von Ludwig Steub
Dieser Weg ins Vintschgau, ins Etschland und nach Italien heißt im Lande gewöhnlich die obere Straße, während jene über den Brenner die untere genannt wird. Eine dritte fahrbare Verbindung zwischen dem Norden Tirols und seinem Süden gibt es nicht. Jene obere Straße aber geht an manchen gefeierten Stellen vorüber, die schon vielfach gezeichnet, gemalt und besungen worden sind, und windet sich allererst am Inn dahin, ist oft in den Felsen gesprengt und mühsam herausgehauen; die Gegend eng, waldig, diesseits steil abfallend, während man auf dem andern Ufer grüne Berghänge sieht, mit Dörfchen, Feldern, Obstbaumschöpfen und reichem Buschwerke. Oben auf dem Gebirge zur linken Hand liegt Fließ, ein großes Dorf, wenig sichtbar von unten, mit Ausnahme seiner beiden Kirchen, die keck an die Bergesbrüstung herausgestellt sind, zumal die eine, die mit zwei Thürmen prangend, wie eine Kathedrale auf stolzer Höhe leuchtet. Bei Fließ steht auch die ansehnliche Burg von Pideneck und eine halbe Stunde von da schließt sich die Landschaft und bildet ein Felsenthor, durch welches der grüne Inn hereinzieht. Hier starrt Wand gegen Wand, und da herüben kein Raum mehr ist, so setzt die Landstraße aufs andere Ufer. Der Uebergang heißt die Pontlatzer Brücke, ein Name, der zu den berühmten in der Geschichte der Landesvertheidigung von Tirol gehört. Die Gegend ist schauerlich und düster, eng und unheimlich. Es ist ein gut angelegter Schauplatz für blutige Thaten, und solche sind auch nicht ausgeblieben.
[251] So zum Beispiele als im Jahre 1703 der Kurfürst Maximilian Emanuel von Bayern zu Frankreich getreten war, zog er im Sommer nach Tirol, um sich mit dem Marschall von Vendome, der aus Italien kommen sollte, zu vereinigen. Von Innsbruck aus sandte er einen Heerhaufen von dreihundert Mann, zur Hälfte französische Dragoner, zur Hälfte bayerische Grenadiere, ins Oberinnthal. Ihr Anführer war der Marquis von Nouvion, der mit Botschaft an den französischen Befehlshaber in Wälschland beauftragt war und durch die Finstermünz nach dem Vintschgau ziehen sollte. Am ersten Julius brach dieser von Landeck auf, um gegen Prutz vorwärts zu dringen und kam auch unaufgehalten bis an die Pontlatzer Brücke. „Es hatte aber diesen Marsch, sagt eine zeitgenössische Relation, der Pfleger zu Laudeck (bei Prutz, nicht Landeck, wie gewöhnlich gedruckt wird), Herr Martin Andre Sterzinger, schon lassen auskundschaften, auch seine Unterthanen, wie nit weniger die Gerichte Pfunds und Naudersberg ermahnet, für den Kaiser und liebes Vaterland Gut und Blut aufzuopfern, welches dann alle einhellig versprochen und gehalten.“ So brachte er schnell gegen 600 Mann zusammen. Das erste was sie thaten, war, daß sie die Pontlatzer Brücke in der Stille abtrugen und an den Bergseiten Verstecke für die Schützen anlegten. Als nun der Marquis mit seiner Mannschaft in der Sommerfrühe in die Schlucht einritt, gewahrte er zu seinem Schrecken, daß kein Steig mehr über das reißende Wasser gehe. Nachdem er sofort anderthalb Büchsenschüsse vor der abgetragenen Brücke sich das Ding betrachtet und mit dem Fernrohr die aufgeworfenen Brustwehren und heimlichen Schützen ersehen hatte, rief er: Verrath und wendete sich zum Rückzug. Und wie er sich gewendet hatte, fiel ein Schuß zum Zeichen und nun regte sich plötzlich alles an den Halden und auf den Höhen, Felsentrümmer und abgehauene Bäume rasselten herunter und schlugen manchen Dragoner sammt dem Rosse in die Fluth, die Doppelhaken donnerten von der Brücke her darein, die Scharfschützen feuerten aus ihren Hinterhalten unaufhörlich unter die ausländischen Kriegsleute, deren Schüsse den unsichtbaren Feind nicht treffen konnten. Der Rückzug war [252] durch die herabgeschleuderten Blöcke erschwert, und so lag die Hälfte der Mannschaft nach kurzer Weile mit zerschmetterten Gliedern röchelnd an der Straße oder trieb leblos in den Wellen. Den andern vergingen in dem schrecklichen Krachen der rollenden Felsen und in dem gräulichen Morden, das die versteckten Feuerschlünde verübten, die Sinne; sie fielen jammernd auf die Kniee und baten mit aufgehobenen Händen um Pardon. Hernach bekannten sie, daß sie lieber vier oder fünf Feldschlachten durchgefochten hätten, als ein einzig solches Scharmützel, welches nichts anderem als dem jüngsten Tag zu vergleichen wäre.
Vierundzwanzig Mann, darunter die Anführer, waren indessen aus der donnernden, rauchenden, blutigen Schlucht glücklich herausgesprengt und über Landeck gen Zams geritten. Mittlerweile aber hatten die Landleute aus dieser Gegend die Zamserbrücke ebenso abgeworfen und den Ort mit Scharfschützen besetzt. Als nun der Marquis und der Oberstlieutenant Graf von Taufkirchen und andre Hauptleute mit verhängtem Zügel dahergeritten kamen, fanden sie auch hier keinen Ausweg, aber üblen Empfang aus verborgenen Büchsen und mußten sich ergeben. Von allen dreihundert Grenadieren und Dragonern, die am Tage vorher über die Zamser Brücke gezogen, kam keiner mehr hinüber. Die Tiroler hatten Einen Mann verloren.
Der Tag trug bittere Früchte. Es stand das ganze Oberland auf und schritt eiligst zum Angriff, nahm die Vesten und säuberte fast alles Land bis gegen Innsbruck von dem Feinde.*)[1]
Dieß ist die merkwürdigste Geschichte in dem Feldzuge von 1703, den die Tiroler noch heutzutage den bayerischen Rummel nennen.
Nicht viel anders ging es an der Pontlatzer Brücke im Jahre 1809. Als im August dieses Jahres die Franzosen über den Brenner nicht mehr ins südliche Tirol zu gelangen vermochten, [253] schickte der Herzog von Danzig den bayerischen Oberst Freiherrn von Burscheidt und den französischen Oberstlieutenant Vassereau ins Oberinnthal ab, um mit 1400 Mann den Durchbruch über Finstermünz zu versuchen und dem Sandwirth, der bei Sterzing stand, in den Rücken zu kommen. Sie zogen ohne Widerstand zu finden über die Pontlatzer Brücke und auf das Feld vor Prutz, welches die Tullenau heißt. Zu der Zeit – es war am 8 August Nachmittag – aber fiel ein Schuß und die Prutzer Sturmglocken ertönten; aus dem Walde herunter fing es zu krachen an und die Bayern rückten eilig gegen Prutz. Nun war aber hier die Brücke abgerissen und jenseits derselben stand ein wohlversteckter Haufe unerreichbarer Schützen, welche behende zu schießen begannen. Die Bayern suchten zuerst den Ladiser Berg zu stürmen, um über Serfaus weiter zu ziehen, konnten das aber nicht erreichen, hielten bis zum Abend, zündeten dann Entbruck an, das Prutz gegenüber auf der linken Seite des Inns liegt, um dadurch der Aufmerksamkeit der Landleute ein anderes Ziel zu geben, und zogen wieder auf die Pontlatzer Brücke, um zurückzukehren. Da war nun aber oben auf den Halden wieder wie vor hundert und sechs Jahren eine Felsenbatterie errichtet und wartete ihrer. Dießmal hatte man ihre Bedienung den Weibern übertragen. Der Vortrab des Zuges war schon über der Brücke und vielleicht hätten im Dunkel der Nacht alle die Rettung gefunden, wenn nicht der Hufschlag der Pferde und das Rollen der Geschütze den reisigen Haufen verrathen hätte. So aber brach plötzlich vom Gebirge zur Linken herunter schmetterndes Gewehrfeuer und dieß galt als Losung für die Weiber, die auf der andern Halde standen und die sofort die Felsentrümmer entrollen ließen. Nunmehr dieselbe grausige Scene wie im bayerischen Rummel, nur noch die Schauer der Nacht dazu. Ein kleiner Theil der Fußgänger war nach Landeck entkommen, die andern hatten keinen Ausweg als wieder zurück in das Blachfeld der Tullenau. Es waren aber unterdessen fünf neue Compagnien Scharfschützen aus dem Vintschgau zugezogen, und so umstellten die Tiroler weit und breit alle Höhen und schossen als der Morgen anbrach mit immer treffenden Kugeln unter die Bayern [254] so daß sich diese, um zehn Uhr des Vormittags, siebenhundert Mann stark ergeben mußten. Die beiden Anführer waren bei dem kleinen Haufen, der über Landeck unter scharfem Kampfe davonzog. Nach Staffler wären die Gefangenen ohne mindeste Beleidigung abgeführt und mit Speise und Trank gelabt worden; nach Bartholdy ließ man ihnen das Nöthigste bis die Vintschgauer dazwischen traten und sie völlig ausplünderten. Solches Benehmen hat die Vintschgauer in diesem Kriegsjahre öfter ausgezeichnet; sie wurden auch damals im Volksliede durch folgende Reime dafür gezüchtigt:
Und wie jetzt die Bayern das Fahnl hab’n g’schwungen
Sind die Vintschgauer kommen ins Lager gesprungen;
Sie haben all’s ausg’raubt; es habt’s schon g’hört,
Zum Schießen ist keiner kein Heller nit werth.
Auch diese Begebenheit hatte große Folgen. Der Herzog von Danzig hätte das Land vielleicht nicht räumen müssen, wenn dem Haufen der Zug gelungen wäre.
Es war dazumal heller Sonnenschein als ich über die Pontlatzer Brücke pilgerte. Da war’s eine wilde Berglandschaft, kühn und groß gezeichnet. Schauerlicher mag es in der Nacht seyn, wenn weiße Wolken über den Mond hinjagen und sein wechselnder Schein auf die Schrofen, in das halblaut strömende Gewässer und auf den fahlen Weg fällt, wenn die bleichen Köpfe der Felsenwände aus dem schwarzen Schatten herausstarren. Da lagen in den wilden Tagen jener Jahre die röchelnden Sterbenden, die aus der bayerischen Ebene hereingeführt worden in die Schrecken des Hochgebirges, um die armen Bauern von Tirol zu bekriegen – da möchte einer leicht die Geister der Erschlagenen ansichtig werden. Im leisen Saüseln der Gräser möchte er ihr Winseln hören und im stolzen Brausen der Wälder den höhnenden Siegesruf der Tiroler: da könnten einem ossianische Bilder vor die Seele treten, auf der einsamen Brücke von Pontlatz.
Eilen wir hinaus in die Tullenau, ins freundliche Korngefilde von Prutz. Noch ist’s eine gute halbe Stunde bis ins Dorf; aber sein Kirchturm und seine großen Dächer winken schon deutlich herüber. Die Landschaft zeigt die ewige Pracht [255] des obern Innthales, riesige Berge, hier weit oben noch mit einsamen Weilern besetzt, darüber mit Schnee bekränzt. Rechts steht auf ragendem Felsenkamm sehr trotzig und herausfordernd die Burg Laudeck, früher der Sitz der landesfürstlichen Pfleger, darnach ausgebrannt, jetzt verödet und verlassen – gelbbraunes Gemäuer mit starken Zinnen. Daneben liegt das Dorf Ladis und noch eine ziemliche Höhe über diesem zeigt sich die weiße Stirnseite des neuerbauten Badehauses von Obladis, das wir auch erklettern werden.
Ehe man noch die Prutzerbrücke erreicht, steht zur rechten eine Schrofenwand an der Straße, aus der eine Quelle hervorquillt. Es war um Mittag als ich dahinkam, der Tag sehr heiß, kein Wölkchen am Himmel. Die Felsenmauer gab etwas Schatten und in seine Kühle hatten sich mehrere Landleute zurückgezogen, um auszurasten. Ein ärmlicher Knabe ging mit einem Glase unter ihnen herum und gab ihnen zu trinken, wofür er je nach Umständen einige Pfennige oder einen Kreuzer bekam. Das Wasser aber, wenn man’s versucht, ist ein angenehmer, kühlender Säuerling, sicherlich einer und derselben Quelle mit dem, der den Ruf des Bades zu Obladis begründet. Ich hatte meine stille Freude an dem prickelnden Wässerlein, das mir den Durst so liebreich löschte. Nicht gar so eingenommen dafür schien ein andrer Wanderer, welcher des Weges kam, ein ältlicher Landmann, der das Glas kopfschüttelnd zurückgab und seinen Stab weiter setzend laut vor sich hinseufzte: Ach hätt’ ich doch an deiner Statt eine gute Halbe Wein! Ich ließ mich aber nicht irre machen, sondern trank das Glas noch öfter aus und behielt den Geschmack so fest im Sinne, daß ich Abends als ich den Brunnen von Obladis verkostete, allerdings recht deutlich spüren konnte, wie viel stärker und trefflicher dieser sey als jener an der Straße, der durch den langen Gang von der Höhe herab an seiner ursprünglichen Tugend viel verloren hat. Das soll aber Niemand hindern, auch diesem, der da so bequem am Wege sprudelt, seine Ehre zu lassen. Der Ladiser Sauerbrunnen wird indessen unter dem Namen Prutzerwasser bis gegen Innsbruck hinab verführt und ist im Oberinnthale fast in allen Wirthshäusern zu haben. Man [256] schlägt den jährlichen Verbrauch auf 20,000 Flaschen an. Mit Wein und Zucker vermischt gibt er dasselbe kühlende wohlschmeckende Getränk, wie es die Pilger am Rheine mit Selterserwasser bereiten. Der Sauerbrunnen von Rabbi im wälschtirolischen Sulzthal thut’s ihm freilich an Stärke und Heilkraft noch zuvor, ist indessen fast allenthalben noch einmal so theuer.
Das Dorf Prutz hat ein sehr anständiges Aussehen, im übrigen aber keine Denkwürdigkeiten. Wer daher von der Pontlatzerbrücke herkömmt und nicht aus besondern Gründen etwas darin sucht in Prutz gewesen zu seyn, der mag gleich von der Tullenau zur rechten Hand über die Wiesen hin nach Ladis hinaufgehen, leicht und bequem, während der andere Steig von Prutz aus, wenigstens der kürzeste, ziemlich steil in die Höhe strebt. Auf diesem jähen Weg wird der Wanderer gleichwohl oft und gerne stille stehen, um die liebliche Aussicht auf die Prutzer Flur und die andere, mittelalterliche auf die Ruinen des mächtigen Schlosses zu genießen. Letzterem kommt man nun immer näher und es baut sich immer großartiger empor auf seiner nackten Klippe und schaut immer drohender herunter, bis man ihm zuletzt den Wind abgewinnt und die verlassene Veste von hinten sieht. Von dieser Seite aber sind die Wände eingestürzt und auf dem verwilderten Burghofe liegen die Mauersteine zerstreut umher. Da hat denn auch das Castell das Trutzige seines Aussehens fast völlig eingebüßt.
Auf gleicher Berghöhe nicht weit von dem Gemäuer liegt unter Obstbäumen das Dorf Ladis an einem stillen Teiche. In diesem Dorfe entspringt der Erde eine gute Schwefelquelle und das Wirthshaus ist deßwegen als Badeanstalt eingerichtet, schlecht und recht, nach der Art des Landes. Der Aufwand, um den Gästen die Langeweile zu vertreiben, ist sehr gering und daher fast zu vermuthen, sie haben keine. Als letztes Auskunftsmittel mag allenfalls eine Anstalt gelten, die hier, wie auch allenthalben in den andern Bädern vorkömmt. Es ist ein grüner Tisch auf allen Seiten mit spannehohen Wänden eingefaßt und im Innern wieder durch derlei Getäfel in verschiedene Gemächer abgetheilt, welche alle durch kleine Pförtchen wieder miteinander in Verbindung stehen. In diese Gehege [257] werden als stumme Besatzung ein Duzend Kegel gestellt, in das große Blachfeld der Mitte das Hauptgeschwader, etwa vier oder fünf, in die Nebencabinete je einer. Diese friedliche Mannschaft hat aber einen wilden Feind, einen schnurrenden Kobold, so etwas was man in Bayern schlechtweg einen Schnurrer, anderswo Kreisel nennt. Der Unhold wird nun von der Hinterwand abgelassen und fährt schwirrend in die Tafel, schlägt, je nachdem der Angriff gelingt, das Centrum nieder, stürzt siegesstolz durch die Einlaßpförtchen in die stillen Seitenzimmer, pickt auch da die ruhigen Bürger an, die an gar nichts denken, und wirft sie zu Boden, schießt wieder heraus und wo anders hinein, immer ganz aufrecht und mit einem fast lächerlichen Pathos, verbreitet so überall Schrecken und Mord, und singt immer sein wildes Lied dazu, bis er endlich kampfesmatt auf seinen kahlen Scheitel fällt, den einzigen Fuß drohend gegen Himmel streckt und auch so noch in summendem Wirbel sich schnurrend herumwälzt. Da trifft denn oft der Grimm des Sterbenden gar Manchen, den der Zorn des Lebenden verschont hatte. Zuletzt aber wenn der Held ausgewüthet, packt ihn ein anderer Badegast, um ihn zu neuem Leben zu erwecken. Es ist dieß Spiel, wenn’s nicht zu lange dauert, eine recht angenehme Unterhaltung, unschädlich für Kopf und Herz, dem Körper aber durch Stärkung des Armes eher noch förderlich. Drum hat auch dieser grüne Schnurrtisch wohl manches voraus vor den grünen Tischen in andern Bädern, und es ist nur zu beklagen, daß er letztere nicht schon längst ersetzt hat.
Die Badeleute in Ladis scheinen ebenso mild, so freundlich und so bereitwillig zu seyn, als die Wirthsleute in den übrigen Curorten des Landes. Daß der Aufenthalt nicht theuer zu stehen komme, konnte man aus der Badeliste oder dem Fremdenbuche entnehmen, wo sich neben vielen, denen man ihrem Stande nach ein gutes Auskommen wohl zutrauen konnte, auch manche fanden, die gewiß keinen Ueberfluß um sich verbreitet haben. Es waren in dieser Saison bisher 107 Gäste zugezogen und darunter erschienen nicht allein Pfarrer, Cooperatoren, Wirthinnen, Privaten, auch etliche gleichbedeutende „Brifate“, Handwerker, Bauern, sondern sogar manches dienende Menschenbild, das [258] sich ohne Stolz und Hochmuth als „Hausknecht“ oder „Magd“ eingetragen hatte. Ein bayerischer Hauptmann aus Lindau war dieß Jahr auch hierhergekommen und genoß als der angesehenste Badegast hoher Ehren. In der Sparte der Bemerkungen stand unzähligemale: sehr zufrieden, und es ist glaubwürdig, daß dieß bei allen der unverfälschte Ausdruck der Gesinnung war.
Von Ladis geht es nun weiter in die Höhe. Man erreicht bald wohlgehaltene Fußpfade, die einen Fichtenwald durchschneiden und demselben das Ansehen eines Parks verleihen. Nach einer halben Stunde ist man in Obladis, 3780 Pariser Fuß über dem Meere.
Hier ist also der einzige Sauerbrunnen in Deutschtirol, und zwar ein sehr kräftiger und heilsamer. Das Wasser soll bereits im dreizehnten Jahrhundert von einem Hirtenknaben Nikolaus Schäderle entdeckt worden seyn, „indem er wiederholt eine auffallende und zudringliche Vorliebe seiner Heerde zu dieser Quelle bemerkte.“ Kaiser Max ließ den Brunnen untersuchen und seine Doctoren brachten heraus, daß er eines der besten Curwasser in ganz Deutschland sey. Davon erwuchs ihm ein großer Ruhm und zahlreicher Besuch. Auch der fürstlichen Grafschaft Tirol Landreim vom Jahre 1558 thut der Quelle in allen Ehren Erwähnung, singend:
Vndr Trasp vnd vmb Laudegg her fliessn
Edl Sawrprünn, die dem menschn erspriessn,
Machen zu Essn angnämen Lust
Geben guet Attem, ringern die Prust.*)[2]
Später fiel die Anstalt mittellosen Pächtern in die Hände, kam sehr herunter und fast in gänzlichen Verfall, was auch nicht zu verwundern war, da man in diesen Zeiten hier nur drei schlechte hölzerne Hütten mit sieben unheizbaren Kammern fand. Im Jahre 1833 that sich endlich eine Actiengesellschaft zusammen, brachte die Quelle und was an schlechtem Holzwerk dabeistand, an sich und errichtete das jetzige Gebäude, das Staffler einen herrlichen Bau nennt.
[259] Und in der That, wer von der Pontlatzer Brücke gegen Prutz zufährt, der sieht, wie schon bemerkt, ein schönes weißes Haus mit doppelter Fensterreihe und Capellenthürmchen aus dem Walde herunter blinken, ein Gebäude wie ein Lustschloß, und wenn er nachfragt was das Haus bedeute, so wird ihm jeder kundige Gefährte erklären, dieß sey das neuerbaute Bad von Obladis, das schönste in Deutschtirol, wo es sehr vornehm und fein zu leben und sogar etwas theuer zu zehren sey. Er braucht sich aber durch den Ruf der Vornehmheit und Theurung weder abschrecken, noch anlocken zu lassen, da beides nur im Verhältniß und im Vergleich zu andern Bädern hiesigen Landes gemeint seyn kann. Von luxuriöser Verfeinerung ist auch in Obladis wenig zu spüren und man kann der Anstalt glücklicherweise nicht mehr nachrühmen als bürgerliche Behaglichkeit. Auf Speise und Trank halten die oft vorher schon ganz gesunden Tiroler Badegäste erstaunlich viel und fast mehr als man wohl anderswo für gut erachten würde. Deßwegen gibt’s denn sehr reichliche Mahlzeiten und der frugale Abendimbiß, den wir an diesem Tage einnahmen, war so füllsam ausgestattet, daß er auch als Mittagsmahl für den alpenhaftesten Hunger gerecht gewesen wäre. Indessen ist der Preis dafür immerhin nur mäßig und noch billiger sind die Ansätze für Zimmer und Bäder. Ob dieses Obladis bei all dem ein sehr angenehmer Aufenthalt, sollen andre entscheiden. Die beträchtliche Höhe und die Nähe der Oetzthaler Ferner verursachen, daß die Morgen- und Abendstunden empfindlich kalt werden, und die Lage an dem waldigen steilen Abhange bringt etwas Unbequemes in die Spaziergänge. Was dafür allerdings entschädigen kann, ist außer der reinen Bergluft die herrliche Aussicht.
Also gehen wir ans Fenster und betrachten uns diese. Die Burg Laudeck, die auf ihrem Grate von Prutz aus gesehen so schwindelnd emporragt, die liegt jetzt tief zu Füßen, so tief daß einem kaum mehr einfällt, wie viel es Schweiß gekostet bis man sie erreicht; neben ihr das Dorf Ladis und der blaue See. Noch tiefer im Thale erscheinen die Kirche und die weißen Häuser von Prutz, die der grüne Inn bespült [260] und die gelbe Landstraße durchzieht. Ueber diesem Dorfe öffnet sich der weite Eingang ins heerdenreiche Kaunserthal, das hinten in eine Fernerwüste ausgeht und unter seinen Bergdörfchen auch eines zählt, wo Franz Zauner geboren wurde, der Bildner jener Reiterstatue Kaiser Josephs II, welche zu Wien im Burghofe steht, später auch nach seinem Geburtsort als Edler von Valpatann geadelt. Durch den Riß zieht in breiter Windung der griesreiche verheerende Faggenbach heraus und auf einer Seite steht eine jähe Wand, auf der andern eine lange, hohe Halde, ganz bunt, braun, grün, gelb von Brachäckern, Wiesen und wallenden Kornfeldern. Auch viele Obstbäume mengen sich darunter und aus solchen sticht der rothe Kirchturm von Kauns und das graue Gemäuer des Schlosses Berneck hervor, das einst Herrn Hansens von Müllinen Besitzthum war, der seinen Freund und Herzog Friedel da schützend beherbergte, in denselben schwierigen Zeitläuften, als er auch beim Rofner Bauer und auf dem Finailhof eine Freistätte suchen mußte. Weit drinnen im Thale prangt anspruchsvoll das große Gotteshaus von Kaltenbrunn, ein hochgefeierter Wallfahrtsort zu Ehren Unsrer Lieben Frau, der kampfgerüsteten Landesvertheidigerin, die in dem Tirolerkriege den Söhnen der Berge viel Tapferkeit einhauchte, wie das Lied erzählt, wo es heißt: Und selgesmal zu Landeck hats a sakkrisch geschnellt; Unsre Frau von Kaltenbrunn hat’s so haben gewellt. *)[3]
[261] Daß sie es so haben gewellt, ging insbesondre daraus hervor, daß sie Anno Neune, während die Bayern den Ladiserberg stürmten, hoch über diesem in himmlischer Glorie sichtbar geworden ist, um den frommen Tirolern beizustehen.
Weiter hinauf auf den obern grünen Bergebenen zeigen sich viele Höfe und kleine Dorfschaften auf einsamen Fluren und darunter auch zur Rechten die alte jetzt verfallene Einsiedelei im Wiesele und zur Linken gar leicht zu erschauen und freundlich winkend die Einöde von Purschlin, am Fuße des Venets, wo man vorbeigeht, wenn man von Prutz über die Berge nach Imst steigt, auf einem reizenden Pfade voll prächtiger Einsichten in die Alpenschönheit. Den ganzen Umfang behüten aber ungeheure Gebirge, vor allen die hochaufragenden Marken des Kaunserthales, die sich immer mächtiger hineinziehen gegen die unermeßliche Wildniß des Oetzthals, auch schon weite Schneefelder tragen und da und dort in eisigen Kuppen aufstarren. Jetzt fingen sie rosenroth zu schimmern an und strahlten in ihrem Prunkgewande noch lange, als die Sonne untergegangen und die Dörfer der Niederung schon in der Dämmerung kaum mehr erspähbar verschwommen waren. Die Heerdenglocken klangen aber noch wohllautend hinein in die Abendstille.
Jetzt ist’s auch Zeit das Fenster zuzuschließen, denn es schauert ganz kalt herein. Das Abendmahl wird im großen Cursaale aufgetragen und einer von den geistlichen Herren verrichtet das Gebet. Die Sommerzeit war dahin, die Saison wegen des vielen Regens ohnedem schlecht gewesen, und so fanden sich nur noch ein Duzend Badegäste – mehrere Priester, ein paar angesehene Herren aus den Städten und ein wohlgenährter Bauer aus dem Vintschgau, ein gar manierlicher Mann, der trotz seiner rothen Weste und der grünen Hosenträger in das Gespräch der Herren sehr vernünftige Bemerkungen einflocht. Es wurde von der trefflichen Einrichtung [262] des Bades gesprochen, der heitern Räumlichkeiten und auch der Hauscapelle in Ehren gedacht. Dabei kam ferner zur Sprache, daß im Jahre 1825 ein lustwandelnder Curgast unweit des Sauerbrunnens auch eine sehr heilsame Schwefelquelle entdeckt habe und daß überdieß eine Tufquelle in der Nähe sey, welche die hineingelegten Gegenstände in kurzer Zeit versteinere. Alle diese Wässer sammt der süßen Trinkquelle entspringen in einem Umfange von nicht mehr als 125 Quadratklaftern. *)[4]
Am andern Morgen in kühler Frühe, ehe noch die Sonne über die Schneeberge heraufgekommen, ging ich von Obladis über frische Wiesen hinweg dem Dorfe Fiß zu. Der Weg führt fast in gleicher Höhe fort, auf einer Hochebene, die sich zur rechten Hand an den Gebirgszug lehnt, der enthalb in das Patznaun niedergeht. All die Nachbarschaft glänzte im Morgenthau, die schneeigen Berge von Kauns ragten scharf in den goldenen Schein der aufgehenden Sonne und unten tief im Thale lag ein dünner blauer Nebel, der die Dörfer halb durchsichtig verhüllte.
Das Dorf Fiß liegt in einem Bergspalt, den ein Wildbach gerissen, einsam, ungesehen von denen, die unten an der Straße hinziehen. Es besteht aus etlichen sechzig Gebäuden, zum größten Theile unscheinbaren Hütten. Einzelne gute, fast überraschend mächtige Häuser stehen dazwischen. Sie sollen von ehemals wohlhabenden Leuten kommen, die sich durch Handel mit dem trefflichen Vieh, das hier oben auf dem Mittelgebirge gezogen wird, ein Vermögen erworben hatten.
Eine kleine halbe Stunde von Fiß, noch auf derselben grünen Hochebene, liegt ein anderes Dorf, Serfaus mit Namen. Die Pfarre dieses geräuschlosen Ortes ist ein Heiligthum der Gegend, denn sie war die erste darin und Jahrhunderte lang weit und breit die einzige. Selbst später noch gehörten nicht allein Fiß und Ladis, sondern auch die Leute vom [263] See im Patznaun in ihren Sprengel. Es fehlt auch nicht an Alterthümern, und der freundliche Pfarrherr wies mir Alles und Jedes, was zu sehen ist. Am Rande des Kirchhofes liegt einmal die alte Kirche, jetzt durch Aufwachsen der Leichenhügel tief im Boden stehend. Auf dem runden Chorbogen war früher eine uralte Jahreszahl zu gewahren, die man auf 804 deutete; die Serfauser haben sie aber zur Hebung aller Zweifel übertüncht und ein sehr sichtbares und keiner Mißdeutung fähiges 804 darauf gemalt. Auf einer Tafel oberhalb der Kirchthüre, welche die Auffindung eines Gnadenbildes vorstellt, ist indessen sogar die Jahreszahl 422 zu lesen, die begreiflicherweise noch mehrerer Bedenklichkeit unterliegt. Auf dem Hochaltar ist ein altes Marienbild, zu dem vor Zeiten gewallfahrtet wurde. Auch der Taufstein ist nicht zu übersehen; er führt die Umschrift: Hans in Walt anno Domini 1404. Die andere, neuere Kirche ist 1516 erbaut worden. Ein schöner gothischer Glockenthurm aus älterer Zeit steht frei dabei. Im Erdgeschosse des Pfarrhauses selbst ist ein kellerartiger Raum, der im grauen Alterthum auch eine Kirche gewesen seyn soll, lange vor den beiden die im Friedhofe stehen. Der Herr Pfarrer führte mich auch dahinein. Das Gewölbe ist finster und man hat Noth die Malereien wahrzunehmen, welche an einer der Wände noch sich erhalten haben und für uralt erachtet werden. Es wurde ein Licht gebracht und nun traten sie besser hervor, zwei oder drei halb verblichene Häupter und ober denselben etwas deutlicher eine Verzierung von Fruchtschnüren und Engelsköpfen, die aber gewiß nicht im grauen Alterthum, sondern in der Zeit der Renaissance gemalt worden sind.
Bei Serfaus geht die schöne Hochebene, welche die drei genannten Dörfer beleben, wieder zu Ende, und es ist an der Zeit sich dem Thale zuzuwenden. Der Fußweg führt zuerst an einer rothen lockern Sandwand hin und ist etwas bedenklich, wird aber weiter unten bequem und gefahrlos. Da steht auch das Kirchlein St. Georgen an dem Steig, ein alterthümliches Gotteshaus, in dessen Inneres aber, da die Thüre verschlossen war, nur durch ein vergilbtes Fenster geschaut werden konnte. Es kam mir vor als sey viel altes gothisches Schnitzwerk [264] darinnen. Zuletzt läuft der Fußweg mit dem Sträßchen zusammen, das auf weitem Umwege vom Thale nach Serfaus geht, und ehe dieses in die Hauptstraße einfällt, zeigen sich einige Mauerreste, ehedem wahrscheinlich bestimmt, um in stürmischen Zeiten dem Feinde den Aufgang in die Hochebene zu verwehren.
Unweit von der Stelle, wo der Serfauser Bergweg in die Heerstraße mündet, steht das Tschuppacher Wirthshaus, für mich damals sehr gut gelegen, um den Stellwagen abzuwarten. Dieser kam auch bald heran und nahm mich bereitwillig auf in seine Räume, die dießmal fast leer waren. Und also wieder mit dem Stellwagen vorwärts, trotz aller guten Vorsätze, die zu andern Zeiten verschiedenemale gefaßt waren und alle darauf hinausliefen, nie mehr im Stellwagen zu fahren. Wer nicht ins Cabriolet zu sitzen kommt, der rollt in der That mit dem Gefährte durch das Land und sieht höchstens die eine Seite der Landschaft und auch diese nur bis zur halben Berghöhe, und auch zur halben Berghöhe nur, wenn er sich den Hals ganz verrenken will. Abgesehen davon läßt sich allerdings manches Gute von diesen Fahrzeugen sagen. Die meisten sind geräumig, haben wohl gepolsterte Sitze, machen des Tages weite Strecken und fordern für die Poststation nicht mehr als 24 Kreuzer. Die Gesellschaft besteht aus Stellvertretern aller Stände des Landes; man findet Grafen und Herren, Weltpriester und Ordensleute, Benedictiner, Franciscaner, Capuciner, Bürger aus den Städten, Studenten, Bauern und ihr Gesinde, Frauen und Mädchen. Es ist die Wahrheit zu sagen ein Unglück heitere Gefährten zu treffen, denn dann geht gewöhnlich auch noch die halbe Berghöhe der einen Seite verloren, über deren beschränkte Erreichbarkeit wir oben gesprochen. Man verplaudert sich, und wenn man dann wieder in stummen Zwischenräumen auf die Landkarte blickt und nach irgend einem alten Rittersitze oder nach einem Wasserfalle oder nach einer andern Denkwürdigkeit sich erkundigt, so erwiedert die Gesellschaft mit barmherzigem Achselzucken, daß wir da schon lange verbeigefahren sind. Dießmal fuhr ein englisches Ehepaar mit, ein Stabsofficier, der in Indien gedient hatte, [265] mit Gattin, zwei Pilgrime, die sich durch wunderbare Sparsamkeit auszeichneten. Sie wollten in den Wirthshäusern nie etwas nehmen was sie nicht angeschafft, und wenn die wohlmeinende Kellnerin nach dem Mahle noch Kirschkuchen, Schweizerkäse oder andern Nachtisch brachte, so pflegten sie vom Stuhle aufzufahren, beide Hände abwehrend vorzustrecken und mit durchdringender Stimme No! zu rufen. Wenn der Gatte Kaffee trank, so sammelte die Gattin die übergebliebenen Zuckerstückchen, und bei der zweiten oder dritten Einkehr, wenn die Spardüte wieder voll war, ließen sie zum Kaffee sich keinen Zucker mehr geben, sondern zogen ihren eigenen Vorrath heraus, um ihn weise zu benützen. Derlei Listen waren den Wirthsleuten noch nie vorgekommen, und es gab manches ärgerliche Kopfschütteln.
Nun fuhren wir also in einer engen Schlucht aufwärts nach Pfunds, einem Dorfe, welches gegen vierzehnhundert Menschen zählt, die ehemals sehr schöne Privilegien genossen zum Lohne für bewiesene Treue, auch wohl zur Aufmunterung an solcher festzuhalten, woran bei der Nähe des lange Zeit feindlichen Engadeins den Landesfürsten früher viel gelegen seyn mußte. Erzherzog Sigmund überließ ihnen was sie an Weggeld einhoben, Kaiser Leopold befreite sie 1705 von aller Zollabgabe, die sie ehedem für ihr Vieh an die benachbarten Zollstätten zu entrichten hatten, dieweil sie „bei jüngst vorgewester Churbayerisch-französischer Invasion Ihre allerunterthänigste Devotion mit Hindansetzung aller Leib- und Lebensgefahr sonderbahr erwiesen.“ Der Theil des Dorfes, welcher an der Straße liegt, heißt Stuben, und darin findet sich eine alte Nebenkirche, Unsrer Lieben Frauen geweiht, mit einem sehr schönen gothischen Altar, den der kunstliebende Wanderer mit Freuden betrachten wird.
Hinter Pfunds, wo die Gegend offen und fruchtbar ist, ziehen sich die Bergwände wieder aneinander und das Thal wird abermals zur engen Schlucht. Nicht weit vom Passe Finstermünz bricht rechter Hand der Schalklbach aus ungethümer Felsenklause, hier deßwegen zu erwähnen, weil man seinem Brausen nachgehend in zwei Stunden ein abgelegenes [266] Hochthälchen erreicht, das Samnaun heißt und von romanisch sprechenden Bündnern bewohnt wird. Ehe man die Fluren der Samnauner betritt, kommt man aber noch durch ein tirolisches Dorf, Spiß mit Namen, das am selbigen Bache, eine halbe Stunde von Compatsch, dem Hauptorte der Samnauner, liegt, übrigens noch dem deutschen Sprachgebiete angehört. Man kann auf diesem Wege etwa in einem Tage von Finstermünz nach Ischgl im Paznaun gehen, der Weg führt aber über hohe Jöcher. Die junge Frau, die vorgestern in besagtem Ischgl beim Wälschen zu Abend gegessen und dann auf dem Friedhofe die Schädel der seligen Paznauner mit uns betrachtet hatte, war unterdessen, von Niemand sonst begleitet als dem Knaben des Wirthes zu Ischgl, diesen Weg gegangen, aber fast erlegen und halbtodt an die Straße gekommen.
Darnach gelangt man alsbald in die verdientermaßen so oft beschriebene und gezeichnete Schlucht von Finstermünz. Hier geht eine hölzerne bedeckte Brücke über den Inn, der seine grünen Fluthen in engem Bette aus dem Engadein herauswälzt, auf der Brücke steht ein alter Wachtthurm, jenseits derselben ein altes, am Felsen klebendes Schlößchen, von Herzog Sigmund erbaut und Sigmundseck genannt, unter diesem eine Art von Klause, die jetzt ein Wirthshaus geworden. Alles dieß erregt an und für sich kein großes Aufsehen, aber ungeheuer ist die Felswand, die über diesen Gebäuden aufsteigt, und noch schroffer und schrecklicher sind die Nachbarn, die von allen Seiten emporragen. Die ganze Schlucht mit den wilden braunen Schrofen, aus denen sparsam die Tannen aufsprießen, mit dem rauschenden Flusse tief unten und der schmalen Decke blauen Himmels oberhalb, zusammen mit den einsamen Nestchen, die sich die Menschen in diese drückende Enge hereingebaut, macht allerdings einen nicht gemeinen Eindruck.
An dem Wirthshause in der Finstermünz hängt ein Schild mit einem Bräubottich, aus welchem ein paar Gerstenähren erblühen, während zwei Bierschapfen dahinter übers Kreuz gelegt sind. Dieß bedeutet, wie jeder weiß, eine Bierbrauerei, aber der Stellwagen hält da nicht und es fehlte daher alle Muße zur Untersuchung, wie weit diese vaterländische Kunst [267] hier im schauerlichen Passe vor den Pforten romanischen Landes gediehen sey. Ein andresmal vor manchem Jahre bin ich freilich auch hier untergestanden, aber damals gab’s noch keine Brauerei in dieser Schlucht. Dafür gab es zur selben Zeit einen uralten, sonderbaren Wirth, welcher eigentlich Schuld daran war, daß wir nicht ins Engadein gingen. Damals waren wir nämlich etwa ein Halbduzend junger Leute das obere Innthal voll Erstaunen heraufgelaufen, alle ziemlich festen Vorsatzes durchs wunderliche Engadein zu wandern, bis uns in Prutz und Pfunds die Wirthe von der neuen Ortlerstraße erzählten und etliche von uns auf ihre Seite brachten, so daß diese nun nicht mehr dem Inn entlang zu den Romanschen, sondern gleich über das Stilfser Joch zu den Italiänern eilen wollten. Darum einiges Zerwürfniß in der Reisegesellschaft und schon wenigstens seit zwei Poststationen sehr lebhafte Reden für und wider. So gelangten wir nach Finstermünz, traten müde in das Wirthshaus und gewahrten den hochbejahrten Wirth, den wir für sehr weise hielten. Es schlug also einer vor, man solle ihn um sein Gutachten bitten und bei dem bleiben was er sage. Sein Gutachten aber lautete einfach: nit ins Engadein. Darauf hob einer an und fragte: warum nicht dahin, wo so schöne Dörfer und so schöne Thäler? wogegen jener ebenfalls wieder sagte: nit ins Engadein. Alle die dafür waren, brachten ihre Gründe an, er wies sie aber alle zurück mit den Worten: nit ins Engadein. Was auch gesagt und gefragt werden mochte, der greise Wirth schüttelte nur immer milde lächelnd das Haupt und sprach: ich sage nichts als: nit ins Engadein. Diese ruhigen Worte mit ihrem düstern Hintergrunde machten großen Eindruck auf die rathschlagenden Gefährten. Zuletzt wurde dem Wormserjoch der Vorzug gegeben und der Besuch des unheimlichen Engadeins auf bessere Zeiten verspart.
Das Engadein ist in dieser Gegend wirklich ein wenig verrufen. Der schlechte Zustand der Straßen und der Wirthshäuser, der ketzerische Glaube, die fremde Sprache und der verschlossene ernste Sinn der Bewohner hat den Leumund dieses Berglandes bei seinen deutschen katholischen Nachbarn so getrübt, daß [268] auch die vielen Tiroler, die sich jährlich im Sommer zur Heuernte hinein verdingen und der ehrenhaftesten Behandlung gewürdigt werden, bisher nicht viel für Herstellung seines Rufes thun konnten. Man steht kalt und ablehnend einander gegenüber. Der alte Wirth, zum Beispiel, hatte sich in seinem langen Leben noch nicht die Zeit genommen der Engadeiner „Linguaig“ zu lernen, sondern wies uns, als wir darüber Auskunft suchten, an die Kellnerin. Auch diese schien ihre sprachlichen Studien nicht überjagt zu haben und wußte, obwohl ein Mädchen in ihren Zwanzigern, nicht viel mehr als die Zahlwörter. Ein ähnliches Verhältniß findet übrigens auf der ganzen Sprachgränze statt. Der Deutsche, der dem Wälschen in Körpergestalt und Stärke überlegen ist, lebt und kleidet sich auch im Durchschnitt besser und hat so schon äußerlich mehr Ansehen als jener sein Nachbar. Zwar thut sich dieser durch feinere Manieren und größere Weltläufigkeit hervor, aber seine Schlauheit nützt ihm hier zu Lande nicht wesentlich, denn wenn der deutsche Tiroler nur etwas Uebung hat, so nimmt er’s darin gern mit Jedem auf und gewisse Arten, wie z. B. die Viehhändler, werden gar bald hieb- und stichfest. Der deutsche Bauer glaubt daher genug Gründe zu finden, um mit Stolz auf den Wälschen herabzusehen und Ausländerei, Liebe zum Fremden, Geringschätzung des Vaterländischen, sonst der Fehler gesammter deutscher Nation, ist ihm gewiß nicht vorzuwerfen. Auf dem ganzen Saume, wo deutsche und romanische Sprache zusammenstößt, die große Landstraße von Bozen gen Trient abgerechnet, liegen daher die beiden Elemente streng geschieden aneinander, wobei es denn der Deutsche immer lieber dem Wälschen überläßt deutsch zu lernen, als daß er ihm darin zuvorkäme. Die ein kleineres Gebiet umfassenden ladinischen Dialekte, das Engadeinische, das Grödnerische und Ennebergische hält es schon von vornherein Niemand der Mühe werth sich eigen zu machen; schon deßwegen nicht, weil die Unterengadeiner, die Grödner und Enneberger auch alle deutsch sprechen. Was das Italiänische betrifft, so haben die Handelsverhältnisse in den Städten die Kenntniß beider Sprachen zur Nothwendigkeit gemacht, und [269] zumal in Bozen ist die Kunde dieses Idioms sehr verbreitet. Auf dem Lande aber findet sie sich wieder nur bei den Wirthen, die an den Hauptstraßen wohnen. In den deutschen Gemeinden auf dem Nonsberge, nämlich in U. L. Frau im Walde, in Proveis, im Lafreng, welche alle ins Gericht nach Fondo gehören und unter dem Einflusse italiänischer Gerichtssprache, auch im täglichen Verkehr mit den Wälschen stehen, gibt es, was überraschend ist, viele Einwohner, die kein Wort der fremden Sprache verstehen; im Nonsberge dagegen viele Landleute welche deutsch sprechen, und noch mehr solche finden sich im Fleimserthale.
Dieses nämliche Engadein, das jetzt den Tirolern so fremd geworden ist, hing übrigens in früheren Zeiten aufs engste mit dem Vintschgau zusammen. Wenn auch die Sachen dieser Gegend von Alters her, als noch Enkel der Grafen des churischen Rhätiens auf der Burg Tirol saßen und unter ihren Erben aus dem Görzischen Hause sehr verwickelt waren, so galt doch in Unterengadein bis Pontalto hinauf tirolische Herrschaft, wogegen dann wieder die Bischöfe von Chur Land und Leute hatten bis in die Gegend von Meran. Damals war auch noch in beiden Thälern romanische Sprache und wohl in den meisten Dingen gleiche Art und Sitte. Als aber im fünfzehnten Jahrhundert die Engadeiner anfingen sich zu den rhätischen Bünden zu neigen, entstanden auch alsbald mit ihren Nachbarn, die zu Oesterreich hielten, blutige Fehden, in welchen jene viel Glück hatten. Im Jahre 1478 brach der Hennenkrieg aus, so benannt, weil die Tiroler geschworen hatten keine engadeinische Henne am Leben zu lassen oder wohl eher, weil die Engadeiner den Hühnerzins verweigerten, welchen die herzoglichen Beamten für die Fastnacht forderten. Schon dieser Krieg, wo die Tiroler, die Roland von Schlandersberg führte, ins Engadein brachen, wo darauf Gebhard Wilhelm, der Stolz von Ramis, den gewaltigen Martihans von Naudersberg unter der brennenden Burg von Tschanuf im Zweikampfe erschlug, schon dieser Streit hatte günstigen Ausgang, und im Jahre 1499 als Kaiser Max, mit den Eidgenossen zerfallen, den letzten Versuch machte die wankenden oder verlorenen [270] Rechte im Engadein zu befestigen oder wieder an sich zu bringen, fuhren die Ladiner gewaltig heraus, raubten, mordeten und verbrannten Nauders, und später nach der Schlacht auf der Malser Haide sämmtliche Orte des obern Vintschgaues, in demselben Frühjahre als die Eidgenossen den Bergknappen von Schwaz und der Tiroler Landwehr die blutige Schlacht bei Frastenz abgewannen. Bald kam auch die Reformation dazu, um den Riß zwischen dem kühlen Thal am Inn und dem warmen an der Etsch noch weiter zu machen. Die Engadeiner wurden calvinisch und blieben Romansche, die Vintschgauer blieben katholisch und kehrten sich von der Zeit mehr und mehr dem deutschen Wesen zu. Die tirolischen Rechte auf die Landschaften an den Quellen des Inns wurden aufgegeben; nur Schloß und Dorf zu Trasp, das Swiker von Reichenberg schon im Jahre 1239 an den Grafen Albrecht von Tirol verkauft hatte, blieb gleichwie das Schloß Räzüns oberhalb Chur im Domleschg als Enclave dem Erzhause Oesterreich. Zu Trasp stiftete es zum Schutze der gefährdeten Rechtgläubigkeit ein kleines Kloster für Capuciner. Im Luneviller Frieden hat der Kaiser indessen auch diesen Besitzthümern entsagt und sie dem Kanton Graubünden überlassen. Das Klösterlein und die katholische Gemeinde zu Trasp hat sich aber erhalten und letztere ist der Sprache nach fast für eine deutsche anzusehen.
Etwas oberhalb des alten Passes steht in der Straßenenge, am rauschenden Stillebach, zum Theil in den Felsen eingehauen, zum Theil von Felsen überragt, die neue Veste Finstermünz, ein Gebäude von grauem Granit, das erst vor kurzem fertig geworden. Der Herr Platzcommandant, der in einem gegenüber liegenden Häuschen wohnt, ertheilte die Erlaubniß das Fort zu besehen, und ein jüngerer Officier führte uns mit einnehmender Artigkeit in demselben herum. Es ist nichts weiter als ein ungemein fest gebautes Haus voll Schießscharten, voll Kanonen, Mörser und anderem Gewehr. Der Officier erklärte uns, wohin die Stücke alle streichen, und da glaubten wir denn freilich wahrzunehmen, daß in der ganzen Gegend, so weit sie auf die Veste hernieder schaut, keine [271] Stelle zu finden sey, die sie von dem Hause aus nicht sauber zu halten vermöchten. Hinter diesem ist das Proviantmagazin in den Berg eingesprengt, eine mächtige Höhlung, die man dadurch vor Feuchtigkeit zu wahren suchte, daß man sie auf allen Seiten vom Mutterfelsen freistellte. So geht denn jetzt ringsum diesen Raum herum noch ein eigener gangbarer Stollen, lediglich bestimmt alle Verbindung zwischen ihm und dem andern Gesteine abzuschneiden und alle Nässe aufzunehmen, die sonst ihren Zug ins Magazin genommen hätte. Da in neuerer Zeit auch oberhalb Brixen eine überdieß viel mächtigere Festung erbaut worden ist, so sind die beiden einzigen Straßen, welche über die Centralkette der Alpen führen, hiemit bewacht. Diese Wehren genügen um jedem Feinde, der von Süden einbricht, den Durchzug in das nördliche Tirol unmöglich zu machen, und umgekehrt jedem Feinde der von Norden kommt, die Verbindung mit dem südlichen.
Wenn man sich aus der Finstermünzer Schlucht herausgezogen, so betritt man die freie Landschaft von Nauders. Dieses große Dorf, auf dessen Kirchhofe zum erstenmale der Ortles zu erschauen ist, liegt 4274 Fuß über dem Meere in einer grünen Hochebene, die fast anmuthig und lachend ist. Vornehm und ansehnlich erhebt sich daraus auf einem felsigen Bühel das alte Schloß Naudersberg, noch immer der Sitz des Gerichtes, dessen Sprengel jetzt allerdings beschränkter ist als vor vierhundert Jahren, wo es bis Pontalto im Engadein Recht zu sprechen hatte.
Staffler macht drei Nauderser namhaft, die ihrem Geburtsorte zur Zierde gereichen. Der erste ist der im Jahre 1830 verstorbene Gottfried Purtscher, zuletzt geistlicher Rath und Regens des bischöflichen Seminars zu Chur, ein durch seltene Geistesgaben ausgezeichneter Mann. Der zweite ist Karl Blaas, im Jahre 1815 geboren, der vor vier Jahren noch die bildenden Künste zu Rom studirte und nach seinen damaligen Arbeiten einer der ersten Maler des Landes zu werden versprach, und der dritte, der wunderlichste, ist Joseph Bartlmä Kleinhans, der blinde Bildhauer von Nauders. Er ward im Jahre 1774 einem Landmann und Bäcker geboren [272] und verlor durch die Blattern schon das Augenlicht als er kaum fünf Jahre alt war, während von dreizehn Geschwistern die er hatte, sieben an der Seuche starben. Von einem Nachbar, der ein Tischler war und die trostlose Langweile des Knaben bemitleidete, in die Werkstätte aufgenommen, machte er sich bald daran kleine Bildwerke nach betasteten Mustern zu schnitzen. Die ersten Versuche gelangen zum Erstaunen gut, und „schon im dreizehnten Jahre brachte der Blinde ein sehenswürdiges Crucifix zu Stande.“ Nun schnitzte er einen gekreuzigten Heiland, nach dem andern, und diese Beschäftigung gab seinem frommen Gefühle einen solchen Schwung, daß er, um noch auf andere Weise zur größeren Ehre Gottes beizutragen, selbst die Orgel spielen lernte. Darin brachte er es so weit, daß er einmal in der Wallfahrtskirche zu Kaltenbrunn dreiviertel Jahr hindurch zur vollen Zufriedenheit den Organistendienst versah. Mittlerweile hatte er auch von dem berühmten Bildhauer Nissel in Fügen gehört, begab sich zu ihm, lernte vierzehn Tage von dem Meister und kehrte an mancher Erfahrung reicher wieder nach Hause zurück. Seitdem hat er mit unermüdetem Fleiße und nicht immer frei von Nahrungssorgen noch manches Crucifix und manchen Heiligen geschnitzt. Ein heiliger Franciscus ist in die Ambraser Sammlung zu Wien aufgenommen worden, andere Arbeiten befinden sich im Besitz der Bischöfe von Brixen und von Chur, und wieder andere sind im Lande umher zerstreut. Ein heiliger Johannes von Nepomuk steht an der Heerstraße zu Latsch im Vintschgau.