ Dieser abgelegene Winkel scheint also von den Geographen in Gedanken schon oft begangen worden zu seyn, hatte daher auch für den damaligen Pilger etwas geheimnißvoll Lockendes, und dahinein, meinte das Bäuerlein, sey es zwar fast noch einmal so weit als über Zeinis, aber viel besser zu gehen, und wenn man erst hinten sey, so gebe es Schneefelder, Gletscher, Eisberge in Menge und nach Wahl.

Dadurch ward ich gewonnen. Ich nahm den beredten Schilderer als Führer an und um zwei Zwanziger versprach er mitzugehen bis Galthür im Paznaun.

Ehe wir wanderten, mußte aber des Bauern Söhnlein in das Dorf springen und in einem Sack Käse und Haberbrod holen, das als Mittagessen für den Vater und als Stärkung auf der Reise dienen sollte. Diese Frist warteten wir auf den Blöcken der Sägmühle ab, die die Partenner Fichten zu Brettern schneidet.

Wir wollen indeß die Rast auch dazu benützen, um über das jetzt durchwanderte Thal noch einige Worte hier niederzulegen.

Was vorerst den Namen desselben betrifft, so hat sich dieser schon verschiedenen Deutungen ausgesetzt gesehen. In älterer Zeit dachte man an Fon Fonius, einen angeblich keltischen Kriegsgott, dessen Name auf Denksteinen bei Aquileja gefunden worden, oder an Monte und Fontana. Bergmann [124] erinnert an das bündnerische Davos (de a post), das „hintere Land“ und hält Montavon für Mont d’avos, der hintere Berg. Damit scheint allerdings der richtige Weg angedeutet, aber nicht das rechte Ziel gefunden, denn wenn jenes die Entstehung des Namens wäre, so würde er wohl Montavos lauten, während für ein Montavon doch Mont d’ avont (de ab ante), der vordere Berg, weit näher liegt. Es mag dieß der ehemalige Name eines der am Eingange des Thales gelegenen Gebirge, vielleicht gerade des „vordern Bartholomäusberges“ seyn, der dann auf das ganze Thal übertragen wurde.

Immerhin scheint jene Ableitung so begründet, daß wir statt des gewöhnlichen Montafon, Muntafun mit Bergmann Montavon geschrieben haben, obgleich die gesammte deutsche Schreibung rhätoromanischer Localnamen so im Argen liegt, daß es sich kaum lohnt im Einzelnen Verbesserungen vorzunehmen.

Die Montavoner verdienen auch deßwegen einige Aufmerksamkeit, weil sie in Vorarlberg wahrscheinlich die letzten waren welche die deutsche Sprache angenommen haben. Es ist schon einmal erwähnt worden, daß Guler von Winegg noch am Ende des 16ten Jahrhunderts im Wallgau Leute gekannt habe, welche grob rhätisch, d. h. romanisch sprechen konnten. Bedenkt man nun, daß im Wallgau die Städte Bludenz und Feldkirch, die mancherlei deutschen Ritterschlösser, der große Verkehr über den Arlberg eingewirkt haben und so unsre Sprache bei weitem mehr begünstigt war als im abgeschlossenen Montavon, so wird man wohl auf die Annahme geführt, daß in dieser Berggegend das Romanische um ein Gutes länger gedauert haben möchte, als draußen in der vieldurchzogenen Thalebene. Uebrigens bewahrt das Ferdinandeum zu Innsbruck ein handschriftliches Exemplar der alten Landesordnung des Montavons, wie sie am Schlusse des sechzehnten Jahrhunderts von Hector von Ramschwag, dem österreichischen Vogt zu Bludenz und Sonnenberg revidirt, erläutert und ergänzt worden, in welcher freilich, von den Geschlechtsnamen abgesehen, sich kaum eine Spur entdecken läßt, daß die Landschaft, wie doch wahrscheinlich, damals noch romanisch [125] gesprochen habe, so sehr ist die ganze rechtliche Geschäftssprache auf das Deutsche gestellt. Indessen hat man dabei zu bedenken, daß viele Bezirke in Tirol und Vorarlberg und in Graubünden Jahrhunderte lang zweisprachig gewesen, wie es z. B. die Thäler von Gröden und Enneberg noch sind, und daß in allen diesen das Deutsche allein als Schriftsprache galt, sohin auch alle Verhältnisse, die der Schrift anvertraut zu werden pflegten, sich in deutsche Ausdrücke gehüllt hatten. So würde man, wenn etwa das Gedächtniß untergehen könnte, daß in Gröden ladinisch gesprochen wird, in etlichen Jahrhunderten aus den Archiven des k. k. Landgerichts Castelrutt wohl ebenfalls nur sehr zweifelhafte Anzeichen dieses Zustandes ziehen können, wie denn auch die tirolischen Urkunden des Mittelalters nur selten durch deutliche Angaben die Muttersprache derer bezeichnen, die sie ausfertigen ließen oder als Zeugen unterzeichneten. Ein Beweis dafür sind insbesondere ältere Urkunden aus den besagten Thälern von Gröden und Enneberg. Die zahlreichen romanischen Familien-, Hof- und Flurnamen, die sich im Montavon, wie überhaupt im drusianischen Capitel finden, bezeugen natürlich nur die ehemalige Herrschaft jener Sprache, nicht aber wie lange sie gedauert habe.

Gleichwohl dürfen wir nicht vergessen, daß im Montavon, im Silberthale nämlich, sowie in dem anstoßenden tirolischen Paznaun auch walserische, also rein deutsche Niederlassungen erwähnt werden, deren Ursprung wie der der übrigen ins 13te und 14te Jahrhundert fällt. Indessen findet sich eine Andeutung, daß schon früher einzelne Alemannen in dem Thale Sitze genommen. Es gibt nämlich ein uraltes Verzeichniß der sämmtlichen Einkünfte, Nutzungen und Gerechtigkeiten des Hochstiftes Chur, welches Freiherr von Hormayr im zweiten Bande seiner sämmtlichen Werke S. XXIX und folgende hat abdrucken lassen und das von mehreren ins 10te Jahrhundert gesetzt wird. Dieses Verzeichniß erwähnt auch das Ministerium quod dicitur ferraires – eine Bezeichnung, die von späterer Hand auf das „Isenwerk in Muntafun, im Wallgöw” bezogen wird, mit dem Beisatze, daß jeder Mann, [126] der dort auf Eisen arbeite, den sechsten Theil als Steuer zu geben habe, extra Wanzaningam genealogiam, außer der Familie der Wanzaninger. Der deutsche Name läßt auf deutsche Abkunft schließen, denn dieses Verzeichniß, wie es in vieler Beziehung lehrreich ist, thut auch dar, daß damals die romanischen Landleute sich von den deutschen noch durch ihre lateinischen Taufnamen strenge abzeichneten. Wir finden daher in Rötis einen Valerius, Saturnus neben einem Hubertus, in Gözis einen Arnolfus neben einem Silvanus und Vigilius, in Frastenz einen Thietbertus und Onolfus neben den romanischen Bauern Florentius und Ursicinus. In Thüringen sitzt ein Eggehardus, in Sateins ein Muotolf, in Göfis ein Berchar, der Jäger, und ein Fontejanus. Sohin dürfen wir auch die Wanzaninga genealogia für ein deutsches Hauswesen ansehen, das sich etwa des Bergbaues wegen bis an die Quellen der Ill verlaufen hat. Vielleicht sind die Nachkommen dieser Leute noch zu unsern Zeiten unter den Lebenden und im Vorarlberg zu finden; sie würden jetzt wohl Wenzinger heißen.

Die Montavoner können im Aeußern ihre undeutschen Ahnen oder mindestens ihr gekreuztes Blut weniger verläugnen, als die übrigen Vorarlberger des drusianischen Capitels. Insbesondere ist das Aussehen der Weiber ziemlich fremdartig, wie es denn überhaupt die Aufgabe des andern Geschlechtes scheint, wie in der Tracht und in der Sprache, so auch in der Körperbildung die nationalen Kennzeichen treuer zu bewahren. Zwischen einer blühenden Alpenmaid deutschen Stammes und einer andern aus dem Montavon ist in der That ein merklicher Unterschied. Jene erfreut sich einer sehr weißen Hautfarbe, auf welcher dann das Roth der Wangen oft desto abstechender hervortritt; die Montavonerinnen sind dagegen durchweg tiefer gefärbt, zeigen ein stärkeres Incarnat. Dabei sind sie mittlerer Größe, fleischig, mit guter Anlage zum Embonpoint begabt. Große leuchtende Augen, volle hochgefärbte Lippen müssen auch als Merkzeichen angegeben werden. Die Haare sind nicht nothwendig dunkel, sondern sehr oft auch blond. Der ganze Typus hat auffallende Aehnlichkeit mit dem, was man auf dem Rodenegger Berg bei Brixen, in Gröden und Enneberg, [127] auch wohl in Fassa von weiblicher Schönheit sieht. Wie einerseits vom deutschen, so unterscheidet sich dieser Habitus andrerseits von dem mehr oder minder reinen italienischen, wie er auf dem Nonsberge, in der Lombardei und weiter hinab erscheint. Darum möchte vielleicht in diesen Körperformen eher als romanisch-deutsche Mischung eine Hinterlassenschaft der Urbewohner, der alten Rhätier, gefunden werden dürfen. Wir wollen uns indessen auf einem so unsichern Boden nicht lange aufhalten, sehen aber eine Entschuldigung für diese physiognomische Hypothese darin, daß man in neuern Schriften sogar schon versucht hat, in Tirol nicht allein die drei Elemente, die wir annehmen, das rhätische, romanische und deutsche, sondern auch ein viertes, das keltische, nach der Körpergestalt der Bewohner auszuscheiden. – –

Als nun des Bauern Söhnlein mit dem Proviante aus dem Dorfe zurückgekommen war, zogen wir ungesäumt unsers Wegs. Der Pfad führt aufwärts, zum Theil erträglich, zum Theil steigt er über Wurzelknorren und Felstrümmer jäh und beschwerlich in die Höhe. Die Ill tost neben dem Wege und macht manchen schönen Fall. Die Landschaft ist eng und bietet nichts Anziehendes, als eine etwas einförmige Wildheit. Weiter oben geht man über ein ausgetrocknetes Seebett, das jetzt eine Alm geworden, durch welche die Ill ganz harmlos dahinfließt. Drüben stand eine Sennhütte mit leuchtenden Fenstern – wir gingen vorüber.

Wir brauchten gute drei Stunden bis zur Galthütte auf der Bieler Höhe, die ungefähr auf der Gränze steht zwischen Vorarlberg und Tirol. An der Galthütte war auch so ziemlich Alles zu sehen, was Vermunt aufzuweisen hat. Es lag da ein weite Runde von beschneiten Bergkuppen herum, die jedoch keinen großartigen Eindruck machten. Es scheint nicht an Gletschern zu fehlen, aber sie gehen nicht ins Thal herunter und verlaufen an den Höhen hin unmalerisch ineinander. Auch waren sie nicht ausgeabert[WS 1] und die Schneedecke gestattete keine nähere Würdigung ihrer Schönheiten. Wer nicht der feierlichen Oede wegen hierher zieht, wird sich nicht besonders freuen können.

[128] Wir kehrten in der Galthütte zu. Unter einer Galthütte versteht man die Herberge der Hirten, die das Galtvieh hüten, und Galtvieh nennt man alles Vieh, das keinen Milchnutzen abwirft. Auf einer Galthütte ist daher gewöhnlich nur dürftige Erquickung zu haben: etwas Brod und Käse, was aus dem Thale heraufgeschafft wird, keine Butter, Milch nur allenfalls so viel als sich die Hirten abgespart, denn meistentheils erhalten sie bloß eine Kuh mit für ihren Leibbedarf. Der Zweck der Galthütte fordert wenig innere Einrichtung – ein paar Schlafstätten und eine Feuerstelle, ein Herd fast dem Boden gleich und ein paar rohe Bänke daran, ist alles was man braucht – keine Käsekessel, keine Milchgeschirre, keine Rührkübel – nichts von dem reichen Apparate der Sennhütten.

In der Galthütte saßen zwei Partenner; der eine ältere, ein gutgekleideter Mann, hatte sich nur auf etliche Tage zum Besuche eingefunden, der jüngere war ein ächter Hirte. Beide schmauchten, wortkarg, mißmuthig – gestern hatte es geschneit und mehrere Tag lang hatte es geregnet, das Futter war schlecht, das Vieh hatte Noth sich zu nähren. Schlechtes Wetter in den Bergen verleiht den Aelplern genau dieselbe Laune, wie Windstille auf der See den Matrosen. Doch gewann der ältere der Schmaucher nach und nach so viel Geistesfrische, um sich scheltend über den bösen Sommer zu beklagen, der jüngere stierte aber fortwährend stumm und trübe in das Feuer. Weit über dem Bache drüben sah man einen andern Jungen seine Ziegenheerde über ein Schneefeld treiben, wozu er ein Berglied sang, das fast schwermüthig herüberklang. – Im Rauche der Galthütte hing ein ausgebälgtes Murmelthier, das der eine vor etlichen Tagen erlegt; aus dem Pelz eines andern hatte er sich eine schmucke Mütze machen lassen. Zu essen fand sich nichts, die Milch war ausgegangen. Der Führer gab mir etwas von seinem Käse; dazu holte er eisiges Wasser von der nahen Quelle. Nach dieser kargen Labung pilgerten wir ohne langen Abschied wieder fort.

Wer auf der Galthütte steht, hat zwei Stunden, er mag ins Montavon nach Partenna reisen oder ins Paznaun nach [129] Galthür. Wer aber von Partenna aufwärts wandert, hat, wie wir schon angegeben, über drei Stunden, vielleicht gegen vier zu gehen, denn der Weg steigt beständig in die Höhe und ist stellenweise sehr steil; nach Galthür hinab dagegen führt ein ebener Pfad d. h. was man im Gebirge eben nennt, ohne jähe Steige, in sanfter Senkung. Daraus kann man abnehmen, daß Galthür beträchtlich höher liegt als Partenna, und es ist nicht zu verwundern, daß es um letzteren Ort noch Obstbäume gibt, während der hintere Theil des Paznauns nur Wieswachs hat.

Nicht weit von der Galthütte, schon auf tirolischem Boden, öffnet sich zur rechten Hand in der Tiefe ein Thal, das im hintersten Winkel an Gletschern und Schneefeldern seinen Anfang nimmt, dann aber fächerartig zu geräumiger Weite sich ausdehnt. Die flache Sohle des Thales ist breiter Gries, daneben ein grüner Streifen Alpenweide. Im Gries rinnt die Trisanna heraus, die durch das Paznaun hinunterströmt und bei Landeck, vorher schon mit der Rosanna vereint, in den Inn fällt; ganz hinten aber in der Ecke der Eisberge, sagte der Mann von Partenna, finden sich eingestürzte Mauern und Gewölbe eines steinernen Wirthshauses, das einige der ältesten Männer der Gegend noch aufrecht stehend und ganz unversehrt gekannt haben wollen. Dieß Gebäude soll vor langen Zeiten von den Engadeinern erbaut und in seiner Umgebung, am 14 September, der große Viehmarkt gehalten worden seyn, welcher später nach Tirano im Vältelin verlegt worden – ein Beisatz, der etwas räthselhaft klingt. Auch wollen etliche noch eine Jahrzahl auf der Mauer lesen, und so viel sey ganz gewiß, daß man vor etlichen Jahren dort Wagenschienen gefunden. Ehedem sey da überhaupt, was wohl zu glauben, ein gangbarer und vielbetretener Paß ins Engadein gewesen und die Ferner hätten sich erst später geschlossen.

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Veröffentlicht von josefauer.com

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