Tiroler Volksleben – Der Geißer

Ein ungemein liebliches, bewegtes Bildchen entfaltet sich vor unsern Augen, wenn wir an einem Sommerabend ein Dorf passieren und mit der heimkehrenden Geißherde zusammentreffen. Das Gemecker und Geklingel elektrisiert alle Kinderfüße, selbst der kleinste Knirps im ersten Höslein watschelt den Kommenden entgegen, die gefühlt von der stolzen “Vorgeiß” mit der großen Schelle, in die Dorfgasse einziehen. Mit dem Lockruf: Gös, gös, gös sucht jedes der Kinder seine Geiß heraus, nimmt sie jubelnd um den Hals und läuft mit ihr dem gewohnten Stalle zu. Hierhin und dorthin stiebt die muntere Schar, so daß endlich nur der Geißbub allein übrig bleibt, der dann ebenfalls sein Heim aufsucht.

Dieser Geißbub ist ein originelles Bürschchen. Unter dem alten braunen Filzhute, der vom oftmaligen Naßwerden eine Schüsselform angenommen, schaut ein wetterbraunes Gesicht hervor mit ein paar trotzig-kecken Augen, aus denen die ganze Spitzbubennatur dieses freien Bergkindes herausblitzt. Eine lumpige, geflickte Hose, ein grobes Hemd, manchmal auch eine Joppe ist die ganze Bekleidung des kleinen Freiherrn. Beim Sonnenschein geht er barfuß, bei nassem Weg steckt er seine Füße in Holzschuhe, sogenannte Knospen. Über der Schulter tragt er einen groben Kotzen geworfen, zum Schutz gegen Regen und Unwetter, an der Seite hangt der “Schnappsack”, in dem sich sein spärliches Mittagsmahl befindet, und das Bockshorn; in der Hand führt er eine Geisel (Hirtenpeitsche) oder einen Stock. 1) Auch eine “Gschpachtl”, im Unterinntal “Gschpadal” genannt, d. i. eine hölzerne Schachtel voll Butter und Brot nimmt er mit sich, denn das Herumklettern mit den flinken Ziegen macht Hunger.

Der Geißbub oder “Goaßer” wird von der Gemeinde gegen geringen Lohn angestellt; die Kost genießt er der Reihe nach bei den einzelnen Bauern, die ihm ihre Geißen anvertrauen, “er geht für”, wie man sagt. Das Amt ist beschwerlich genug. Wenn der erste Strahl der Morgensonne die Bergspitzen vergoldet, geht er durch die Dorfgassen und tutet aus Leibeskräften in sein Bockshorn. Auf diesen Weckruf hin öffnet sich knarrend eine Stalltüre nach der andern und in lustigen Sätzen und mit hellem Geklingel springen die soeben gemolkenen Ziegen heraus. Sie rotten sich zusammen, die ortskundige und herrschsüchtige “Vorgoaß” stellt sich an die Spitze und führt ihre Herde in raschem Trabe über Halden und Gebüsch aufwärts der Berggegend zu. Hinterdrein klettert schreiend, scheltend und tutend der Geißbub, der oft seine liebe Not mit der Herde hat. Denn die Ziegen sind “ein vertoiflts Kunter” (verteufeltes Vieh), sagen die Hirten. Bald eilen sie wie Besessene aufwärts über Stock und Stein und klettern über schwindelige Felsen, daß dem Hirten die hellen Schweißtropfen von der Stirne rinnen, bald bleiben sie am Wege stehen und naschen vom Zaungras und von den jungen Fichtenschößlingen, springen über Mauern und durchbrechen Zäune und gebärden sich so störrisch und eigensinnig, daß dem armen geplagten Buben nicht selten das Weinen näher ist als das Lachen. Von besonderem Einfluß ist dabei die Vorgeiß. Eine schlechte macht dem Hirten ebenso viele Sorge und Mühe, als ihm eine gute erspart. Dieselbe ist sich aber auch ihrer Wichtigkeit vollkommen bewußt. Sie duldet keine andere Geiß vor sich und will sich eine das Recht des Vortrittes anmaßen, so gibt es einen hitzigen Kampf.

Gegen den Hirten sind die Ziegen durchaus nicht scheu, sie treiben im Gegenteil ihr neckendes Spiel mit ihm. Oft springt eine gerade auf ihn zu und stößt ihn mutwillig zu Boden, oder sie gesellt sich schmeichelnd zu ihm, beschnobert ihn und beißt ihn häufig als höchste Gunstbezeigung in das Ohr. Ihre besondere Leidenschaft sind auch die Federn oder Blumen, die der Bube auf seinem Hute stecken hat; sie werden eiligst herabgerissen und windschnell davongetragen. Der Charakter der Ziegen hat überhaupt etwas Neckisches, Diebisches und Eigenwilliges; sie spielen dem Hirten Schabernack über Schabernack, so daß auch der sanfteste und geduldigste Junge in solcher Gesellschaft das Fluchen erlernen muß. Daher das alte Sprichwort: “Wer fünf Jahre Geißer ist, wird des Teufels.”

Es kommt übrigens sehr viel darauf an, wie der Hirt seine Herde zu lenken versteht. Während sie den einen necken und plagen, folgen sie dem andern gutwillig und drängen sich auf feinen Ruf: Gös, gös mit Ungestüm um ihn, sollten sie auch noch so weit von ihm entfernt sein. Der schlimmste Zufall ist es, wenn sich eine Geiß “versteigt”, d. h. in ein Gesträuch gerät und sich dort mit den Hörnern oder Füßen derart verstrickt, daß sie nicht mehr heraus kann, oder wenn sie gar “eingestiegen” ist, d. h. sich auf einem Felsen in so gefährlicher Stellung befindet, daß sie keinen Ausweg mehr weiß. Das Tier bleibt dann stehen, oft ein – zwei Tage lang, ohne Nahrung und schwebend zwischen Leben und Tod, bis der Hirt es endlich findet und oft mit eigener größter Lebensgefahr rettet. Diese Geißbuben, die Tag für Tag die steilsten Alpenspitzen erklimmen, sind die verwegensten Bergsteiger und tollkühnsten Kletterer; dabei haben sie Augen wie ein Jochgeier und Sehnen, fest und geschmeidig wie die zähen Zunderäste.

Gewöhnlich erreicht der Geißhirt mit seiner Herde gegen die Mittagszeit eine Alpenhütte, wo er bereits erwartet und hochwillkommen ist. Er ist nämlich für die Alpenleute eine Art lebendiger Zeitung, aus der sie erfahren, wie es drunten, in der Welt zugeht. Er wird um alle Neuigkeiten ausgefragt, Grüße werden wechselseitig aufgegeben, und im Tal erzählt er dann wieder von dem Tun und Treiben der Älpler. Von der Alpenhütte aus läßt er seine Herde allein weiter aufwärts steigen und bleibt den Tag über bei den Sennleuten, denen er allerlei kleine Dienste verrichtet. Zum Lohn erhält er eine tüchtige Butterschnitte, die er sich wohl schmecken läßt.

Gegen Abend kommt die Geißherde wohlgefüttert und mit strotzenden Eutern wieder zur Hütte herab und der Geißbub macht sich auf den Heimweg. Flink geht es abwärts über Stock und Stein und bald ist das heimatliche Dorf erreicht und die Herde in den verschiedenen Ställen versorgt. Der “Geißer” aber freut sich nun auf sein warmes Abendessen und kriecht hierauf bald in sein ärmliches Heubett, das ihm nach der Anstrengung des Tages sicherlich so weich dünkt, als das prächtigste Eiderdunenkissen.

1) Die Skizze eines solchen “Geißers” hat der geniale Tiroler Bildhauer Jos. Bachlechner in Hall an die Wand der Veranda des Neuwirtes von Untermiemingen hingezaubert.

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Veröffentlicht von josefauer.com

Archivbilder und Genealogie

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