Drei Sommer in Tirol – Das Ultental

von Ludwig Steub

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Und somit gehen wir wieder auf dem stillen, öden Wege an der Passer zurück und bereiten uns in Meran zu einer Fahrt ins Ultnerbad. Hiefür ist nicht schwer Gesellschaft zu finden, denn die Ultnerfreuden werden von den Meranern einmal des Jahres wenigstens gerne genossen. Die Frauen reiten auf Eseln aus, die Herren gehen nebenher. Kehrt man in Löwenberg ein, so erquickt Herr Kirchlechner mit seinen feurigen Weinen und der große Saal im Schlosse hat eine herrliche Aussicht. Ein Thurm und eine Capelle sind noch aus älterer Zeit, das übrige winkelige Bauwerk haben die Herren, später Grafen von Fuchs hergestellt, welche die Burg von den alten Rittern von Löwenberg am Anfange des sechzehnten Jahrhunderts erheiratheten und dann bis in das unsere herab besaßen. Um dieses Schloß schlich voriges Jahr im Mondscheine ein Münchener Dichter und sang darnach:

Hier wanderte ich um Mitternacht
Die Mauern entlang, die düstern;
Da hörte ich aus dem alten Gebäu
Unheimliches Rauschen und Flüstern.

Es war die Zeit, da man vom Stock
Die glühende Traube gelesen.
Ich glaube es sind die Geister, die
Weinprobe hielten, gewesen.

Denn deutlich vernahm ich Toast um Toast,
Doch keinem Lebenden galt es;
Die Todten nur ließen sie leben, zuletzt
Ihr Vaterland, ihr altes.

Hält man sich nun in der Niederung, so kömmt man in einer halben Stunde über den Valzauerbach nach Lana, einem langen, zerstreuten gartenreichen Dorfe, an dessen anderm Ende die Kirche steht, welche einen prächtigen gothischen Altar [358] bewahrt. Unter die Häuser des Dorfes sind mehrere adelige Ansitze eingeflochten, jenseits der Kirche aber stehen am Anlauf der Höhe die Trümmer des alten Schlosses der Herren von Brandis, welche in sehr frühen Zeiten von den Ufern der burgundischen Aar einen Zweig an die rhätische Etsch getrieben. Die Brandise haben in der Grafschaft Tirol zu verschiedenen Zeiten hohe Würden bekleidet; ein Graf Clemens von Brandis, um die vaterländische Historie verdient durch seine Geschichte Friedrichs mit der leeren Tasche, ist gegenwärtig Landesgouverneur. Einer seiner Ahnen, der fürstlichen Grafschaft Erbsilberkämmerer, Franz Adam, Graf von Brandis, hat des tirolischen Adlers immergrünendes Ehrenkränzel geschrieben, eine „zusammengezogene Erzählung jeniger schriftwürdigisten Geschichten, so sich in zehn nacheinander gefolgten Herrschungen der fürstlichen Grafschaft Tirol von Noe an bis auf jetzige Zeit zugetragen.“ Es ist zu Bozen im Jahre 1678 gedruckt und wäre zum Nachschlagen über die Geschichte tirolischer Herrschaften, Schlösser und Geschlechter *)[2] nicht übel eingerichtet, wenn man sich nur mehr darauf verlassen könnte. Die Urgeschichte ist zunächst nach Aventin bearbeitet mit den bekannten fabelhaften Namen und Thaten nachsündfluthlicher Könige deutscher Nation. – Unterhalb der alten Veste steht ein junges Landhaus, Neubrandis, jetzt ein Herbstaufenthalt des Grafen Gouverneur.

Jene, welche während des Septembers in Meran verweilen, sollen nicht unterlassen am achten dieses Monats früh Morgens sich in Lana einzufinden. Es wird da große Procession zur Feier Mariä Geburt gehalten, eine Festlichkeit, welche die Ultner, die Passeyrer, die Vintschger und die Leute bis nach Eppan hin heranzieht. Der Gasthof zum Rößl, diesseits der Valzauerbrücke, ist da besonders gut gelegen für [359] diejenigen, welche nicht selbst mitgehen, sondern den Umgang nur beschauen wollen. An einem heitern Tage ist derselbe in der That ein schönes, der Erinnerung werthes Bild. Da marschiren im festlichen Sonnenschein und feierlichen Glockenklang die schönen Schützen von Lana daher mit ihrem Hauptmann, den ein großer Federhut beschattet. Dann nahen sich langsam und schweren Ganges die Kirchenfahnen, alle ungeheuer groß, eine darunter besonders mächtig und ungethüm. Von der Raae herab, die den geweihten Segel hält, laufen rothe Taue in die Hände kräftiger roth und weiß gekleideter Männer. Zwei gehen hinter drein, zwei voraus, rückwärts gewendet; alle aber betrachten sorgsamen Blickes, wie Wind und Wetter mit dem heiligen Maste spielen, um nachzugeben oder anzuziehen, je nachdem er wankt. Vor dem Rößelwirth stellen sich die Schützen auf, und nun zieht der ganze Umgang unter unsern Augen vorbei. Der geweihten Bilder, die mitgetragen werden, ist eine große Zahl. Der heilige Papst Urban, derselbe der den Tannhauser so übel angelassen, sitzt in einer schattigen Laube von frischen Trauben umspielt, als der Patron der Weinbauern. Und während mein Auge St. Urban und seinem grünen Gezelte folgte, kam die Himmelskönigin selbst daher mit Krone und Scepter, voll lieblicher Steifheit, im Reifrock von Goldbrocat und blüthenweißer Allongeperrücke, den gekrönten Sohn im Arme. Diese süße Last lag auf den Schultern schöner Jungfrauen, welche Laubkränze um die Schläfe trugen. Ferner war St. Michael erschienen und St. Sebastian, der fromme Jüngling. Den Erzengel stellte ein Kind vor, mit Helm, Fittigen und seidenem Mäntelchen geschmückt. Zwei Knaben, weiß und grün, als Schäfer gekleidet, geleiteten den Engel und mehrere Mädchen als Genien waren auch dabei. Ebenso wenig fehlten Isidor, der spanische Bauer und Nothburga, die heilige Magd aus dem Innthale, die zwei himmlischen Landleute. Als das hochwürdige Gut vorüberzog, erscholl es „zum Gebet,“ die Schützen nahmen den Hut ab und ließen sich aufs Knie nieder. Dasselbe that alles männliche Landvolk und die Frauenleute, alle weißärmelig, [360] rothstrumpfig, dunkelrockig, bloßhauptig, fielen auch zur Erde und der Segen ging unsichtbar aus über ihre blonden Scheitel.

Der Eingang des Ultnerthales ist wie der von Schnals, Gröden, Sarnthal und andern so beschaffen, daß man allererst über einen hohen Berg hinanklimmen muß. Der Bach, der das Thal durchströmt, stürzt nämlich in das Etschland heraus durch eine tiefgerissene, steile, grauenhafte Schlucht, die nicht zu begehen ist und der Weg mußte daher über den hohen Sattel gelegt werden, den der Bergstrom, aber nur für sich allein, durchrissen hat. Ist nun diese Höhe erreicht, so senkt sich der Pfad thaleinwärts wieder hinab und da das Bett des Baches seiner Seits hinansteigt, so finden sich weiter drinnen Weg und Wasser allmählich wieder zusammen.

In einiger Höhe über Lana, an den schwarzen Abgrund hingepfropft, liegt die Veste Braunsberg, noch ziemlich gut erhalten, aber sehr bescheiden in ihrem Wesen. Das scheint ein dürftiges Herrengeschlecht gewesen zu seyn – die Ritter von Braunsberg, die sich mit ein paar rauchigen, halb dunkeln Stuben und einer Stallung für ein paar Rosse begnügten, und ihre Bequemlichkeit wahrscheinlich auswärts suchten. In der Burgcapelle ist ein Gemälde, auf dem sich eine rothstrumpfige Gräfin in den Schlund der Valzauer stürzt – eine Darstellung aus einer Sage, die hier nicht wiederholt zu werden braucht, da sie in Johannes von Müllers Schweizergeschichte im vierzehnten Capitel des ersten Buches getreulich wieder gegeben; nur wird sie dort von der Gräfin Ida von Tockenburg erzählt, hier von der Frau Jutta von Braunsberg.

Wenn man die Höhe erstiegen und damit das Weinland verlassen hat, sieht man nach einiger Zeit die Trümmer von Eschenloh auf einem Bühel, dessen Halden eine Fichtenwaldung schmückt. Aus dem verfallenen Mauerwerk ragt ein bedachter Thurm auf, den die Grafen von Trapp, die Pfandherren der Burg, zu erhalten haben. Die Gegend umher ist öde und wild. Das Geschlecht der Herren von Eschenloh hält man für ein und dasselbe mit jenem, das zu Eschenloh an der Loisach im bayerischen Gebirge saß. Heinrich von Eschenloh [361] trug das Hauptbanner von Oesterreich in der Schlacht bei Sempach und fiel daselbst. Bald darnach erreicht man auch St. Pankraz den Hauptort des Thales, wenn an einem Sonntage, sehr geeignet, um viele Thälerer beisammen zu sehen und unlieb zu bemerken, daß außer den grünen Hütchen die Thaltracht in den schlichten Jacken und langen Hosen der nahen Wälschen untergegangen ist. Ultenthal galt sonst im Süden, was Zillerthal im Norden des Brenners – Lustbarkeit, Liedersang, Sagen und Mährchen, bedeutsame Volkssitten hatten hier vor Zeiten ihre süße Heimath – jetzt ist’s aber so ziemlich wie die andern, eben so andächtig und eben so freudenlos.

Von St. Pankraz geht der Weg am Bache fort, bis sich nach einer halben Stunde zur linken eine Schlucht öffnet, welche jene betreten müssen, die ins Mitterbad von Ulten wollen. Abermals nach einer halben Stunde erreicht man auf ansteigendem Wendelpfad diesen berühmten Curort. An den Geländern der Terrasse stehen schon die ältern Gäste und harren neugierig, was der Tag wieder für neuen Zulauf bringen werde.

Ultnerbad ist das besuchteste in Deutsch-Tirol und zählte zum Beispiel im Jahre 1842 gegen achtzehnhundert Gäste. Das Wasser ist eisenhaltig und oft von wunderbarer Wirkung. Des Bades Aeußeres ist sehr anspruchslos; ein einstöckiges gemauertes Gebäude, in dessen Erdgeschoße der Speisesaal; das Hinterhaus von Holz. Neben dem Badehaus steht ein andres, worin Nachmittags Kaffee getrunken, Abends getanzt wird; nicht weit davon die Capelle, fleißig besucht, belebt von Messen, Vespern und Rosenkränzen, welche die geistlichen Gäste hier abhalten. Als Spaziergang dient die kleine Terrasse vor der Anstalt, die freilich nur für die Schwachen und Siechen ausreicht. Rasche, kräftige Jugend muß sich Bewegung in den Bergen suchen, die von allen Seiten aufragen.

Es ist erstaunlich, was manche dieser Bergbäder für reizlose Lagen haben! Die des vorliegenden ist die Unschöne selbst – ein schmales Gereute in einem engen Waldtobel, keine Aussicht als auf rothe Wände, mageren Forst, unbebaute [362] Halden und einen mäßigen Fleck vom blauen Himmel. Nur weit drüben und hoch oben sieht man Kornfelder und aus schwarzen Fichten einen weißen Kirchenthurm spitzen, St. Helena, wo ein Cooperator wohnt, hoch über den Pomeranzen der Etsch, weßwegen auch, wie der Ultner Wirth witzelte, nur ein solcher hinaufgestellt wird, der diese Frucht nicht besonders liebt. So gehen die Leute aus dem Zauber des Etschlandes, aus dem freundlichen Nonsberg gleichsam auf vierzig Tage in die Wüste, um ihr Auge zu kasteien für die sündliche Lust, die es das ganze Jahr über an der Schönheit der Natur gehabt. Billigerweise lassen sie den Magen nichts daran entgelten, denn die Ultnertafel ist fast noch reichlicher besetzt, als die andern Badetische in Tirol.

Die Gesellschaft ist sehr bunt; doch halten sich die Stände genau auseinander. Im vordern Gebäude wohnen „die bessern Leute,“ im hölzernen Hinterhause „die mindern.“ Die bessern Leute deutschen Stammes betrachten die Curzeit als Landaufenthalt und erscheinen durchweg in sehr schlichter Aeußerlichkeit, abstechend von den wälschen Gästen, die in makelloser Eleganz und Vornehmheit einherziehen. Ihre Wohnungen sind hölzerne Verschläge, enger als Klosterzellen, bloß zum Schlafen eingerichtet. Um zu schreiben und zu lesen kommt ohnedem niemand ins Ultnerbad. Freilich behauptet man, der Wirth habe seiner Zeit eine ganz hübsche Bibliothek gehabt, aber die Geistlichen hätten ihm allmählich seine besten Bücher ausgeführt, weil sie sie für sündhaft erachtet. Zartes, blaustrumpfiges Theeleben mit seelenvollem Vortrag eigener Gedichte, mit geistreicher Durchhechlung fremder, Vorlesungen shakespearischer Schauspiele in Tiecks Manier, wortreiche Raisonnements über Kunst und Litteratur, derlei immer feine, doch oft sehr abtödtende Genüsse wird man in Ulten vergebens suchen – dafür findet man aber, abgesehen von den Tafelfreuden, andre sehr wesenheitliche Unterhaltungen. Es ist in der That ein wunderbars Ding, daß Fröhlichkeit und Lebenslust, die man unten im heitern Thale bei den Gesunden ganz unterbunden, abgetrieben und ausgetrocknet, daß diese da oben in dem finstern Bergloche unter den Kranken [363] und Todesnahen erhalten worden sind. Hier im Ultnerbade wird nicht allein von den böhmischen Musikanten, die alljährlich sich einfinden, Tafelmusik aufgespielt, sondern des Abends auch zum Tanze und nicht etwa auf einen Dreher oder zwei, sondern gleich bis nach Mitternacht; ja wenn unternehmende Jugend beisammen ist, geht’s oft schon wieder in der Frühe hinüber in den Ballsaal. Freilich sagt man, wie an andern Orten, so auch in Ulten: es heißt halt a nicht mehr – aber mir scheint’s noch immer ein sehr ausgiebiges Trumm von Weltlust. Wenn man übrigens in ältern Büchern nachschlägt, so findet man, daß diese Badefreuden des Sommers auch schon ein ziemliches Alter für sich anführen können. So haben wir Nachrichten über das Bad zu Maistatt im Pusterthale, wo im Jahre 1511 Kaiser Max selbst längere Zeit sich aufhielt und seine heitere Laune spielen ließ. Die Badegesellschaft nannte sich die Hanse und legte ein eigenes Hansenbuch an für ihre Namen und geistreichen Einfälle. Das Badeleben an demselben Orte zeichnete sich auch im vorigen Jahrhundert wieder durch einen früherwachten Sprachreinigungstrieb sehr vortheilhaft vor andern aus. Für jedes Wort eines Gastes, das nicht ganz „glatt und reindeutsch“ wäre, sollte nach Statut von 1733 ein Kreuzer bezahlt werden. Das Strafgeld betrug nach Ablauf der Curzeit 21 fl. 6 kr. und wurde der Capelle zugewendet. Es waren also im Maistätter-Bad während weniger Monate eintausend zweihundertundsechsundsechzig undeutsche Worte gebraucht worden. So erzählt auch Guler von Wineck am Anfange des siebzehnten Jahrhunderts vom Bade bei Worms (Bormio im Vältelin), wie dasselbe weit berühmt sey bei Holländern und Gothen, so daß bei ihnen das Sprüchwort gelte: Wormserbad heilt allen Schad – wie da frei stehe Männern und Weibern zu ihrem Gefallen zu baden, wo sie gerne wollen, doch in aller Zucht und Ehrbarkeit, eine Anmerkung, die der Zeichner des beigefügten Holzschnittes freilich übersehen zu haben scheint. Nach einer etwas anzüglichen Bemerkung über die deutschen Frauen, die dahin kommen, fährt der ehrliche Bündner fort: „Insbesondere ist das Bad gebraucht von den Etschleuten, [364] den guten Zech- und Schluckbrüdern, die von wegen des starken Trinkens durch ihre starke Weine und ungesunde Luft demnächst contract werden. Viele Leute jung und alt, Mann und Weib, die frisch und gesund sind, kommen dahin allein von gutem Luft, Kurzweil und Ergötzlichkeit wegen, da sie dann allerlei Schimpfspiel anheben und sich mit Singen, Ringen, Springen, Tanzen, Zechen und andern Belustigungen erquicken. Die Einwohner von Worms erweisen den Badleuten viel Zucht und Ehr als auch mir passirt ist, indem sie mir allerlei Gattung Wein, Zuckerwerk, ausbündige wälsche Frücht’, allerhand Wildpret und herrlich gute Fisch’ verehrt.“

Mit Ausnahme der letzterwähnten Xenien hat Guler hiemit auch das Ultner Badeleben sehr gut geschildert. Hieher kommen ebenso viele Leute, jung und alt, die frisch und gesund sind, allein von guter Luft, Kurzweil und Ergötzlichkeit wegen, nur daß mancher ältere Gast jetzt ungern die fahrenden Fräulein aus Wälschland vermißt, die noch vor wenigen Jahren ganz allein und eigens übers Gebirge stiegen, um mit den frumen Deutschen im Mitterbade der edlen Minne zu spielen. Von Singen, Springen, Tanzen, Zechen soll hier nicht weiter geredet werden, aber was sie da vordem für angenehm Schimpfspiel anhoben, läßt sich nach mancher Erzählung noch jetzt leicht erschließen; wie zum Beispiel ein noch nicht vergessener Scherz darauf beruht, daß aus den Badezellen der bessern Leute die Wannen einige Zoll in den Gang hinausreichen, um dort gefüllt zu werden und daß dieser Vorstoß mit einer Klappe versehen ist. Wer schaudert nun nicht bei dem ungeschmückten Bericht, daß die jungen Herren eines Tages Forellen in der Valzauer holten, um deren je drei den Damen die sie auszeichnen wollten, in die Wanne zu werfen, und wer kann sich nicht das plötzliche und holdselige Wirrsal denken, als die feinen Mädchen aus dem Etschlande die kleinen Haie an ihren frischen Gliedern hinschießen fühlten?

Wandern wir nun durch das mittlere Gebäude, das den Wohnort der bessern Leute mit dem der mindern verbindet, so finden wir zu ebener Erde die Gemeinbäder der letztern, wo in geräumigen Verschlägen die beiden Geschlechter getrennt [365] sind. Da geht in großer Eile und Geschäftigkeit der Chirurg von St. Pankraz umher und applicirt Aderlässe, Schröpfköpfe und Blutegel – ein eigener Badearzt ist nicht vorhanden, aber alle ärztlichen Curgäste ordiniren unentgeltlich. – Da sah ich zuerst ein Nonsberger Kindlein, das in einem winzigen Männchen lag, während die Mutter zu ihm niederkauernd italienische Wiegenlieder in seine Ohren summte, wobei die vorübergehende Bademagd murrend schalt: dem Kindlein da ist das Wasser auch viel zu stark und die Mutter gibt keine Ruhe, bis es zu Tod gebadet. – Ultnerwasser ist nämlich keines, mit dem man spielen darf. Wenn die Leute in die Wannen gestiegen, werden die Thüren der Verschläge geöffnet, und den Besuchern Zutritt gestattet. Da liegen sie dann alle reihenweise zugedeckt in ihren Särgen, während ihnen zu Häupten und zu Füßen die Befreundeten sitzen. Die deutschen Landleute benehmen sich auch in dieser Lage sehr ruhig, die italienischen Weiber verursachen dagegen großen Lärm, und wenn eine aus ihrer Wanne heraus ein kräftiges Witzwort entsendet, so erhebt sich ein sinnverwirrendes Gelächter. Es ist ziemlich dunkel in diesen Räumen. Aus den Ritzen einer Nebenkammer schimmerte ein Licht; plötzlich sprang die Thüre auf und drinnen zeigte sich, zauberhaft beleuchtet von der kleinen Lampe, ein bildschönes, halbenthülltes Landmädchen. Mir fielen die Augen zu bei diesem verbotenen Anblick – unter einem Schrei schnappte auch das Pförtchen ein und ich suchte erschreckt den Ausweg aus dem nicht geheuern Orte. Ueber diesem ist ein langer Gang, auf den die Wohnzimmer der mindern Gäste herausgehen. Auch hier sind unter Tags, da die winzigen Fensterlücken wenig Licht gewähren, die Thüren offen. Da sieht man manche arme Seele, die gewiß nicht der Sommerluft wegen sich hiehergeschleppt – etliche sitzen vor den Thüren, der frischen Luft wegen, andere liegen todtenbleich, grabgerecht in den Betten. So muß sich zuweilen ein frommer Badgast auf den Tod bereiten, während die böhmischen Walzer lebenslustig in sein Sterbekämmerlein schallen. Ein junges Mädchen aus Salurn war da schon in der sechsten Woche gliederkrank, konnte sich nicht rühren, lag aber freundlich [366] und geduldig auf ihrem Lager. Eine Bauernmaid, deren Theilnahme sie gewonnen, saß bei ihr und las aus der Legende vor. Ich machte auch meinen Krankenbesuch und stillte gerne die Neugier, wo ich denn zu Hause sey. Pater Florin, der greise, milde Capuciner aus Lana, löste mich bei ihr ab. Darauf stieg ich wieder in den lebhaften Hof hinunter. Ein alter, ärmlicher Bauersmann mit schneeweißen Haaren lag dort auf einem Sack an der Sonne, todesmüde. Er schloß die Augen – ich glaubte für immer – doch erwachte er an meinen Schritten, blickte mich an und lispelte: wo bleiben Sie? Neben dem alten Bauer saß regungslos ein junger, verwelkten Ansehens, stille Entsagung im Gesichte. Auf seinem grünen Hosenträger war ein rothes Herz eingestickt, das ein Pfeil durchbohrte. Sollte das etwas zu bedeuten haben? Solche bedauernswerthe Gestalten sah ich noch mehrere, jedenfalls genug um beizustimmen, wenn Dr. von Hörmann in seiner Schrift über die Bäder des Etschlandes sagt: Ja, der Mensch im Gebirgslande ist keineswegs ein Riese an Kräften und Körperbau.

Diese Behauptung ließ sich weiter belegen aus den Erscheinungen hinten im hölzernen Hause, wo die mindern Leute Mittag- und Abendmahl halten und in den Zwischenzeiten etwa ein Gläschen trinken. Gleichwohl besteht auch da eine bedeutende Minderheit aus Gästen, die das Wasser nur so nebenbei gebrauchen. Hier kommen dem Belehrungslustigen unter andern jene Sprachgränzbauern in den Wurf, welche da oben über dem Grate zu Unser Lieben Frau, Laureng und Proveis sitzen, in den deutschen Dörfern, die sich am obersten Bergsaume des wälschen Nonsberges finden, alle in wenigen Stunden zu erreichen, denn was wir schon längst hätten anbringen können, alsbald jenseits des Bergzuges, der die rechte Seite des Ultnerthales bildet, fängt das italienische Val di Non an. Die Bewohner dieses Hinterhauses leben nun sehr frugal und prunklos. Es ist angenehm zu bemerken, wie ihnen in ihrem sparsamen Treiben auch von der Wirthschaft nichts in den Weg gelegt wird, wie die Preise selbst sehr billig sind und wie ihnen alle Listen nachgesehen werden, mit denen sie des [367] Wirthes Vortheil zu umgehen wissen. So bringen die meisten ihre Mundvorräthe mit und nicht allein diese, sondern auch die Geschirre, um sie zu kochen. Gleichwohl sind die Kellnerinnen die hier walten, nicht minder artig und dienstbeflissen, als die im Vorderhause, und geben den armen, kranken Leuten zu ihrer Noth manches gute Wort und manchen unbezahlten Zuspruch. Es wird hier, wie in andern tirolischen Badeorten, jeden braven Mann die Wahrnehmung erfreuen, daß der Wirth nicht an den Dürftigen reich werden will, daß alle Speculation auf den Pfennig des Armen fern gehalten ist. Betrachtet man nun auch noch das Liebevolle der Aufnahme und der Pflege, so erscheinen diese Anstalten im Lichte jener frommen alten Stiftungen, die zum Besten der leidenden Menschheit gegründet worden, und stechen so in ihrer schlichten Volksthümlichkeit recht wohlthuend ab von jenen vornehmen Luxusbädern am Rhein, wo man französische Gauner ihre grünen Tische aufschlagen läßt, um die lieben deutschen Landsleute auszuziehen.

Wenn man übrigens hört, daß in Tirol und Vorarlberg über einhundert und zwanzig Bäder *)[3] sind, und Zuspruch finden, so darf man letzteres nicht allein den Kranken und Leidenden zuschreiben, sondern, wie schon öfter angedeutet, ebensowohl einer Sitte, die das ganze Sommerleben des Landes gestaltet, der Sitte nämlich auf ein paar Wochen oder ein paar Monate Haus und Hof zu verlassen und an einen andern Ort in die Sommerfrische zu gehen. Was das Etschland betrifft, so erzeugen allerdings die sumpfigen Niederungen am Strome Krankheiten genug, um mehr als ein Bad zu füllen, aber auf jene zeitweilige Auswanderung wirkt auch die Hitze hin, die während der schönen Jahreszeit schwül über den südtirolischen Thälern liegt. Da streben dann alle, der [368] Edelherr, der Bürger und der Bauer in die Höhe, in die kühleren Luftzüge der Alpen. Die reichen Bozner hat dieses Streben veranlaßt, auf der Hochebene des Rittens jene freundlichen Sommerstädte zu gründen, die wir auch noch besuchen werden. An andern Orten weiß man andre Freistätten, vielleicht ein eigenes Landhaus im Gebirge oder eine Unterkunft bei gastlichen Verwandten oder auch bei einem ehrlichen Bauern, der sich auf „Sommerfrischler“ eingerichtet hat. Solche Verbindungen stehen in gebührender Achtung und man wechselt nicht leichtsinnig, wen man einmal an einem bestimmten Orte eingewohnt ist. Für alle andern aber, denen es an Geld oder an Gelegenheit mangelt, in dieser Weise ihre Lust zu büßen, sind die Bäder die herkömmlichen Sommerfrischen. Da genießt der Landmann seine Ferien und wenn er einmal aus dem Hause ist, wird auch dem Knechte bald etwas fehlen, was ihn ins Bad treibt und vielleicht auch der Dirn und der Unterdirn. Deßwegen ist die Armuth in den tirolischen Bädern eben so zahlreich vertreten, als der Reichthum, und drum gibt es auch eigene Lotterbäder, nämlich Bäder für arme Leute. Ein Bäuerlein, welches aber nicht einmal den Zutritt zu diesen Anstalten erschwingen kann, verzichtet deßwegen immer noch nicht auf seine Sommerlust. Ein solches geht vielmehr in die Hochalpen, sucht die Heuschopfen auf und legt sich da ins Heu. Es vergräbt sich tief in das weiche Lager und geräth dabei in starken Schweiß, der unendlich heilsam seyn soll für bäuerliche Schäden, für Gicht und Gliederschmerzen. Vor allem andern Heu ist seiner Heilkraft wegen berühmt jenes auf dem hohen Schlern ober Bozen und wird deßwegen auch manche Wallfahrt nach diesem Berge angestellt. Man sagt von solchen Pilgern: sie gehen „ins Heu liegen.“ Als wir einmal vom Ritten aus einen Zug auf den Hornberg machten, um dort die schöne Aussicht zu genießen, begegnete uns in der kühlen Alpenhöhe, weit ober dem letzten Bauernhause eine zahlreiche Familie, Vater, Mutter, Söhne und Töchter bis herab auf die kleinsten, mit Proviantsäcken, Schüsseln und Pfannen beladen, die fröhlich bergabstiegen und uns erzählten, jetzt seyen sie acht Tage im [369] Heuliegen gewesen und hätten viel Kurzweil und Recreation gehabt.

Dieses Sommerfrischleben verbunden mit den mercantilen Wanderungen der Thälerer verleiht denn auch dem Lande Tirol in der warmen Jahreszeit einen eigenthümlich zügigen, nomadischen Charakter. Da gehen die Oberinnthaler ins sogenannte Schwabenland, die Passeyrer nach Italien oder mit Früchten nach Bayern, die Grödner durchstöbern auf allerlei Handelschaft das Land, die Zillerthaler und viele andre deßgleichen; die Wirthe aus Nordtirol fahren ins Etschland um Wein; mächtige Güterwagen wandeln in langen Reihen den Brenner auf und ab und auch die Lahninger geben einen reichen Beitrag zum bunten Straßenleben. Ferner zieht der Adel auf noch bewohnte Schlösser, der Bürger sucht seine Landlust auf den Bergen und reist mit Sack und Pack in die Höhe zu seinem hergebrachten Ruhesitze oder Curort, der Bauer verliert sich in sein „Badl,“ die Taglöhner, die Hirten gehen auf die Alpen ins Heuliegen, die frommen Seelen treiben andächtige Wallfahrt nach dem Weißenstein, nach der Mutter Gottes zu Trens, zu Absam, nach unzähligen andern Gnadenbildern. So ist ein großer Theil des Volkes auf der Wanderschaft und darum sind um diese Zeit alle Stellwagen so voll und alle Wirthshäuser. Kommen nun noch wie in neuern Jahren, die Schwärme deutscher und englischer Reisender hinzu, so erklärt sich zur Genüge, warum das stille Alpenland im Sommer ein sehr lautes und lebendiges ist.

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Veröffentlicht von josefauer.com

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