Drei Sommer in Tirol – Das Gadertal

von Ludwig Steub

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Nicht weit von der Sennhütte und den Zirbelbäumen war auch die Wasserscheide, wo die Bächlein sich sondern und die einen gegen Abend rinnen ins Thal von Gröden und die andern gegen Morgen in die Abtei. Da sah ich noch einmal in die Alpenlandschaft hinunter, aus der ich heraufgestiegen war, in das bilderreiche Thal von Gardena. Freilich hatten sich jetzt die Berghalden vorgezogen, um die Dörfer am tiefen Bache zu verbergen, und nur einzelne Häuser und Hütten, die auf den Höhen herumlagen, blickten noch herüber. Unter diesen aber lagen St. Maria, St. Christina und St. Ulrich, die frommen Dörfer. Was für eine stille Kraft, dachte ich, wohnt in dem alten rhäto-romanischen Volke, das aus seinen Bäumen Millionen herausschnitzelte und seinen Namen bis in die neue Welt trug! Und doch, wie bescheiden und einfach und gutmüthig und menschenfreundlich sind diese Aelpler geblieben! [448] Und während ich dieß so in Gedanken hin und her drehte, entfuhren mir wieder die unvergeßlichen Worte: Dang longsch ie’l pa da tlo fin a Urteschei.

Wer sich nun auf die andre Seite dreht, der ist auch nach dem Schlern und dem Langkofel noch überrascht, wenn er über das Thal von Abtei hinaus die blendenden gezackten Firsten des Kreuzkofels gewahrt, der an starrer Größe, an ungethümer Zerrissenheit mit allen seinen Nachbarn wetteifert. Auch auf seinen Spitzen lag ein weißer Mantel und an seinen steilen Wänden hatten sich doch einzelne schräge Schneefäden angehängt. Unten im grünen Thale aber lagen in breiten Gerstenfeldern, Kolfuschg und Corvara, zwei niedliche Dörfer, doppelt freundlich anzusehen in der fürchterlichen Bergwildniß.

Kolfuschg, das zu deutsch Schwarzenberg heißen würde (col, fusc) blieb links zur Seite liegen. Wir schritten also gegen Corvara zu, das letzte Dorf im Enneberger Land, mit weitzerstreuten guten Häusern, mit Kirche und Wirthshaus, am Rande eines Wildbaches gelegen. Die Gegend ist voll guter Alpenweiden, liegt aber zumeist bis Georgi unter dem Schnee. In der alten Kirche ist ein gothischer Altar und ein schönes altes Bild darauf, die Enthauptung der heiligen Katharina vorstellend. Der Henker, der das blutige Geschäft verrichtet, ist ein stattlicher, schlankgewachsener Kriegsmann in höchst schmucksamer altdeutscher Kleidung mit weiten Puffen an den Aermeln und um die Hüften. Als den Meister dieses Bildes nennt man bald Tizian, bald einen unbekannten Schüler Albrecht Dürers; wenn’s aber von einem der beiden seyn muß, ist’s gewiß lieber von letzterem. Die anders Denkenden, und dazu gehören die meisten Leute des Thales, behaupten aber, der venetianische Maler sey durch schlimmes Wetter auf einer Winterreise in Corvara aufgehalten worden und habe da den Einwohnern dieses Angedenken hinterlassen. Auf dem Kirchhofe zu Corvara sind lauter neuere Inschriften in italienischer Sprache; nur eine ältere aus dem vorigen Jahrhundert ist deutsch und bezeichnet das Grab eines Herrn von Prack aus einem Geschlecht, das in frühern Zeiten in Enneberg ebenso berühmt war, als die Ritter von Wolkenstein im Gröden.

[449] Dem Bache nachgehend gelangten wir nach Stern, einem Weiler, der in der Landessprache la villa heißt. Es steht das Schloß Rubatsch am Wege, ein großes, festes Haus, das ehemals mit Erkerthürmchen[WS 3] gewappnet war, in einem Umfang von ungemein hohen Mauern. Die Edlen von Rubatsch sind aber schon lange weggezogen und jetzt wohnt in den ritterlichen Gemächern ein schlichter Bauersmann mit seinem fleißigen Hauswesen. Gegenüber der Burg Rubatsch, auf der linken Seite des Weges, steht ein anderes Haus, groß und stark gebaut, ehemals ein Sitz der Kolzen, deren Stammhaus übrigens zu Abtei ist, jetzt ebenfalls in den Händen eines bäuerlichen Herrn. Ein ansehnliches gothisches Portal ziert den Bau. Im Grödnerthale hat alle Maurerei den Charakter von gestern her; die Häuser scheinen alle neu und frisch; in Enneberg aber tritt das Altdeutsche überraschend hervor und der Wanderer trifft auf mächtige Thorbogen, auf spitzbogige Fenster, auf ragende Erker, die er sich sehr verwundert, hier zu finden.

Eine halbe Stunde von Stern liegt la Muda, welcher Name ein Dörfchen bezeichnet, das vordem sechs Häuser zählend hier gelegen, aber im Jahre 1821 durch einen Bergbruch zu Grunde ging, der vom östlichen Mittelgebirge sich ablösend, Saatfelder und Waldungen mit sich führend, langsam ins Thal herniedersank, einen fünfhundert Klafter breiten Schuttdamm aufwarf, sofort auch den Gaderbach anschwellte und dadurch den Sompuntersee entstehen ließ, der aber im Raume eines Decenniums wieder verlief.

Unterdessen ist schon lange der schöne spitze Kirchenthurm von St. Leonhard aufgetaucht und um ihn herum zeigen sich gute dreistöckige Häuser, auf grünen Auen zerstreut. Diese, von vielen Wasserrissen durchschnitten, ziehen in mannichfaltigen Hebungen an den Halden hinauf, die ein ehemaliger Bergbruch sind. Die Gebäude verrathen vielen Wohlstand, und wenn die Badioten arm sind, wie kaum zu läugnen, so lassen sie dieß wenigstens an ihren Häusern nicht vermerken. Allmählich hatten wir die ersten erreicht und bald setzten wir [450] uns bei Herrn Johann Franz Dapunt im Wirthshause jenseits der Kirche zur Rast.

Wir sind also in St. Leonhard oder wie man in der Thalsprache sagt Badia. Diesem wälschen Namen entspricht denn wieder auch ein deutscher, nämlich Abtei, welcher von einem ehemaligen Stifte der Templer herstammen soll. Uebrigens gilt der Name Badia im gewöhnlichen Gebrauche für das ganze innere Thal, etwa von der Pontatscher Schlucht angefangen, und die Einwohner dieser Landschaft heißen daher auch Badioten. Sie sind große Viehzüchter und die Gemeinde Abtei verkauft jährlich allein an fünfhundert Stücke Zuchtvieh. Hoch wird der Fleiß und die Aufmerksamkeit gerühmt, die der Landmann diesem Erwerbzweige schenkt. In seinen Ställen soll eine Reinlichkeit und Ordnung herrschen, wie man sie in seinen Stuben umsonst sucht, und die Sorgfalt für sein Vieh soll jene für sein menschliches Hauswesen weit überbieten. Was die andern Eigenschaften der Badioten und der Enneberger insgesammt betrifft, so zeichnen sie sich nach den Erfahrungen der Landeskundigen durch ungemeine Gutmüthigkeit, Geduld und Genügsamkeit aus. So arbeitsam und sparsam wie der Enneberger, sagt Hr. J. Th. Haller, ihr gewesener Landrichter, so duldend und zufrieden, so fromm und sittlich, so voll Zutrauen und Achtung gegen Seelsorger und Obrigkeit, so offen für Belehrung und bereit zum Gehorsame dürfte der Landmann nicht leicht anderswo wieder zu finden seyn. Freilich ist schwer zu errathen, wie damit Proceßsucht, Mißtrauen und Mangel an Gemeinsinn zu vereinigen, was ihnen doch auch in bewährten Büchern vorgeworfen wird. In den Familien waltet patriarchalisches Leben. Vater, Söhne und Schwiegertöchter mit zahlreichen Geschwistern und Kindern theilen friedlich Tisch und Wohnung. Seine heimathliche Sittlichkeit und Ordnungsliebe verläßt den Enneberger auch nicht, wenn er auswärts als Dienstbote oder im Heere dient; er ist eben so treu im Gesinde als brav im Kriegsdienste. Jenes milde, sanfte, fast süße Wesen habe ich zu allererst an dem guten Wirthe von St. Leonhard, dem genannten Herrn Dapunt, für mich abgenommen und zwar schon das einemal, als ich im Jahre [451] 1842 des Weges kam. Damals hatte er gerade einen reisigen Schuhmacher und andre Arbeit im Hause, ließ sich aber dadurch nicht hindern, recht freundlich und leutselig zu seyn, während die Wirthin und die Magd daneben mit Krapfenbacken für die Kirchweih beschäftigt waren und Topfen wie Spinat in die weichen Fladen legten. Diesesmal dagegen erschien der sanfte Wirth mit seinem singenden Vortrag sehr trübe gestimmt und als wir im Abenddunkel in die reinliche Stube getreten, begann er noch, ehe das Licht erschien, mit folgenden Worten zu sprechen: „Ach, heut bin ich so traurig! die Pusterer haben mir zwei Vettern erschlagen.“ Dieß war wenigstens zur Hälfte wahr, denn am Tage zuvor, nämlich an St. Matthäus, des Apostels Fest, hatte es im Wirthshaus zu Saalen, welches am Ende des Thales liegt, schlimme Händel gegeben zwischen den deutschen Pusterern und den wälschen Söhnen von Enneberg. Zwei der Letztern hatten vor allen den Nachbarn in Schimpf und Ernst viel zu tragen gegeben. Die Pusterer aber, nach badiotischer Angabe ihrer fünf oder sechs, liefen den beiden, als sie heimwärts gingen, den Weg ab, überfielen und schlugen sie, bis sie für todt liegen blieben. Der eine, ein hübscher fröhlicher Junge, der die Zither lieblich schlagen und dazu schöne Lieder singen konnte, der kam auch nimmer zum Leben, der andere aber erholte sich langsam wieder und wurde gerettet. Dieß ist ungefähr die Geschichte, die im Herbste des Jahres 1843 großen Eindruck im Pusterthale machte und mit verschiedenen Zusätzen und Abänderungen, je nachdem ein Deutscher oder ein Wälscher sie erzählte, vielfältig besprochen wurde. Es war leicht zu bemerken, daß sie Stammsache geworden und daß die Beurtheilung derselben von nationalen Antipathien nicht frei blieb. Die Enneberger sahen darin einen neuen Beweis des wilden feindlichen Sinnes der Pusterer, wußten nur Gutes und Treffliches von den zwei Landleuten zu sagen, und hatten keine Entschuldigung für das gräßliche Verbrechen; die deutschen Bauern an der Rienz aber meinten, es sey nicht so arg, da die beiden Ueberfallenen dieselben zwei zänkischen Wälschen gewesen, die in ihrem Uebermuthe schon so viele Händel angestiftet und überall gerne [452] mitgehalten, wo es zu Stößen gekommen. Nur die deutschen Mädchen gedachten mit Schmerz und Wehmuth des einen der Jungen, der so „fein“ gewesen, die Zither so schön zu spielen gewußt und so liebliche Lieder gesungen.

Es ist bekannt, daß sich an die gewaltigen Bergriesen der Thäler von Enneberg und Fassa jene ungestaltenden Bewegungen knüpfen, welche die Geologie in den letzten fünfzig Jahren zu einer neuen Wissenschaft gemacht. Hier pilgerte einst Leopold von Buch mit Hammer und Tasche herum und nannte seiner ungeahnten Ausbeute froh, diese Thäler den Schlüssel zur neuern Geognosie. Seitdem sind diese Wildnissen der Wallfahrtsort für alle geworden, die die Geschichte des Erdballs in seinen Gebilden studiren, und in dieser Wissenschaft sind die Thäler, die wir genannt, zu einem Ruhm und Ansehen gekommen, die ihnen kein andrer Erdenwinkel streitig machen kann. Wenn wir bei dieser Glorie nicht weiter verweilen, so geschieht es, weil denjenigen, welche sich darum kümmern, nur von Fachgelehrten etwas Neues gesagt werden kann, wir aber nicht zu den Adepten gehören. Ebenso bekannt ist es ferner, daß die Landschaft von Badia in ihren Eingeweiden außer einer Menge anderer seltener Mineralien einen Reichthum schöner kleiner Versteinerungen „von wunderbarer, allen Gesetzen der bisherigen Petrefactenkunde spottender Eigenthümlichkeit“ enthält. Es ist auch hier wieder ein wundervoller Zug der unerschöpflichen Natur des Landes, die, so wild und schauerlich sie in ihrem Zorn, doch ewig beflissen ist, den armen Menschen zu Hülfe zu kommen und ihnen neue Quellen des Wohlstandes zu öffnen, die dort, wenn der Bergsegen versiegt, Heilwasser auffinden läßt, hier statt der Zirbelbäume die Pectiniten[WS 4] und Ammoniten[WS 5] zu Ehren bringt. Es war des Wunders genug für die ungelehrten Badioten, als der Zug der Fremden ins Thal hereinbrach und nach jenen steinernen Dingerchen zu fragen begann, die sie bisher auf ihren Bergfahrten achtlos hatten am Wege gesehen, und als dann diese Fremden über solchen Tand sich des Entzückens nicht erwehren konnten und nicht anders thaten, als wenn sie diese Seltenheiten gern mit Gold hätten aufwiegen wollen, [453] falls sie ihnen nicht eher schon von den gutherzigen Aelplern geschenkt worden wären. Auch jetzt noch wissen diese sich nicht ganz in die Sache zu schicken und haben fortwährend ihre geheimen Zweifel an der Vernünftigkeit der Leute „die die Steine aufklauben und das Geld verwerfen.“ So hat sich denn im Zusammenspiele des Verdachts über den gesunden Menschenverstand der Petrefactenfänger[WS 6], der nichts desto weniger aufblühenden Ahnung einer innern, mystischen, dem Auge der Eingeborenen unsichtbaren Kostbarkeit dieses scheinbaren Trödels, ferner der Voraussetzung großer Reichthümer auf Seite der wißbegierigen Pilger ein seltsamer Handelsbetrieb gebildet, der allerdings zu ungeschlacht ist, als daß er so sich lange halten könnte. Die einheimischen Sammler gehen nämlich in die Berge von Campill und St. Cassian, wo die Versteinerungen oder Curretsch, wie sie in der Thalsprache heißen, in unzählbarer Menge zu finden sind, füllen einen Zuber davon und bringen ihn mühsam nach Hause. Nun ist’s begreiflich, daß sie das kostbare Kleinod, das der Liebhaber einem Edelsteine gleich schätzt, von den alltäglichsten Erscheinungen nicht unterscheiden können, und da sie gleichwohl schon erfahren, daß nicht eines ist wie das andere, und überdieß auch schon gehört haben, daß mancher listige Reisende an den eingehandelten Schätzen in der Welt draußen das Hundertfache gewonnen, da ihnen alles dieß vor Augen steht und den Kopf verwirrt, so sind sie mit ihrem Thesaurus in großer Verlegenheit. Es ist immer die bange Furcht vorhanden, der fremde Kenner möchte ihnen die schönsten Stücke mit arglistiger Ruhe und Gleichgültigkeit herausnehmen, sie mit etlichen Groschen zufrieden stellen, und dann nichts überbleiben, als ausgesuchte, werthlose Waare. Um dieß zu verhindern und um sich also mit den guten Exemplaren auch die werthlosen bezahlen zu lassen, sind sie nun auf den Ausweg verfallen, ganze Zuber in Bausch und Bogen zum Verkaufe auszubieten, und dafür verlangen sie fünfzig bis achtzig Gulden Conventions-Münze.

Diese kunstlose Praxis hätte aber die einfachen Steinklauber von St. Leonhard leicht in sehr schlimmen Leumund bringen können, da sie dieselbe auch an Herrn A. Petzholdt, [454] dem reisenden Geognosten aus Sachsen, zu üben wagten. Es hält schwer zu sagen, schreibt er in den Beiträgen zur Geognosie von Tirol, den Gang von Picolein herauf nach St. Leonhard schildernd, was wir mehr bewunderten, ob die Größe, die Schroffheit, die wilde Zerreißung, die völlige Entblößung von aller Vegetation, oder die blendende, lichte Farbe dieser Dolomite, die von der Sonne glänzend beschienen, gegen den tiefblauen Himmel wunderbar abstachen. In ehrfurchtsvoller Scheu schritten wir voran, nicht ahnend, daß wälsche Heimtücke uns in diesen abgeschiedenen Thälern verletzend entgegentreten würde.

Aber noch am selben Tage, als man bei Herrn Dapunt wohl zwei Stunden lang anhaltend mit der Auswahl von Petrefacten beschäftigt gewesen und schon das Einpacken der ausgesuchten Dinge, die etliche Loth wiegen mochten, theilweise beendigt war, fragte man nach dem Preise und erhielt unter Lächeln die Antwort, daß man achtzig Gulden Conv. Münze bezahlen sollte und daß es gleich sey, ob man den ganzen Vorrath, oder das Wenige behalte, was ausgesucht worden. Es wurde dem Wirthe bemerkt, daß er das eher hätte sagen können, und als das Gebot von zehn Gulden Conv. Münze für das Ausgesuchte gemacht wurde (offenbar mehr als es werth war), ergriff er mit großer Ruhe die noch uneingepackten Petrefacten, schüttete sie in den Kasten zu den übrigen und mischte sie ihnen sogleich zu, mit den Händen alles sorgfältig durcheinander knetend, bei welcher Mißhandlung[WS 7] so schöner und zarter Petrefacten er den Reisenden näher ans Herz griff, als durch die höhnische Zurückweisung ihres Geldes.

Natürlich wurden alle weiteren Unterhandlungen mit ihm abgebrochen und man schied in gerechtem Zorne von ihm, während seine lächelnde Miene der Vorwürfe ungeachtet dieselbe blieb. Gleichwohl möchten wir hier weniger Böswilligkeit als jene fromme Einfalt sehen, die nicht recht weiß wie sie mit ihren Schätzen daran ist, und da Herr Petzholdt in der guten Absicht, die Nachkommenden vor der Arglist dieses wälschen Wirthes zu sichern, eine förmliche Warnung hat ergehen lassen [455] so finden wir uns gleichermaßen zur Beruhigung künftiger Reisender veranlaßt, diese Warnung wieder außer Wirksamkeit zu setzen, denn Johann Franz Dapunt hat vielleicht gerade seit jener Begegnung die ganze angeklagte Handelspolitik entschieden aufgegeben. Mein Begleiter, der sich auch um Petrefacten kümmerte, fragte nämlich alsbald darnach und da erschienen sie denn in Kasten und Mulden und auf hölzernen Tellern, und es zeigte sich, wie damals, die freundliche Bereitwilligkeit des Wirthes. Und als jener nach sorgfältiger Auswahl gerade vierundzwanzig Stücke sich gesammelt hatte – darunter vielleicht auch manches Exemplar das Herr Petzholdt erlesen – und nach dem Preise fragte, sagte der Badiote mit lächelnder Miene: Stück für Stück einen Kreuzer! und so bezahlte jener also vierundzwanzig Kreuzer Reichs-Währung für ungefähr dasselbe, wofür Dapunt damals achtzig Gulden Conventions-Münze verlangt und Herr Petzholdt und sein Reisegefährte zehn Gulden hatten geben wollen. So wird’s nunmehr mit allen gehalten; nur werden jetzt wahrscheinlich die Pilgrime nichts Besseres zu thun haben, als sich über diese anspruchlosen Preise recht kindlich zu verwundern, und dann vielleicht wird Dapunt in seinem Kopfe neuerdings irre werden und frische Tücken aussinnen, um die Petrefactenfänger recht höhnisch zu ärgern. Von der Zeit, wo er seine wälsche Praktik aufgegeben, bis zum heutigen Tag scheint er allerdings mit der Wissenschaft und ihren Vertretern im Frieden gelebt zu haben. Er weiß von vielen Herren zu erzählen, die ihm Curretsch abgekauft und behauptet, sein Gasthof gerathe in immer höhern Schwung da die Zahl der Reisenden alle Jahre zunehme. Insbesondere gedachte der Wirth mit Liebe des Herrn Professors Klippstein in Gießen, der schon manche Woche bei ihm zugebracht und ihm manchen Gulden schwer Geld zu lösen gegeben.

Uebrigens wollen wir hier nicht verheimlichen, daß der Bäcker zu St. Leonhard, der ebenfalls mit Curretsch handelt und der den genannten Reisenden nicht einmal seine Versteinerungen zeigen wollte, ehedem sie nicht den Kauf des ganzen Vorraths zugesagt, welch „dummes und brutales Ansinnen“ diese [456] sogleich zum Weggehen nöthigte, daß dieser Bäcker, wiederholen wir, noch immer auf seinem albernen Begehren besteht. Der erschien, als er im Vorbeigehen die Curretsch im Wirthshause klappern hörte, selbigesmal auch vor unserm Angesichte und meinte, seinige Versteinerungen wären erst die rechten und um die Kleinigkeit von fünfzig Gulden gebe er uns ein ganzes Faß. Auf diese sinnlosen Reden brachen wir aber rächend in ein schallendes Gelächter aus und nöthigten ihn dadurch schleunigst zum Weggehen. Wir hatten schon an unsern Reise-Hand- und Tagebüchern genug zu tragen und wußten nicht entfernt wie ein Faß in unsern Reiseranzen unterzubringen.

Ueber die Sprache von Enneberg wollen wir hier nur eine Nachlese halten. Der Enneberger scheint seinem Idiom weit weniger geneigt, als der Grödner. Unsere Sprache ist uns so hinderlich – heißt es – unsre Sprache ist uns viel entgegen; kommen wir hinaus zu den Deutschen, so verstehen wir nichts, mit den Wälschen haben wir nicht viel zu thun und auch in der Schule kann man nichts Rechtes lernen. Die Erklärung dieser Stimmung liegt in den Verhältnissen des Thales selbst. Die Enneberger haben nie wie die Grödner, große Handelsfahrten unternommen; ihr Blick in die Welt ging zu keiner Zeit weit über das Pusterthal hinaus und brach hinten kaum durch die Dolomiten, die sie von Buchenstein und Fassa scheiden. Die Nützlichkeit ihres Idioms konnten sie daher nie recht einsehen lernen, wohl aber fiel ihnen die Unverständlichkeit desselben in deutschen Landen und bei den deutschen Gerichtsverhandlungen zu St. Vigil sehr eindrücklich auf und es ist daher nicht zu verwundern, daß sie überhaupt der Meinung sind, es wäre viel besser, wenn sie alle von Kindsbeinen an deutsch sprächen. Die Männer thun dieß auch zum größten Theil, aber die Weiber sind noch lange nicht alle doppelsprachig.

Die Sprache von Enneberg ist übrigens nicht allenthalben ein und dieselbe, wie die von Gröden, sondern theilt sich wieder in verschiedene abweichende Mundarten, welche jedoch unter eine Hauptabtheilung fallen. Die örtliche Gränze bildet [457] der Maròbach, der bei Zwischenwasser in die Gader fällt. St. Vigil und Enneberg gehören daher zur einen Familie, die übrigen Orte des Thales zur andern. Der Dialekt der erstern soll der härtere, der der letztern der weichere seyn. Beide scheinen nach den Versicherungen der Eingebornen weiter auseinander zu gehen, als man es bei dem kleinen Umkreis des ladinischen Sprachgebiets und bei der gegenseitigen Nähe und den engen nachbarschaftlichen Verbindungen der Gemeinden wohl erwarten sollte. Als Schiboleth wird das Wort bezeichnet, welches lieb bedeutet (ie t’è tra dschang, ich habe dich sehr lieb – in Grödnersprache). Dieses lautet in der Abtei dschong, in St. Martin jong, in Wälschellen jang, in Enneberg jenn.

Mit der Schule und der Kirche wird es ungefähr gehalten wie in Gröden. In Untermoi, einem Bergdörfchen, das abgeschieden in einem Seitenthale liegt über welchem der gigantische Col de la Vedla aufsteigt, wird am letzten Tage des Jahres, am Sylvestertage nach altem Herkommen deutsch gepredigt, weil an diesem Tage bei Schnee und Eis eine große Kirchfahrt über die Jöcher aus dem Lüsenthale kömmt. Lüsenthal war früher auch der ladinischen Sprache zugethan und die große Kirchfahrt am Sylvestertage geht wohl in die Zeiten zurück, als noch diesseits und jenseits des Col de la Vedla das gleiche Idiom herrschte. Sonst zeigen die Enneberger Geistlichen viele Theilnahme an ihrem Krautwälsch und mancher scheint sich in Studien darüber eingelassen zu haben, die freilich bei dem Mangel der allernöthigsten Hülfsmittel immer etwas lückenhaft geblieben seyn mögen. Der Curat von Campill, einem Dörfchen, das links von St. Martin in einem Nebenthale liegt, soll ein besondrer Liebhaber des Ladins seyn und sich viele Mühe gegeben haben, es schreibbar zu machen. Dieß sey ihm auch so weit gelungen, daß einige seiner Schulkinder ganz artige Briefe und Aufsätzchen in ihrer Muttersprache verfaßt haben.*)[7]

[458] Das Klima von Badia und von Enneberg insgesammt ist kalt, der Winter lang, Sommerreif und frühzeitiger Herbstfrost [459] stellen sich gerne ein, in Folge davon Miswachs und schlechte Ernten – alles kein Wunder, wenn man bedenkt, daß St. Vigil [460] im Rauthal 3826, St. Leonhard sogar 4355 Wiener Fuß über dem Meere liegt. Die Landwirtschaft des Thales gehört daher nicht zu den gewinnreichen und was der schlechte Sommer und der kalte Herbst verschont, das geht jezuweilen noch durch Erd- und Bergbrüche zu Grunde. St. Leonhard selbst liegt wie es ist auf solchem von den Höhen herabgekommenen Schutte, ja es läßt sich gleich von dem ganzen Thalgebiete sagen, daß wie Unterägypten ein Geschenk des Nils, so die fruchtbare Scholle ein Geschenk der Schrofen, ein späterer Bergbruch ist. Solcher Erdabsitzungen sind noch immer viele zu befürchten und in manchen Bergrevieren ist der Boden bis auf den heutigen Tag in beständiger Unruhe, klafft und öffnet sich, wirft dicke Wülste auf, trägt ganze Felder hin und her und bedeckt mit Schuttlawinen Wald und Wiesen, so daß mehr als einem Hofe der sichere Untergang vorauszusagen ist. Die jetzigen Dörfer sind zum Theil auf Schuttablagerungen erbaut, welche die Ortschaften, die früher da standen, überdeckt haben; ja in St. Vigil erinnert nach dem Abendgeläute ein besonderer Glockenschlag die Einwohner, daß ihre Häuser in uralten Zeiten schon zweimal durch einen Abfall des nahen Kalkberges bei nächtlicher Weile begraben worden sind. Bebaut wird die Scholle übrigens mit dem größten Fleiß, und wenn auch der Landmann mit schweren Lasten überbürdet ist, so hält ihn dieß doch nicht ab, jedes Fleckchen zu benützen. Die Sümpfe werden durch gutangebrachte Wassergräben urbar gemacht, manche jäh ansteigende Berghalde mit unendlicher Mühe zum Ertrag gezwungen. Auf vielen Feldern kann kein Pflug, kein Zugthier die Arbeit des Landmannes unterstützen, und wird dann alles mit der Haue gearbeitet. Das abrollende Erdreich und selbst größere [461] Bergschlipfe, die zu Thal gegangen, werden in Körben oder durch Winden wieder an ihre Stelle geschafft, Futter und Garben auf dem Rücken in die Scheune gebracht.

Das Ennebergerthal ist also wild und rauh, aber für den Wanderer voll abwechselnder Ansichten, auch nur wenn er dem Bache entlang geht, obgleich er da von den mährchenhaften Ungeheuerlichkeiten, welche die Bergwildnisse zur rechten Seite in ihren Tiefen bergen, nichts gewahrt. Im hintersten Theile von Kolfuschg und Corvara bis St. Leonhard finden sich Räumlichkeiten, die sich dem Anbau gerne fügen, abwärts aber von der Abtei geht der Weg aus einem Tobel in den andern, bald am Bache hin, bald an der schwindelnden Wand. Nur hie und da tritt das Berggehänge zurück, und schließt dann den hügeligen Thalgrund ein, auf dem die freundlichen Dörfer stehen. Gleich nach St. Leonhard führt der Pfad durch die Schlucht von Pontatsch, eine waldige Enge, von nahen Bergbrüchen bedroht, die da zu Ende geht, wo der Bach aus dem Wengerthal in die Gader fließt. An dieser Stelle sieht man rechts in das schöne Thälchen hinein, das von einem Tausend wohlhabender Leute in reinlichen Höfen bewohnt und von den Nachbarn seiner sonnigen Lage, seiner ergiebigen Roggen- und Weizenernten und des schönen Mastviehs wegen fast beneidet wird. Es liegen da ferner verschiedene Häuserhäufchen am Bache und verschiedene Höfe auf den Höhen herum, rothbraune hölzerne Gebäude, die von der Morgensonne beschienen recht angenehm abstechen von den grünen Wiesen und den gelben Kornfeldern, denen sie zur Hut bestellt sind.

Nach diesem erreicht man den Weiler Preromang (Pratum romanum) und abermals am Ende einer waldigen Schlucht St. Martin, wenige aber ansehnliche Häuser auf grüner Anhöhe über dem Bache gelegen, mit großer Kirche. Auch dieses Dörfchen steht auf einem eingebrochenen Berge, der vor mehr als vierhundert Jahren die alte Niederlassung sammt ihrer Kirche begrub. Noch jetzo findet man im Boden häufig Menschengerippe und auf dem Pereswalde grub man aus dem Schutte die kleine Glocke, die nun im Kirchenthum hängt. Im [462] Wirthshause machte ich kurze Rast und begann vom Wirthe unterstützt wieder Sprachstudien zu treiben. Hier erfuhr ich, daß die Ladiner die Italiener insgesammt Lomberdsch heißen, die Lombarden. An einigen feiertäglich gekleideten Frauen die auf der Wallfahrt nach den Kreuzkofel waren und sich zur Fortsetzung derselben mit etwas Wein vorbereiteten, war abzunehmen, daß die Tracht der Weiber von der grödnerischen nicht viel verschieden ist, nur die Fatzelhaube hat wieder etwas andre Gestalt.

Oberhalb St. Martin auf grasreicher Halde liegt das Schloß Thurn an der Gader, ansehnliches zweistöckiges Haus mit wehrhaftem Thurme versehen, von kleinem Buschwerk lieblich umgrünt. Es war einmal der Sitz eines kleinen Gerichtes, das bis zum Untergange des heiligen römischen Reiches dem Bischof zu Brixen gehörte; angeblich ein übergebliebenes Stück der Schankung, welche Kaiser Heinrich III mit einer Grafschaft im Pusterthal im Jahre 1091 dem getreuen Bischof Altwin verehrte. Jetzt ist der strepitus judicii aus den alten Mauern gewichen und heutzutage sitzen zwei friedliche Bauern in dem Schlosse. Die andern Dörfer des Thales gehörten, außer Kolfuschg, das dem wolkensteinischen Gerichte Gufidaun untergeben war, dem Frauenstifte zu Sonnenburg, das draußen im Pusterthale liegt.

Das reiche Stift zu Sonnenburg entstand aber, als Ottwin, der Graf von Lurn und Pusterthal sein Gut unter seine vier Söhne vertheilt und einer davon, Volkold mit Namen, sich bedacht hatte, seine feste Suaneburc zu einem Frauenkloster nach der Regel des heiligen Benedicts zu weihen. Dieß geschah im Jahre 1018 und er schenkte nach freilich nicht ganz unbedenklichen Documenten der frommen Stiftung alles, was er im Thal von Enneberg zwischen Plaiken (Plaicha) und dem Salarpach (Salarapach) bei Kolfuschg besaß.

Die Unterthanen des Stiftes und des Bisthums hatten, wenn nicht die Milde der frommen Frauen oder der Kirchenhirten eintrat, der Lasten genug zu tragen. Grundzins, Zehenten, Kuppel- (d. i. Hunds-) Futter, Wasserprügel, Robot, [463] Jugendzins, Rauchfangzins und wie diese fröhlichen Dinger alle heißen, waren in solcher Reichlichkeit über sie ausgelegt, daß dem Bauer kaum der dritte Theil von den Früchten seines Fleißes übrig blieb und daran zehrten später nicht allein Bisthum und Stift, sondern auch andre Priesterschaft und das Ritterthum, so daß jetzt noch 171 solcher Berechtigten in dem Steuerkataster eingetragen sind. Aber auch ihr Leben war nicht allzeit in Sicherheit, denn wenn die Frauen von Sonnenburg mit dem Bischof von Brixen oder seinen Rechtsnachfolgern des Gerichts zu Thurn wegen Stöße hatten, so gingen sie meist an den gequälten Ladinern aus. So waren einmal im dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderte die Herren von Schöneck als Lehensträger der Bischöfe im Besitze der Schlösser Thurn und Buchenstein und verfuhren mit den Unterthanen in so wilder Weise, daß die Aebtissin Dietmut, eine Landgräfin von Lienz, bei König Heinrich eine Klage erhob worin neben vielen andern Beschwerden über Räubereien an Vieh und Geld auch behauptet ward, daß Herr Paulus von Schöneck einem Mann des Gotteshauses den Fuß und seinem Schreiber die Hand abgehauen, daß Herr Nicolaus von Schöneck einen ehrlichen Unterthanen derselben Kirche gefangen, ihm Schatzung aufgelegt, und da er nichts erhalten, den Armen in siedendem Wasser verbrannt habe. Diese Klagen wurden so begründet gefunden, daß König Heinrich die ritterlichen Missethäter zu einem Schadensersatze von 16,000 Pfund Pfennige verurtheilte. Ein anderes Unheil brach im Jahre 1460 herein, als Nicolaus von Cusa, Cardinal und Bischof zu Brixen, die Stiftsfrauen von Sonnenburg mit dem Kirchenbann belegt, die Aebtissin Verena von Stuben ihrer Würden entsetzt und über alle Gilten, Gefälle und Einkünfte des Klosters die Sperre verhängt hatte, dieweil sich jene der von ihm versuchten Visitation und Klosterreform nicht unterziehen wollten. Die gebannten Stiftsfrauen thaten in diesem Jahre als wäre ihnen nicht viel am Fluche der Kirche gelegen und forderten von ihren Zinsbauern die Abgaben wie vorher. Die friedfertigen Ladiner kümmerten sich auch nicht um die Wirrniß, sondern zahlten ihren guten Gerichtsfrauen, was sie [464] sonst gezahlt hatten. Nun kam aber Herr Gabriel von Prack, des Bischofs Schloßhauptmann in Buchenstein, gen Enneberg. Auf den Knien betheuerten die armen Bauern ihre Unschuld, behaupteten nur ihre Schuldigkeit gethan und nichts Arges im Sinn gehabt zu haben, wollten gerne ins Gefängniß gehen und des Richterspruchs gewärtig seyn, aber es half nichts. Herr Gabriel schwang sein Schwert über sie, ließ sie sammt und sonders niedermetzeln und nach des Cardinals Befehl ihre Leichname den Vögeln der Luft zum Fraße aussetzen. Der Ritter von Prack gewann dadurch Ablaß seiner Sünden und einen vergoldeten Becher zum Geschenk vom hochwürdigen Kirchenfürsten. Die Aebtissin rief aber Erzherzog Sigmunden, den Landesfürsten von Tirol, zum Schutze auf und von dieser Zeit schrieb es sich her, daß die Grafen von Tirol auch von den Ennebergern die Huldigung forderten und die Hoheitsrechte über das Stift auszuüben anfingen, nicht ohne Einsprache der Fürstbischöfe von Brixen, welche die Aebtissinnen und die landesfürstlichen Commissäre in solchen Fällen noch etlichemal excommunicirten.

Es war ein altes Herkommen, daß die neuerwählte „gnädig gebietende“ Aebtissin sich von den stiftischen Zinsbauern huldigen ließ. Auf dem freien Platze zu St. Vigil vor dem Gerichtshause wurde eine Bühne aufgeschlagen und dort trat die Aebtissin, umgeben von den Frauen des Stifts und ihren Amtleuten, vor ihre Getreuen, und ließ sie schwören, ihrer „rechten und natürlichen Erbfürstin und Frau“ gehorsam und gewärtig zu seyn. Die Bauern auf der andern Seite begehrten dann von der gnädig Gebietenden Verwahrung vor neuen Lasten und Steuern und geriethen dabei, wenn die fürstliche Frau nicht mit ehrlichen Versprechungen zu Tage wollte, in großen Ungestüm, so daß seit dem Jahre 1732 die Huldigung lieber ganz unterlassen wurde. Dem Stift-Sonnenburgischen Gerichte Enneberg zu St. Vigil waren übrigens seit uralten Zeiten vier Männer mit dem Ehrentitel: Missier beigegeben, als Stellvertreter der Gemeinden Enneberg, Wengen, Abtei und Corvara und zur Besorgung der innern Verwaltung. Die Rechtshändel wurden vor die öffentliche Schranne [465] gebracht, welche nach alten Gewohnheitsrechten entschied, die im sechzehnten Jahrhunderte in die Feder verfaßt und verzeichnet worden sind. Das Verfahren, das da üblich war, mahnt an jenes, welches wir im Bregenzerwalde kennen gelernt.

Ueber dem Wasser bei St. Martin liegt der kleine Weiler Picolein, etliche zierliche Häuser, darunter zwei ehemalige adelige Ansitze und dabei eine Capelle. In dieser ist auf einem Seitenaltare dasselbe Gemälde zu sehen, wie in der Kirche zu Corvara. An den Wänden sind auf großen Tafeln die Wunder des heiligen Antonius angemalt: rechts die, welche er bei Lebzeiten, links jene, so er nach seinem Tode verrichtet hat – ein halbes Hundert recht sehenswürdiger Darstellungen. Unter den erstern ist auch die Fischpredigt nicht vergessen, und es nimmt sich sehr gut aus, wie die Geschwader der Fische, die in Reih und Glied sich aufgestellt, die naiven Häupter zum Wasser herausstrecken um das Wort Gottes zu vernehmen; unter den letztern hat mir besonders gefallen die Geschichte, wie der heilige Antonius einem bedrängten Factor aus der Noth hilft. Derselbe Factor, der seinem Herrn tausend Gulden schuldig gewesen, diese jedoch wieder bezahlt hatte, wurde nach dem Tode des erstern noch einmal darum angefordert, weil der Verstorbene vergessen hatte die Heimzahlung im Handlungsbuche zu bemerken. Der Factor rief nun in seiner Angst St. Antonium um Hülfe an, und der Heilige schaffte sie auch dadurch, daß er den todten Herrn, welcher verdammt war, vor die Pforten der Hölle beschied, um nachträglich die Quittung zu unterschreiben. Da steht nun, während die lebenden Erben im Comptoir disputiren, in der Ferne die Hölle offen und der arme, zu seinen Lebzeiten so vergeßliche Kerl, splitter nackt und rothgesotten wie ein Krebs, stellt am Eingang der Unterwelt die Urkunde aus, in Beiseyn des heiligen Antonius, des Factors und eines gluthäugigen Teufels, der mit der Feuergabel als Schildwache daneben paradirt.

Von Picolein steigt das Sträßchen in die Höhe und zieht dann oben an der steilen Halde des Plainsberges hin, so daß der stürmende Bach tief unten in der düstern Schlucht kaum mehr zu erschauen ist. Allmählich geht der Weg in schattigen [466] Lärchenwald ein und begünstigt ein träumerisches Lustwandeln, bis der Pilger auf der Höhe über Zwischenwasser, wo der Raubach in die Gader stürzt, aus dem Dunkel des Waldes hervortretend, jählings eine wundervolle Aussicht vor sich hat, zumal wenn er noch ein Stück über den Weg hinaufklettert. Da sah ich rechts ins Rauthal, wo aus fichtendunkeln Hügeln, die sich tief hinein in unbewohnte Wildniß verloren, gigantische Felsmassen, roth und blau, schier senkrecht aufstiegen, zwischen denen die Morgensonne ihre Strahlen seltsam gebrochen ins stille Alpenland hineinsandte, das noch Bären und Wölfe beherbergt. Die Häuser von St. Vigil steckten in leichtem blaulichem Duft, durch den sich die Rauchsäulen aus den Schornsteinen keck emporwanden. Ueber St. Vigil, dem Gerichtssitze, erhoben sich steile ragende Hügel, weitaus mit Korn bebaut und über sie hin zogen in geschäftigem Zug mit Roß und Pflug die ackernden Landleute bis ganz nahe an die Wälder hinauf, die ihre langen Schatten über diese Vorberge warfen. Auf einsamer Höhe liegt St. Maria, „die Pfarre,“ mit schönem gothischem Kirchthurm und ein paar bedeutsamen Häusern, wovon eines, ehedem ein adeliger Ansitz, jetzt ein Wirthshaus ist. Auf einer andern nahen Halde, auch rings umgeben von[WS 8] steilen Kornfeldern, prangt die Burg Asch, das Stammhaus der Ritter von Prack, ein dreistöckiges, hochgiebeliges Haus, mit vier Eckthürmen wohl bewehrt. Und wieder nicht weit von Asch zeigen sich auf steinichter Wand Kirche und Häuser von Plaiken. So ist die Gegend diesseits des Baches. Ueber dem allem aber, hoch oben auf dem steilen Gehänge, wo breite Ackerflächen mit finstern Wäldern abwechseln, ist die Kirche von Wälschellen hingeheftet, sammt den weitzerstreuten Häuschen, die sich am schwindelnden Berghang mühsam zu halten scheinen. Ueber diesem Hochlandsdörfchen steht roth und weiß, zerrissen und zerklüftet, steil und überhängend der Col de la Vedla, der Berg der Vettel, ein grauses dolomitisches Ungethüm, das aber dennoch vom Peitlerkofel, der hinten im schönen Seitenthälchen von Untermoi aufschießt, noch an Höhe und an Wildheit übertroffen wird. Diese beiden Hörner, der Col de la Vedla und der Puthia [467] stehen nahe beisammen und einer schaut grimmig auf den andern – es ist als ob sie so zusammengestellt seyen, damit sie sich ewig in ihrer Schauerlichkeit messen sollten. Das sind die Aussichten, die jene Berghöhe über Zwischenwasser in der Nähe bietet, eine farbenreiche Mischung, aber ihrem Zusammenscheine nach fast etwas ins Wilde schlagend, da die freundlichen Auen und Felder gegen die Schrecken der Dolomitgebilde nicht aufkommen können. Eben deßwegen ist’s eine erfreuliche Zuthat, daß der Blick auch an dem Gaderbach hinausgeleitet wird und über den rothen Thurm von Ohnach ins Hügelland des Pusterthales fällt. Und über den Hügeln des Pusterthales steigen die Berge des Pusterthales empor und über diesen tauchen in schneeweißem, eisigem Mantel die Ferner auf, die hinten im Zillerthale liegen, der Nefeser und der Zemer und andere weiße Spitzen, die gegen die Krimmlertauern ziehen. Die sanften breiten Formen dieser Schneeberge wirken beruhigend auf den Beschauer, den das Jähe, Unheimliche der Enneberger Hörner aufgeregt hat. Wenn er da mehrere Tage in Gröden oder Abtei gesessen ist, so verbindet sich damit vielleicht auch eine leise Freude wieder ins Gebirgsland zu kommen, das ihm heimathlicher ist, aus den rauhen Thälern, in welche die ladinischen Dolomiten unruhig hineinragen, in die zahmern, die die schneeigen Gipfel deutscher Berge umgürten.

Bedauerlich war es uns, daß wir nicht Zeit hatten nach Enneberg oder St. Maria hinüber zu steigen, um nach dem Tanzstadel, dem „Pajung“ zu fragen, der zur Zeit, als Haller schrieb, noch vorhanden war. Es war ein uralter Gebrauch weit und breit in den rhätischen Alpen, daß sich jede Gemeinde ihr Tanzhaus erbaute, welches zugleich als Gedingstätte diente. So haben wir’s im Bregenzerwald gesehen, wo der Landammann auch im Tanzhause nieder saß, um Gericht zu halten, so ist es von vielen andern Gemeinden überliefert, und so ist’s auch da gewesen, wo jetzt keine Ueberlieferung mehr im Munde der Alten ist. Wo der Landmann sich sein Recht holte, da wollte er sich seine Freude holen und die Halle, wo sich die fröhliche Jugend und die rüstige [468] Mannheit im Ländler gedreht, schien gut genug für die ernstlichen Verhandlungen über Streit und Span. „Ein öffentlicher Tanzstadel gehörte so wesentlich zum Gemeingute der Ortschaft, wie jetzt Kirche und Schulgebäude.“ Mit älplerischer Einfachheit war er jeder andern Dreschtenne ähnlich; in der Mitte stand eine runde Säule, welche bis ans Dach reichte. Nicht nur bei Hochzeiten sondern an allen Sonn- und Feiertagen, die im Kalender stehen, zog das Volk dem Tanzboden zu, um selbst sich zu schwingen oder dem muntern Reigen zuzusehen. Unverwüstliche Alpennatur, die den armen Ladinern, welche an der Unfruchtbarkeit ihres Bodens, an Steuern, Abgaben und Frohnen fast erlagen, noch so viele Lebenslust übrig ließ, um am Sonntage sich zu freuen und der Kümmernisse der Werktage zu vergessen! Es galt als ein Ehrenvorzug, bei solchen Tänzen den ersten Reigen zu eröffnen. Ein Mann des Vertrauens, welcher der Platzmeister hieß, war der Unterhaltung vorgesetzt. Seines Amtes war, die Spielleute zu bestellen, das Volk geziemend zum Tanze zu laden und über Ordnung und Anstand zu wachen. Ein großer Hut mit ungeheuern Flügeln und winzig kleinem Kopfe, reichlich bebändert und mit Troddeln geziert, war das Zeichen seiner Würde.

„Diese Volksbelustigung, sagt unser Gewährsmann ferner, scheint sich bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts erhalten zu haben. Alte Männer einer jüngst vergangenen Zeit erinnerten sich noch der letzten Platzmeister. Mißbräuche und die Einwirkung geistlicher Behörden mögen zu ihrer Abstellung Grund und Veranlassung gegeben haben. Die Tanzstädel machten allmählich nützlicheren Gebäuden, Schulen und Wohnhäusern Platz und von der alten Sitte blieb endlich nichts mehr, als das Andenken und die Vorliebe für diese Unterhaltung übrig.“

Ein Nachklang der alten lärmenden Tanzlust hat sich noch bei den Hochzeiten erhalten. Verwandte und Nachbarn werden dazu in großer Anzahl geladen und es wäre sehr feindselig die Ladung auszuschlagen. Auch Seelsorger und Richter dürfen nicht fehlen, und an sie ergeht ein feierliches [469] Aufgebot zum Mahle. Die Hochzeiten werden meistens im Winter gefeiert und so gleiten die Gäste in prächtig bespannten Rennschlitten heran, mit Geschirr und Zeug, das wegen seiner Kostbarkeit als Familienkleinod vom Vater auf den Sohn vererbt wird. Nachdem die Trauung in der Kirche vorüber, geht der Zug ins Wirthshaus zum Tanze. Dort warten schon vor dem Thore die mit Kränzen und weißen Schürzen geschmückten Mädchen auf die Jungen, welche sie wählen und zum Tanze führen sollen. Gerade so wird’s bekanntlich auch in Bayern, im Gebirge wie in der Ebene gehalten und gilt nirgends als eine Versündigung gegen den Anstand. Ueberhaupt scheint der Tanzstadel in Enneberg und alles was damit zusammenhängt, ein deutsches Gewächs zu seyn, das vom Pusterthale aus in die günstige ladinische Luft hinein rankte.

Die Ritter von Prack, deren Stammburg jenes Asch bei St. Maria ist, waren seit alten Zeiten begütert im Enneberger Thal. Jenes hartherzigen Gabriels von Prack haben wir schon gedacht, wir müssen aber noch des kühnen Ritters Franz Wilhelm Prack zu Asch erwähnen, der der Nationalheld der Enneberger[WS 9] geworden ist. Sie erzählen viel von ihm, und nach ihren Mähren hatte er lebenslänglichen Unfrieden mit den Kolzen, war dabei ein trefflicher Armbrustschütze und verwegener Reiter. Einmal sah er von der Burg zu Asch aus einen der Kolzen aus dem hohen Plaieswalde heranreiten, spannte schnell den Bogen und schoß über das Thal hinüber in ungeheure Ferne gegen den Todfeind. Den traf nun zwar der Bolzen nicht, aber der Sattelknopf erklang von seinem Anprall. Ein schönes Wagstück gelang ihm einst, als er mit den Ampezzanern Fehde hatte. Damals machte er einem Fräulein den Hof, das auf dem Schloß zu Peutelstein verweilte. Eines Tags hatten nun die Ampezzaner, um ihm den Heimweg zu verlegen, die Brücke abgetragen, die über den schauerlich tiefen Abgrund der Tavernanza führt. Franz Wilhelm von Prack ritt seiner Liebe froh des besten Muthes von Peutelstein herab und kam an den Wildbach, sah aber keine Brücke mehr, sondern einen Haufen Bewaffneter, die [470] hinter ihm drein jagten. Er hatte nur die Wahl zwischen Gefangenschaft und dem ungeheuern Sprung. Da riß er sein Roß zurück, gab ihm die Sporen – das edle Thier setzte über die Schlucht, erreichte mit den Vorderfüßen den jenseitigen Felsen und arbeitete sich mit den hintern glücklich an der Wand hinauf. Als der Reiter wieder auf festem Boden war, stieg er ab, küßte dem Lebensretter die Füße und ritt im Angesichte der Ampezzaner, die rathlos auf der andern Seite standen, hohnlachend davon. Sein Leben endete am 7 Februar 1582 auf dem Felde bei Corvara, wo ihn seine Todfeinde Johann und Caspar Anton, die Kolzen, ermordeten.

Von Zwischenwasser geht das Sträßchen wieder steil in die Höhe und führt nach Pelfrad, dem Wirthshause, welches die Gränze der ladinischen Sprache ist. Der nächste Weiler ist Saalen, auch mit einem Wirthshause versehen, in welchem vor drei Jahren der Streit entstand, welcher den Tod des zitherkundigen Ennebergers zur Folge hatte. In Saalen ist alles pusterthalisch, Sprache und Art der Leute, wie auch die gelben Röcke mit dem breiten schwarzen Querbande, und die spitzigen, breitgekrämpten Hüte, welche die Weibsbilder tragen.

Von Saalen an verliert die Landschaft das Wilde und Großartige, das sie bisher an sich getragen, der Blick geht ins Weite, in die schöne Fläche des Pusterthals hinaus. Das Schloß Michelsburg, mit drei streitbaren Thürmen wehrhaft prangend, erhebt sich zur rechten Hand auf einem einzelnen Felsen, der bald steil abschießend, bald in sanften Abhängen sich ins Thal herniederläßt. Einzelne Kammern der Burg sind wohl noch bewohnt, denn es gehen reinliche, weiße Zierstreifen um die Fenster, die mit Blumenstöcken geschmückt sind, und in diesen Gemächern wird wahrscheinlich der Bestandsmann wohnen, den der Graf Künigl in dem Schlosse hält. In der Ferne erscheint das stolze Schloß von Brunecken mit seinen rothen Dächern, Stegens spitziger Kirchthurm, Dietenheim mit seinen ritterlichen Schlössern. Darüber hin öffnet sich die Schlucht des Tauferer Thales, von dessen innerer Höhe das Dorf Achornach aus einer Ferne von vier Stunden weit herunter blickt. In der Nähe verleihen mehrere bewaldete [471] Bühel der Gegend angenehme Abwechslung. Zwischen zwei solchen Anhöhen ist das verfallene Stift von Sonnenburg zu sehen, das auf ragendem Felsen über der Rienz liegt, einst stolz, reich und prächtig, jetzt, seitdem es Kaiser Joseph 1785 aufgelöst, gebrochen und zerfallen, als wenn das Verderben von Jahrhunderten darüber hingegangen wäre.

In diese Gegend kommen wir übrigens ein andermal, wenn wir vom Krimmlertauern durch das Ahrenthal herniedersteigen und in Brunecken Rasttag halten. Jetzt gehen wir wieder nach St. Leonhard zurück, um über Valparola nach Buchenstein zu wandern.

Es war ein schöner Abend, als ich von St. Leonhard dem hohen Ufer des Gaderbaches entlang zumeist über Wiesen hin nach St. Cassian ging, rechts von der langen senkrechten Wand des Kreuzkofels, der von der untergehenden Sonne beschienen, wie eine rothglühende Himmelsmauer aus den grünen Abhängen aufstarrte. Eine saubere Dirne war meines Weges, konnte mir aber sehr wenig mittheilen, da sie nur dürftig deutsch sprach. Sie suchte sich deßwegen, so gut es gehen wollte, zu entschuldigen und schien ihre Ungeübtheit in deutscher Zunge als etwas zu betrachten, was ihr bei ihrem Alter – von siebzehn Frühlingen – nicht ganz gut anstehe.

In St. Cassian fand ich sehr freundliche Aufnahme beim Curaten. Er ist ein geborner Enneberger und einer von jenen ehrenwerthen Männern, die sich mit Forschungen über ihre Muttersprache beschäftigen. Deßwegen legte ich auch mit meinen, obwohl sehr kurz gefaßten Kenntnissen im Ladin viele Ehre bei ihm ein. Das freundliche Gespräch, in das wir darüber geriethen, hielt uns bis gegen eilf Uhr beisammen.

Vom Herrn, der mich die Nacht beherbergt, hatte ich mich danksagend beurlaubt; ehe ich aber erzähle, was sich weiter begeben, muß ich noch der Sage Erwähnung thun, welche zu Wengen und St. Cassian von den vorzeitlichen Wilden erhalten ist. An beiden Orten findet sich nämlich ein Bach, den die Eingebornen Rü de gannes*) [8] nennen, den [472] Bach der Wilden. Diese Urbewohner hielten sich laut der Ueberlieferung in Wäldern und Felsenklüften auf dem Kreuzkofel zusammen, ohne Gesittung und fast ohne Sprache. Wildpret, Kräuter und Wurzeln und was sie etwa von den christlichen Nachbarn empfingen, war ihre Nahrung. Nur bei der grimmigsten Kälte, oder wenn Hungersnoth unter ihnen eingerissen war, kamen sie zu den höchst gelegenen Häusern herab, wärmten sich am Feuer, nahmen die Gaben, um die sie nie baten, und entfernten sich eilfertig wieder, ohne je eine Nacht unter Dach zu bleiben. Sie beleidigten Niemand, rächten sich aber grausam, wenn sie beleidiget wurden. Wie sie sich verloren, weiß die Sage nicht anzugeben. Es ist interessant, sagt Dr. Staffler, daß derlei Erzählungen von wilden Menschen sich auch in andern Gegenden Tirols wiederholen. Man würde nicht übel thun, sie zu sammeln; mir ist sonst nur noch die Sage von jenen Riesen bekannt, welche auf Schloß Tirol gehaust. Da wir einmal an unheimlichen Dingen sind, so kann auch erwähnt werden, daß sich in Enneberg und zumeist in der Gemeinde Wengen ein Berggeist findet, welcher Orco genannt und nicht unbillig mit Rübezahl im Riesengebirge verglichen wird. Er ist bösartig und gefürchtet. Verschiedene Mähren von ihm sind bei Staffler nachzulesen. Ueberhaupt scheint das Sagenwesen hier noch in blühendem Zustand zu seyn.

Also von St. Cassian weiter schreitend, der Alpe Valparola zu, bewundern wir zuerst noch die schönen, gemauerten, zweistöckigen Höfe, die hier herum auf den Bergwiesen zerstreut stehen, und vertiefen uns dann immer mehr in die Alpengegend, die sich gegen den Fuß des Joches hinzieht. In einer Stunde sind wir bei den Trümmern der alten Hochöfen, die ehemals hier betrieben, aber schon vor langer Zeit aufgegeben worden sind, da man es für vortheilhafter [473] hielt, die Wälder abzutreiben. Demnach stehen jetzt nur noch geschwärzte Mauertrümmer einsam in dem lichten Föhrenhaine, und wo ehemals die Knechte früh und spät den Brand nährten mit geschäftiger Hand, da herrscht zur Zeit die tiefste, schweigsamste Waldeinsamkeit.

Nicht weit dahinter liegt eine Alm, wo mehrere Hirten aus dem Pusterthale ihre Sommerfrische halten. Die Hütten sind geringer Art, aus Balken kunstlos zusammengelegt. Einer der Sennen nahm mich gastlich auf, gab mir Milch und Käse und sträubte sich nach einem allmählich erlöschenden Herkommen eine Bezahlung anzunehmen. Glücklicherweise war er ein Tabakraucher, so daß ich ihm durch ein paar Cigarren meine Dankbarkeit bezeigen konnte.

Von dieser Niederlassung erhebt sich der Weg steiler aufwärts durch den Wald und dann über freie Wiesen auf das Joch, welches in einer Stunde zu erreichen ist. So leicht man auch hinauf kömmt, so ist es doch oben so jochartig als irgendwo.

Zu beiden Seiten Dolomitenwände, deren Fußgestelle mit Edelweiß bewachsen sind, und eine prächtige Aussicht. Rückwärts ins Thal der Abtei geht sie, wo die Gemeinde St. Cassian ihre schmucken Häuser über die lieblich grünen Wiesen ausgestreut hat, überragt vom Kreuzkofel, eingeschlossen von düstern Felsen, zwischen denen das Auge gleichwohl hinausfindet bis auf die Zillerthaler Schneeberge. Gegen Mittag aber breitet sich vor dem Blicke eine Dolomitenwirthschaft aus, wie sie kaum noch ärger zu finden. Wer sich hier noch vor dem letzten Schritte auf das Joch das freundliche Thalgelände von St. Cassian betrachtet, das trotz seiner wilden Umgebung so milde abgeglättet, bebaut, mit Häusern besetzt, mit seiner weißen Kirche geziert ist, um die sich die Höfe schaaren wie die Küchlein um die Henne, wer dann, das Auge voll angesogen mit dieser grünen Lieblichkeit, auf die Wasserscheide tritt und gegen Mittag schaut, der muß fast erstarren ob dieser schauerlichen Wildheit. Da ist über die ersten Flächen des Abhangs weg weit und breit kein Grün mehr zu sehen, aber überall bis in die fernste Ferne hechelmäßig [474] aufgeschossene, ragende, schroffe, senkrechte Zinken und Hörner, aus denen sich wieder andre, schwarze, ungethüme Stifte hervorschieben und sich kreuzschnabelartig über einander legen – alles anzusehen wie Masten, Planken und Latten aus dem Schiffbruch einer Welt. Von Wiesen und Feldern keine Andeutung, noch weniger von Häusern. Es vermehrt den feierlichen Ernst der Landschaft, daß sich etwas unter dem Joche auch noch die Aussicht auf ein Schneefeld einstellt, das zur Rechten aufzieht, weiß, schön und still.

Abwärts geht es zunächst durch dünnes Gehölz, das mit vielen großen und kleinen Felsstücken durchwirkt ist, dann aber eben und glatt über Wiesen, bis man zuletzt vor dem Schlosse Buchenstein steht. Dieß ist eine herrliche Burg, innerlich zwar verlassen und verfallen, aber äußerlich noch ganz in alter Würde. Sie steht neben dem Thalwege und ist auf einem vereinzelten schroffen Felsenblock seltsam hingemauert, so nämlich, daß sie gegen Norden eine schöne Fronte hat, während auf der Südseite das Gestein fast bis in die Mitte des Gebäudes hinaufreicht. Eine Ringmauer zieht sich um den Fuß desselben herum und der Zugang zu dem Hauptthor geht über einen tiefen Graben. Hat man die Burg betreten, so führt rechts eine Treppe zum Burgverließ, links die große Stiege ins Schloß. Zuerst kommt man an die Pforte der Capelle, die zwar halb verfallen ist, aber noch manches Ueberbleibsel alter Zier zu schauen gibt. Eine andere Treppe führt zu einer eisernen Thüre, hinter der eine Zugbrücke im Innern den Weg zur Wohnung des Schloßhauptmanns bildete, so daß sich ein hartnäckiger Befehlshaber noch in seinen Wohnzimmern vertheidigen konnte, wenn die Burg schon über war.

Die Herrschaft Buchenstein kam an das Bisthum Brixen im Jahre 1091. Die Bischöfe gaben sie dann verschiedenen Edeln zu Lehen und kamen erst im Jahre 1426 wieder in den unmittelbaren Besitz. Seit dieser Zeit bis zum Jahre 1803, wo das Hochstift säcularisirt wurde, zählt die Chronik in der Burg fünfundvierzig Schloßhauptleute, darunter Männer aus den vornehmsten Geschlechtern des Landes. So lange solche Insassen darin walteten, mag sie wohl sehr wohnlich eingerichtet [475] gewesen seyn. Auch die Bischöfe klopften oft in unruhigen Zeiten unerwartet an des Schlosses Pforte und überwetterten da, bis die Luft zu Brixen wieder heiter war. Seitdem aber der letzte Schloßhauptmann ausgezogen, hat man die Burg ihrer besten Geräthschaften und ihres Archivs beraubt, letzteres wie es scheint zerstört, und das Gemäuer der langsamen Vernichtung hingegeben. Bei den Eingebornen heißt es Castel d’Andraz, und es gehört jetzt der Familie Faber im nahegelegenen Cernadoi, welche das Gebäude sammt Bauerschaft unter der bayerischen Herrschaft um 18,000 fl. gekauft hat. Man versichert, sie hätte damit eine sehr gelungene Speculation gemacht, da vor ein paar Jahren 20,000 fl. allein aus verkauften Waldungen gelöst worden seyen. Es ist übrigens fast seltsam, daß die Burg, obgleich sie schon weit drinnen in Wälschland liegt, noch einen so guten deutschen Namen führt und diesen auch auf die Gegend übergetragen hat. Der Adel dieses abgelegenen, durch keinen Fahrweg erreichbaren Hochlandes scheint aber auch deutschen Ursprungs gewesen zu seyn. So wird im Jahr 1296 eine Domina Agnesa vidua Conradi de Corte de Livina longa cum filiis suis Meinle, Wilhalm et Conrad erwähnt und es erhellt aus den Taufnamen der Kinder, besonders aus jenem Meinle, der wohl dem Grafen Meinhard von Görz nachgetauft ist, daß in der Familie deutsch gesprochen wurde. Auch unter den Pfarrern waren in älteren Zeiten viele Deutsche.

Ehe nun das Dorf Andraz erreicht wird, ist es Pflicht den Leser aufmerksam zu machen, daß wir abermals in ein neues Sprachgebiet treten, und zwar ins Fodomische. Das kleine Landgericht Buchenstein wird nämlich von dreitausend Aelplern bewohnt, welche von ihren wälschen und krautwälschen Nachbarn in Fassa, Gröden, Enneberg und Ampezzo Fodomi genannt werden. Dr. Staffler behauptet nicht unwahrscheinlich, dieser Name erkläre sich aus Feud’uomini, und beziehe sich auf die Lehensverhältnisse, in welchen die Buchensteiner früher zu den Bischöfen von Brixen standen. Sie selbst nennen sich nicht mit diesem Namen, hören ihn auch nicht gerne von andern. Wenn sie weiter über die italienische Gränze gehen, [476] etwa nach Belluno oder Feltre, so müssen sie sich gerade so gut wie die Grödner und Enneberger Tedeschi nennen lassen; ein Schicksal, das auch jedes Trientiners wartet, der nach Verona kommt. Ihre Sprache bildet den Uebergang aus den ladinischen Dialekten in jene Mundarten, die man dem Italienischen zurechnet, wie z. B. den Dialekt von Fleims oder den von Belluno, und insofern steht sie in gleicher Linie mit dem Idiome von Ampezzo, das gegen Aufgang an der neuen Straße von Pusterthal nach Italien liegt.

Nach dieser Vorbereitung nähern wir uns dem Dorfe Andraz, über hügeliges, seltsam verdrehtes Land, aus dessen Feldern noch manches Felsstück aufragt, das ein Castel d’Andraz tragen könnte. Die Leute waren mit der Roggenernte beschäftigt, denn das Klima ist hier bei weitem nicht so rauh, wie enthalb des Joches in der Abtei. Das Dörfchen durchwandelnd betrachtete ich mit vielem Interesse, obgleich nur der Race wegen, die Mädchen, die an den Brunnen heute zahlreich wuschen und bemerkte darunter manches blondhaarige Köpfchen und einmal unter einer Hausthüre drei Stumpfnäschen beisammen, wie man sie nur in Deutschland zu sehen gewohnt ist. Die Wohnhäuser unterscheiden sich nicht merklich von den in deutschen Thälern üblichen und sind zum Theil von Stein, zum Theil von Holz.

Von Andraz geht der Weg hoch am Tobel hin, mit einer herrlichen Ansicht der Giuitta, eines ehrwürdigen Schrofens, der zerrissen und zerklüftet im Thale links emporsteigt, fast symmetrisch von beiden Seiten zur schöngestalteten Spitze hinaufziehend. Zu seinen Füßen liegt tief im hintersten Winkel des Thales der See von Alleghe, hellgrün hervorblitzend zwischen dunkeln Wäldern. Zur rechten Seite dagegen fängt ein Ferner an aufzutauchen und entfaltet sich bald in voller Pracht. Es ist die Marmolata, links von der Etsch der südlichste der tirolischen Gletscher. Darauf ist vor vierzig Jahren ein Geistlicher mit seinem Hündchen in eine Eisspalte gefallen und nicht wieder, weder todt noch lebendig, ans Tageslicht gekommen. Er liegt noch steif gefroren unten in der unterirdischen, eisigen, blauen Todtenkammer, und die verborgenen [477] Fernerbäche sausen noch um das erstorbene Haupt, das sie einst in den schrecklichen Tod einlullten.

Buchenstein, das Dorf, die Pieve di Livinalongo, wie die Eingebornen sagen, der Sitz des Landgerichts, liegt gebieterisch auf dem Vorsprunge eines Abhanges, gegenüber von hohen schön bewaldeten Bergen, links die Aussicht auf die Giuitta, rechts der Blick gegen Varda hin, das in lieblich grüner Schlucht liegt – mitten durch die Landschaft und gerade unter dem kleinen Dorfe vorbeiziehend eine schauerliche stundenlange Kluft, durch welche der Cordevole dahin strömt. Von ebenen Plätzen ist hier nichts zu sehen, überall steigende Felsen und schwarze Wälder. Nur die Halde um das Dorf her prangt mit Wiesen und Kornfeldern und verliert sich oben hinauf in steilen Waldhang, gegen unten in jähen Absturz zum Wildbache. In dieser Tiefe ist ein schöner Wasserfall. Die Kirche hat einen alten, mit romanischen Säulenfensterchen gezierten Thurm, welcher sieben Glocken trägt, die einen besonders schönen Klang erschallen lassen, und zwar deßwegen, weil die Weiber einst ihre Ringe von Gold und Silber in die Glockenspeise geworfen haben sollen. Das Dorf besteht aus einem Duzend Häusern, worunter drei Gasthöfe. Das besuchteste, am meisten herrenmaßige ist das des Herrn Vinazers, der ursprünglich aus Gröden eingewandert ist und die Gäste nach Kräften und sehr billig bedient. Der Wein, der hier getrunken wird, kommt von Bassano, ist von guter, starker Beschaffenheit und einer dunkeln lockenden Goldfarbe. Auf dem Platze steht ein großes, graues, alterthümliches Giebelhaus, das stattlichste des Dörfchens, mit mittelalterlichen Fenstergittern von oben bis unten; dieß ist der Ansitz der Sisti von Sisthofen. Man muß nämlich nicht glauben, daß Buchenstein, das abgelegenste Gerichtchen in ganz Tirol, nicht auch seine vornehmen Herren gehabt; denn da sind außer den Sisti von Sisthofen, den Grones von Gronsberg, den Herren von Varda und Soratroi, von Chizzeli auch die Herren von Piazza erwachsen, die jetzt Grafen von Platz heißen. Der Ort ist der steilen Lage wegen im Winter den Lahnen aufs gefährlichste ausgesetzt und daher soll er seinen Namen Livina longo, [478] den man als Lavina longa erklärt, empfangen haben. Oft ist die Verbindung auf Wochen hin abgeschnitten und man erzählt, der Actuar, der in einem nur etliche hundert Schritte entfernten Dörfchen wohnt, sey vor drei Jahren durch einen Lawinensturz dermaßen von seinem Hause abgeschnitten worden, daß er acht Tage lang nicht mehr zu seiner Familie kommen konnte. Im letzten Jahre haben die Zeitungen wieder Aehnliches berichtet.

Eine andere Merkwürdigkeit des abgelegenen Bergdörfchens ist, daß sich hier aus dem Mittelalter bis in die neuesten Zeiten eine Brüderschaft der Flagellanten erhalten hat. Die Verbrüderten haben sich wirklich, unbekümmert um den Lauf der Zeit, noch bis in dieses Jahrhundert herein gegeißelt. Erst vor etwa zwanzig Jahren hat diese fromme Uebung ein Pfarrherr eingestellt, dieweil sich Mißbräuche aufgethan und, mit Staffler zu reden, nicht immer fromme Geißelungen statt gefunden.

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Veröffentlicht von josefauer.com

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