Der Eisenbahnbau in der Gemeinde Gries am Brenner und seine Folgen

Verfasser: Franz Muigg 1875
(Aus der handschriftlichen Geschichte der Seelsorge Vinaders vom Kuraten F. M.)

I. Der Eisenbahnbau (im Jahre 1864–1867.)

1. Der Eisenbahnbau brachte bei den sehr hohen Preisen
der abgelösten Grundstücke sehr viel Geld hieher. Die
Gemeinde bekam ein großes Vermögen, und manche Bauern,
die hart hausten, erholten sich. Auch die Krämer und Metzger
machten gute Geschäfte; aber es war große Vorsicht vonnöthen;
denn mancher Arbeiter und Herr brannte durch ohne zu zahlen.
2. Die Zahl der Arbeiter war in der hiesigen Ge-
meinde auf der mehr als 1 1/2 Stunde langen und sehr schwie-
rigen Strecke über das meistens sehr steile Gebirg von Staff-
lach bis nahe zum Brenner-Bahnhof sehr groß; es waren
ihrer fortwährend mehrere Hunderte, einmal sogar bei 2000.
Für die Kranken wurde im Lueger Widum, der seit 1811, in
welchem Jahr der königl. bayerische Kurat L. von W. wegzog,
keinen Priester mehr beherbergte, ein Spital errichtet, und in
der dabei stehenden ehemaligen Kuratiekirche für 17 Seelen
mit Genehmigung des fürstb. Ordinariats das höchste Gut
aufbewahrt.
3. Was die Nationalität der Eisenbahnarbeiter
betrifft, so bestand die Mehrzahl derselben aus Italienern
(meistens aus Südtirol), welche sich das Lob verdienten, unter allen
Arbeitern im Ganzen die Religiösesten und Sittlichsten
zu sein. Mein Kooperator Dr. E. hielt ihnen zuerst in der
Lueger Kirche und dann in jener von Gries Predigten, zu
welchen sie fleißig erschienen.
Die Slovenen, deren Viele hier arbeiteten, waren ganz
verlassen; kein Priester verstand ihre Sprache, und sie verstan-
den weder deutsch noch italienisch; und sie hätten einer guten
Pastoration so sehr bedurft. Ich erinnere mich, wie ich am
26. April 1865 Abends am Brennersee eine schwer kranke
Person von 22 Jahren mit den Sterbsakramenten versehen
mußte; ich redete sie deutsch an und sie verstand kein Wert;
ich redete dann italienisch, und auch da verstand sie nichts.
Sie lallte slovenische Worte, deren Sinn, mir unbekannt war;
die Unglückliche war erst aus ihrer Heimat gekommen als Kon-
kubine eines wilden Slovenen, in der folgenden Nacht starb sie;
der Rabenvater aber warf sein Kind in den Schnee hinaus.
Die Czechen, deren Manche hier sich ihr Brod verdien-
ten, verstanden deutsch; obgleich man sie im Allgemeinen nicht
oben konnte, muß man doch sagen, daß sie minder sittenlos
waren als die Slovenen, von uns Priestern hielten sie sich
aber so ziemlich ferne.
Tiroler von deutscher Abkunft waren fast gar
keine auf der Bahn hier beschäftigt. Nur an Einen erinnere
ich mich sehr gut, welcher sein uneheliches Kind zur Taufe
brachte. Als ich ihm eine gutmeinende Ermahnung gab, über-
häufte er mich so sehr mit Grobheiten, daß ich mir keinen
deutsch-tirolischen Arbeiter mehr hier wünschte. Nie begegnete
mir ein Arbeiter einer anderen Nationalität auch nur von
Weitem so unanständig wie dieser Landsmann. Es ist eine
bekannte Thatsache, daß der Deutschtiroler, wenn er entartet,
bösartiger wird als verkommene Subjekte anderer
Nationalitäten.
4. Daß es in jenen Jahren allerlei seltsame Auftritte
gab, läßt sich denken. So kam in der Nacht vom 16. auf den
17. Oktober-1866 der Meßner von Gries hieher, den Koope-
rator zu einem Slovenen zu holen, welchen ein wüthender
Nonsberger mit seinem Anhang auf der Straße in Griesso-
eben tödtlich verwundet hatte; da trug nun der Kooperator
das Sanktissimum, und der Meßner nebst der Laterne eine ge-
ladene Flinte; denn die Arbeiter, hieß es, seien Allein höch-
ster Aufregung und man müsse vorsichtig sein.
5. Unsere Burschen, wie die jungen Weibspersonen hielten
sich übrigens von diesem fremden Volke ferne und entgingen
so vielen Verführungen. Von einer Dienstmagd muß ich
da noch erzählen: sie wurde gleich, im Anfange des Baues von
einem Eisenbahnarbeiter sollizitirt; aber die entschlossene Maid
ergriff ein Messer und wehrte sich tapfer, so daß der unverschämte
Angreifer mit blutendem Arme sich zurückzog; seitdem hatte sie Ruhe.

II. Die Folgen der Eisenbahn für die hiesige Gemeinde.

1. Folgen in sozialer und volkswirthschaftlicher Beziehung.

a. Früher zog das Nagele-Wirthshaus in Gries
und das Wirthshaus am Lueg sehr großen Gewinn
von den vielen Fuhrwerken, welche Winter und Sommer die
Brenner-Straße belebten. Die Fuhrleute fuhren nie vorbei,
ohne eine Erfrischung zu nehmen und ohne den Fürsetzern von
Matrei, Steinach etc., die sie hatten einspannen lassen, Getränke
zu zahlen. Oft blieben sie in einem dieser Gasthäuser über
Mittag oder über Nacht, und aßen das „Fuhrmannsmahlele“
und kauften für ihre Pferde Hafer und Heu. Ferner hielt man
in beiden Wirthshäusern mehrere Pferde, die mit oftmaliger
Vorspann auf den Brenner viel verdienten. All dieser Ge-
winn ist nun nicht mehr; denn kein Fuhrmann läßt sich mehr
sehen. Im Lueger Wirthshaus wird kein Pferd mehr gehal-
ten; und es ist bei seiner Abgelegenheit öde geworden. Der
Nagele-Wirth hat noch ein Paar Pferde zum eigenen Gebrauch;
und sein Erwerb ist ein leidlicher, besonders an Sonn-
Feiertagen wegen des zahlreichen Zuspruches hiesiger Leute;
dazu kommt, daß manche fremde Herren und Frauen, welche
im Sommer auf den Obernberg gehen wollen und deßwegen
am Grieser Bahnhof absteigen, hier ihre Einkehr nehmen; auch
Badgäste vom Brenner machen nun öfter Ausflüge hieher.
Das kleine Wirthshaus am Neuhäusel – am Aufsteigen
vom ehemaligen Schloß- und Zollgebäude Lueg, welches im
August 1809 in Flammen aufging, zum Brennersee – wo die
Fuhrleute so gern durch einen Trunk sich labten und die Für-
setzer so gern zukehrten, ist nun ganz eingegangen. Das Wirt-
lein ist ein Bäuerlein geworden. Andere kleine Wirthshäuser
hatten von den Fuhrwerken keinen bedeutenden Vorteil gehabt,
verloren also auch durch die Eisenbahn nicht viel.
b. Mehrere Bauern in der Nähe von Gries hielten ein
Vorspann-Ochsen, für welche sie das Jahr hindurch viel
Geldeinnahmen. Indessen wird der wirkliche Gewinn des
Fürsetzers und sofort der Schaden bei Aufhören desselben für
mehrere Ochsenbauern nicht gar groß gewesen sein. Die
großen Ochsen brauchten viel Futter, und ließen einen großen
Theil des für die Felder so nützlichen Düngers auf der Straße
gen; der Ochsenbauer ließ von dem Verdienten viel in den
Wirthshäusern; endlich wurde er oder sein Sohn oder ein
Knecht der Arbeit zu Haus entzogen und vielfältig ganz ent-
fremdet.
c. Auch die Schmiede verloren von ihrem Verdienste.
Die Folge war, daß von vier Schmieden, die vor acht Jahren
noch Arbeit hatten, zwei eingingen.
d. Die Lieferungen kommen jetzt viel billiger.
Das wissen die Wirthe und Handelsleute am Besten. Das
erfuhren wir auch bei der Restauration des hiesigen Kirchthur-
mes im vorigen Jahr. Für die vielen Zentner Portland-Ce-
ment und reinen Sand vom Sill-Kanal hätten wir, wenn sie
auf der Art von Innsbruck hereingeführt worden wären, viele
Gulden mehr ausgeben müssen, als so, wo sie auf der Bahn
kamen. – Andererseits wurden aber viele Lebensmittel, wie
Butter, Eier, Kalb- und Rindfleisch, Geflügel, Wildpret sehr
vertheuert. Die Ausfuhr derselben nach Innsbruck ist näm-
lich sehr stark geworden.
Wenn die Bauern während des Baues der Eisen-
bahn fürchteten, daß nach Eröffnung derselben und nach Besei-
tigung der Pferde und Fuhrwerke wenig Nachfrage nach dem
Hafer sein und der Preis desselben sehr sinken werde, so hat
sich diese Furcht als unbegründet erwiesen. Denn der
Hafer dieser Gegend, der bekanntlich von sehr guter Qualität
ist, wird jetzt noch mehr gesucht und theurer bezahlt als ehedem.
Schaden erlitten aber jene Bauern, welche Moosheu ha-
ben; früher erhielten sie dafür von den Wirthen schöne Sum-
men, jetzt aber findet sich dafür kein Käufer, und für das ei-
gene Vieh taugt es wenig, für das Verbessern desselben aber
fehlt es vielfältig am rechten Verständniß und guten Willen.
Andererseits haben jene Bauern, welche schöne Privat-
waldungen besitzen, seit dem Vorbeirauschen der Lokomotive an
diesen einen Schatz von hohem Werth, weil das Holz von
hier jetzt leicht und weit fortgeliefert werden kann, kommen ja
die schönen Lärchstämme von hier, wie mir im Herbste ein
Holzlieferant von Steinach erzählte, nach Venedig und
Genua, nach Rom und Alexandria und noch weiter.
Die Bauern, welche ihre Lärche nicht schon früher um Spott-
preise hergaben, machen jetzt glänzende Geschäfte. Leider
lassen sich dadurch Manche verlocken, ihre Wiesen des schönen
und nützlichen Holzschmuckes fast ganz zu berauben.
f. Die Tagwerker an der Straße, die ein kleines Güt-
lein oder gar keines haben und früher als Wegarbeiter an der
Straße ihren ausreichenden Verdienst hatten, verdienen jetzt
allerdings an der Landstraße, auf der stellenweise bald Gras
wachsen wird, nicht viel; aber sie haben – Winter und Som-
mer – desto mehr Arbeit auf der Bahn, wo sie auch im
Ganzen besser bezahlt werden, als auf der Landstraße vom
k. k. Aerar. Im Winter genügen manchmal alle Tagwerker,
die aufzutreiben sind, nicht; dies war z. B. im letzten Winter,
wo es so viel schneite und wehte, im hohen Grade der Fall;
da wurden öfter in der ganzen Gegend auch die Knechte und
Bauernsöhne zum Schneeschöpfen aufgeboten, und sie machten
sich sehr viel Geld.
Im sehr milden Spätwinter des vorigen Jahres (1874)
bot selbst das Eis vom Brenner- und Obernberger See vielen
Tagwerkern, Knechten und Bauernsöhnen einen Erwerbszweig.
Franz Steiner, Wirth in Matrei und zugleich Besitzer des
Lueger Hofes, ließ nämlich damals in den zwei genannten,
ihm gehörigen Seen sehr viele Centner Eis herausnehmen, auf
den Brenner Bahnhof führen, und dann nach Italien liefern.
g. Durch den Eisenbahnbau ist die Gemeinde der bis-
herigen Abgeschlossenheit entrückt und in regen Verkehr mit der
Welt getreten. Schon während des Baues sahen unsere Leute
allerlei neue Moden und das Wohlleben vieler Fremden und
hörten so Manches, was ihnen neu und ungewohnt war. Seit-
dem das Dampfroß vorbeibrauset, ist diese Einwirkung auf
unsere Leute eine fortdauernde. Früher war das Reisen
nach Innsbruck und andere, weiter entlegene Orte etwas
Seltenes. In Gries waren ein Paar Boten, welche wöchent-
lich nach Innsbruck fuhren. Wenn in Sterzing Markt war,
gingen einige Bauern dahin, auch andere Märkte besuchten sie
bisweilen. Außerdem gingen Wallfahrer öfters nach Absam,
Trens etc. und hie und da ließ sich ein Brautpaar an einem
dieser zwei Wallfahrtsorte trauen. Seitdem aber die Eisen-
bahn geht, ist das Reisen von da aus sehr häufig; es ist ja
sehr erleichtert; in kürzester Zeit, ohne Anstrengung und um be-
ziehungsweise billiges Geld – um ein Paar papierene Gul-
den kommt man nach Innsbruck und wieder zurück. Die be-
dauerliche Folge ist, daß die herkömmliche Einfachheit in der
Lebensweise und in den Sitten sich noch mehr verliert, als es
schon in den letzten Jahrzehnten der Fall war, und daß die
Leute an neue Bedürfnisse und an unnützen Aufwand sich mehr
und mehr gewöhnen. Der häufige Genuß des Kaffees ist von
der Straße nun auch auf die Berghöfe hinaufgedrungen und
der Verbrauch von weißem Kaufbrod (Weizen- und Roggen-
brod) so häufig geworden, daß nicht blos von Innsbruck vieles
hereingebracht wird, sondern auch in Gries eine eigene Bäckerei
nothwendig geworden ist, die recht gute Geschäfte macht. Das
Tabakrauchen wurde immer häufiger, so daß man schon Kna-
ben mit der Tabakspfeife im Munde sieht. In Bezug auf die
Kleidung setzte man den alten Spruch: „Selbst gewirkt und
selbst gemacht ist die schönste Kleidertracht“, immer mehr bei
Seite, und neue Moden, besonders bei dem weiblichen Ge-
schlechte nahmen immer mehr überhand. Verlockend war eine
gewisse äußere Nettigkeit der neuen Kleidungsstücke und dann
sehr erleichtert; in kürzester Zeit, ohne Anstrengung und um be-
die Wohlfeilheit derselben, wobei man nicht bedachte, daß die
Haltbarkeit fehle, und bald ein neues Kleid nothwendig sei.
Den Gastwirthen trägt man viel Geld zu und Zwischenhänd-
ler sorgen, daß der böse Branntwein auch in vielen Privat-
häusern nicht fehle.
Ein angesehener und sehr verständiger Mann der Ge-
meinde, mit welchem ich über diesen Gegenstand neulich sprach,
äußerte sich schließlich also: „Das Geld kommt aus der
Gemeinde immer mehr fort, ich bin sehr in Sorgen über das,
was geschehen wird, wenn schlechte Jahre eintreffen.“

2. Folgen des Eisenbahnbaues in religiös-sittlicher Beziehung.

a. Es ist Niemand, der vom religiös-sittlichen Standpunkt
aus den Fuhrleuten, Praxern und Fürsetzern, welche durch die
Lokomotive verdrängt wurden, nachweint. Sie waren größ-
tentheils ein laues Volk, das in der Regel an Sonn- und
Festtagen kaum zu einer ganzen Messe kam; sie hatten oft ein
loses Maul und liebten häufig den Trunk zu sehr. Ebenso
wenig kann man von diesem Standpunkte aus das Aufhören
der „Ochsenbauern“ bedauern. Ihre Söhne oder jungen Knechte
saßen am Abend um einen „Bauern“, wie sie sagten (d.i. ei-
nen Fuhrmann, dem sie am nächsten Morgen fürsetzen könnten,)
zu erwarten, im Wirthshaus beim Spiel und Trunk nicht sel-
ten länger, als es gut und nothwendig war, und Mancher
kam so dahin, daß er sich von einem gewöhnlichen Fürsetzer
wenig mehr unterschied.
b. Andererseits ist es eine bekannte Sache, daß das Ver-
schwinden der altväterlichen Einfachheit und das Einreißen des
Luxus (vgl. oben) für Religion und Sittlichkeit nicht förderlich
ist, sondern vielmehr das tiefere religiöse Leben schädigt und
der Sittlichkeit manche Gefahren bringt.
Auch das viele Reisen unserer Leute auf der Eisenbahn
hat für das religiös-sittliche Leben eine bedenkliche Seite. Sie
sehen und hören da Vieles, was nicht gut ist, insbesondere
kommen sie nicht selten mit Menschen in Beruhrung, welche
aufgeklärt sind im schlimmen Sinne des Wortes und über die
alttirolischen Anschaungen und Gebräuche sich lustig machen, ja
selbst über Religion und strenge Sittlichkeit spötteln. Jeder,
der Menschenkenntniß und Erfahrung hat, weiß nun, daß harm-
lose Landbewohner, wie die Leute in diesen Thälern und auf
diesen Bergen sind, an solchen schlimmen Reden, wenn sie die-
selben öfter hören, leicht Anstoß nehmen können. „Böse Reden
verderben gute Sitten,“ sagt der Apostel. Vorzüglich für jün-
gere Leute können solche Reisen schädlich werden und erfordern
daher von Seite der Eltern und Vorgesetzten große Vorsicht.
Endlich will die Bahnverwaltung nicht, daß das im
Dienste stehende Personale, wie Bahnchefs, Bahnwächter etc. an
Sonn- und Festtagen in die Messe geht. Auch läßt sie an
solchen Tagen durch unsere Tagwerker manchmal ohne eigent-
liche Nothwendigkeit arbeiten. In diesen Umständen liegen
Momente, welche die hiesige Bevölkerung nach und nach leicht
an eine freiere Ansicht über die Feier der Sonn- und Festtage
gewöhnen könnten und uns Geistliche auffordern, die diesfallsige
Christenpflicht öfters an’s Herz zu legen.

Quelle:
Neue Tiroler Stimmen 11. Mai 1875 – Teil 1
Neue Tiroler Stimmen 12. Mai 1875 – Teil 2
Neue Tiroler Stimmen 13. Mai 1875 – Teil 3

Autor

Veröffentlicht von josefauer.com

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